Das beherrschende Zukunftsthema war im Jahr 2023 ganz klar: Künstliche Intelligenz. ChatGPT, noch Ende 2022 erschienen, versetzte die Welt in kollektives Staunen. Unzählige andere KI-Tools tauchten auf, um Texte, Bilder, Videos zu erschaffen – was Menschen unglaublich kreativ machte. Aber was, wenn KI das Internet schlechter macht, Jobs vernichtet, Rechte verletzt? Auch diese Fragen beschäftigten uns 2023. Daher: ein KI-Jahresrückblick.
Ein Jahresrückblick von Wolfgang Kerler
ChatGPT beendet dieses Jahr, in dem der KI-Chatbot von Hunderten Millionen Menschen genutzt wurde, mit einer 3+. Das ist zumindest die Schulnote, die die 1E9-Community dem Programm in unserer Mitgliederbefragung gegeben hat.
Nicht uneingeschränkt gut, aber definitiv keine Katastrophe: Vielleicht fasst das auch das KI-Jahr 2023 insgesamt zusammen. Wir alle konnten ausprobieren, wie man ständig neuen KI-Tools mit Prompts immer bessere Antworten, Bilder, sogar Sprachaufnahmen oder Videos entlocken konnte. Wir staunten über das, was professionelle und passionierte Bastler damit anstellten, sorgten uns aber auch über die Risiken und Nebenwirkungen von KI.
Bei 1E9 haben wir all diese Entwicklungen für euch verfolgt, eingeordnet, selbst Hand angelegt und mit Expertinnen und Mitgliedern unserer Community diskutiert. Was dabei herauskam, stellen wir in diesem Jahresrückblick vor, der immer wieder auf 1E9-Artikel verlinkt. Vorher aber noch ein Blick in die Ergebnisse unserer Mitgliederbefragung anlässlich des ersten Geburtstags von ChatGPT, den es Ende November zu vermelden gab.
Nach der Anfangseuphorie und einer Phase des wilden Ausprobierens scheint sich die Nutzung von ChatGPT im Alltag zumindest bei den Teilnehmenden unserer Befragung eingependelt zu haben – meistens, um Text zu schreiben, Fragen zu beantworten oder zum Brainstorming: Dafür wird die KI oft, aber nicht ständig eingesetzt. Rund 44 Prozent gaben an, ChatGPT wöchentlich zu befragen, nur 11 Prozent täglich. Der Rest braucht noch seltener KI-Unterstützung.
Dass jede und jeder für sich durch waches und kritisches Ausprobieren schnell ein Gefühl dafür bekommen hat, wofür man KI einsetzen will und wofür nicht, auch das geht aus der Befragung hervor. Neue Medienkompetenz per Learning by Doing. (Mehr dazu gleich.) So schrieb 1E9-Mitglied @florianpinzel, dass man die Limitationen von ChatGPT inzwischen kennt und schnell umschiffen kann. Ein anderes Mitglied musste feststellen, dass die KI für Recherchen im eigenen Fachbereich zu oberflächlich ist. Und Userin @Jenafor, die insgesamt enttäuscht von ChatGPT war, sagt trotzdem, dass man damit gut Material sammeln kann.
Und jetzt geht’s los mit einem nach verschiedenen Themen gegliederten 1E9-Jahresrückblick zu KI!
Die Welt lernt KI: Prompten und neue Medienkompetenz
Mehr und neue Medienkompetenz wurde in den Anfangszeiten des Internets und nach dem Aufkommen der sozialen Netzwerke gefordert – und @Michael hat diese Forderung in einem Artikel mit Blick auf KI-Chatbots schon früh im Jahr 2023 erneuert. Denn, klar, es macht Spaß und ist hilfreich, wenn ChatGPT und Co. uns Gedichte schreiben, Texte zusammenfassen oder Programmcode liefern. Doch die Verlockung ist groß, sich zu sehr auf KI zu verlassen. Angesichts der Fehler, Falschinformationen und problematischen Äußerungen, die die Bots trotz aller Nachbesserungen von sich geben, keine gute Idee. Daher: Zeit für neue Medienkompetenz.
Auch handwerklich waren von uns neue Fähigkeiten verlangt, vor allem: Prompten. Denn ohne Prompts, also Befehlen in Textform, liefern KI-Generatoren keine Ergebnisse. Und je besser die Prompts, desto besser die Texte, Bilder, Audios, Videos, die von den KIs erschaffen werden. Daher haben wir euch mit einem kleinen Leitfaden zum Schreiben von guten Prompts versorgt, der natürlich auch jetzt noch online ist.
In kürzester Zeit waren auch viele Jobs für „Prompt-Ingenieure“ ausgeschrieben, manche witterten vielleicht schon schnellen Reichtum nach dem Anschauen von ein paar YouTube-Tutorials. Doch, wie sich herausstellte, erfordert es für viele Einsatzgebiete nicht nur Prompt-Geschick, sondern auch fachliche Expertise. Das erklärte uns der Forscher Cameron Shackell in einem Gastbeitrag.
ChatGPT bleibt nicht lange allein: Kommerzielle und offene Konkurrenz
„Künstliche Intelligenz könnte das größte Geschäft aller Zeiten werden“, fing @Fritz.Espenlaub seinen Artikel über den Wettkampf um die Trilliarden-Gewinne, die mit KI erwirtschaftet werden könnten, an. Kein Wunder, dass sich OpenAI, Microsoft, Google, Meta, aber auch Konkurrenz aus China und Europa mit immer neuen KI-Tools innerhalb weniger Monate gegenseitig übertrumpfen wollten. Möglich war das auch, weil die großen KI-Modelle – die Foundation Models – plötzlich zu Dingen fähig waren, die ihre Entwickler gar nicht vorhergesehen hatten.
Neben Google, das mit Bard einen eigenen – zunächst etwas langweiligen – Konkurrenten zu ChatGPT auf den Markt brachte, will auch das deutsche Start-up Aleph Alpha aus Heidelberg weltweit mitspielen, sicherte sich dafür sogar 500 Millionen Dollar von Investoren. Nachdem dessen Chef und Gründer Jonas Andrulis auch dieses Jahr bei unserem Festival der Zukunft dabei war – Video unten –, erklärte @Wolfgang in einem Text, wie genau sich Aleph Alpha von den Big-Tech-Playern abheben will: mit Transparenz, Erklärbarkeit und einem Fokus auf Unternehmenskunden.
Aleph Alpha gehört zu den europäischen Hoffnungsträgern, von denen es leider noch nicht allzu viele gibt. Auch deshalb forderte @jw4null in einem Beitrag für 1E9, dass Europa sich unbedingt um eigene Foundation Models bemühen sollte. Denn es reiche nicht, mit dem AI Act Vorreiter bei der Regulierung von KI zu sein, wenn man technisch vor allem von US-Unternehmen abhängig bleibe.
Doch vielleicht macht am Ende gar keine große Firma, sondern die Open-Source-Community das Rennen? Diese Sorge trieb zumindest Google um. Im Gegensatz dazu setzte Meta mit seinem KI-Sprachmodell LLaMA 2 sogar ganz offensiv auf Offenheit. Auch Mozilla will offene und unabhängige KI-Entwicklung fördern – mit einem eigenen Start-up. Und der deutsche Verein LAION bewies mit seiner freien ChatGPT-Alternative OpenAssistant, dass eine Zukunft, in der uns KI im Alltag unterstützt, auch ohne Fast-Monopolisten möglich sein könnte.
KI überall: Bilder, Videos und Sound – täuschend echt.
Die meiste Aufmerksamkeit bekamen 2023 KI-Chatbots ab, die Fragen mehr oder weniger korrekt beantworten, Texte generieren, Programmcode schreiben können. Doch zur generativen KI gehören auch Bild-, Audio- oder Videogeneratoren. Und nach Vorläufern in den vergangenen Jahren gab es 2023 auch hier beachtliche Fortschritte – spürbar, zum Beispiel, wenn man DALL-E 3 verwendet. Die neueste Version des OpenAI-Bildgenerators versteht Prompts in natürlicher Sprache besser und kann sogar lesbaren Text in Bilder einbauen. Aber fangen wir von vorne an.
Schon Anfang des Jahres hat sich @Fritz.Espenlaub für 1E9 mit dem Chef des Start-ups ElevenLabs unterhalten, das im Laufe der nächsten Monate noch viel Aufmerksamkeit – und viele Millionen von Investoren – auf sich zog. Der jungen Firma ist es gelungen, einen KI-Sprachgenerator zu entwickeln, der aus erstaunlich wenig Trainingsmaterial – also: Sprachaufnahmen – überzeugende synthetische Stimmen generieren kann. Diese können Texte außerdem sehr lebensecht, sogar emotional vortragen. Hier könnt ihr mehr dazu nachlesen.
Überzeugende Videos von KI generieren zu lassen, stellte und stellt sich dagegen als deutlich herausfordernder dar. Doch wie groß und vor allem schnell die Fortschritte in diesem Bereich dennoch sind, recherchierte @Michael im Frühjahr für uns. Er sprach mit erfolgreichen YouTubern darüber, wie sie verschiedene Tools kombinierten, schaute sich aber auch diverse Werkzeuge von Start-ups, großen Unternehmen und Open-Source-Projekten an. Seinen Streifzug durch die Welt der KI-generierten Videos findet ihr hier.
Der Song Heart on my sleeve, ein vermeintliches Duett von Drake und The Weeknd, ging im Frühjahr viral. Manche, die ihn hörten, waren begeistert – denn er klang echt, obwohl die beiden Künstler dafür nie das Tonstudio besucht hatten. Der TikToker ghostwriter977 hatte ihre Stimme ohne Erlaubnis der Musiker mit KI geklont, damit den Song produziert und dann ins Netz gestellt, wogegen das Plattenlabel Universal Music Group rechtlich vorhing.
Gut möglich, dass solche juristischen Auseinandersetzungen noch häufiger drohen, zumal es auch beim Streik in Hollywood um die Frage ging, ob Schauspielerinnen und Schauspieler per KI digital geklont werden dürfen. Um von der Technologie nicht überflüssig gemacht zu werden, sondern davon zu profitieren, ging die Sängerin Grimes einen eigenen Weg: Sie stellte den digitalen Zwilling ihrer Stimme proaktiv zur Nutzung bereit, will allerdings an den Einnahmen, die damit generiert werden, beteiligt werden. Doch selbst, wenn rechtlich alles in Ordnung ist, heißt das übrigens nicht, dass KI-Inhalte automatisch gefallen. Das mit KI-erstellte Intro einer neuen Marvel-Serie kam, zum Beispiel, nicht allzu gut an.
Zum Schluss auch in diesem Abschnitt eine gute Nachricht: Selbst wenn sich eine Flut an KI-generierten Inhalten im Netz ergießt, folgt daraus nicht automatisch, dass es bald gar nicht mehr möglich sein wird, künstlichen und authentischen Content zu unterscheiden. Zum einen haben wir seit dem Papst in Daunenjacke alle dazugelernt, zum anderen gibt es technische Möglichkeiten, digitale Inhalte mit kryptografischen Wasserzeichen zu versehen, um ihre Herkunft nachverfolgbar zu machen. @Wolfgang hat sich das für 1E9 genauer angesehen.
Quo vadis, KI: Gefahr oder Heilsbringer?
Falsche Antworten, mögliche Urheberrechtsverletzungen, weil Trainingsdaten ungefragt genutzt wurden, unklare oder noch fehlende Regulierung oder auch die massiven Kosten und der Energieverbrauch, den KI verursacht. Bei allen Vorteilen und Chancen, mussten wir uns 2023 auch mit den vielen kleinen und großen Problemen auseinandersetzen, die der neue KI-Boom der Welt bescherte.
Die Zukunftsforscherin Amy Webb warnte in ihrer Keynote bei der SXSW davor, dass KI zu einem schlechteren Internet führen könnte – weil es zunehmend uns durchsuchen werde, um per KI-personalisierte Werbung zu liefern. Die Informationen, die wir bräuchten, bekämen wir allerdings immer schwerer. Prominenz aus dem Silicon Valley plus Superreiche, darunter Elon Musk oder Steve Wozniak, forderten im Frühjahr sogar eine Pause der KI-Entwicklung. Und beim Führungsstreit von OpenAI, der durchaus Züge einer Telenovela hatte, musste Firmenchef Sam Altman wohl auch deswegen für wenige Tage seinen Posten räumen, weil intern diskutiert wurde: Kommerz oder Gemeinwohl? Risiko oder Zurückhaltung?
Doch es gab auch ganz andere Stimmen, zum Beispiel die des einflussreichen US-Investors Marc Andreessen. Er veröffentlichte ein Manifest, in dem er darlegte, wie mit KI – und möglichst wenig Regulation – die Welt gerettet werden könnte. KI als „Stein der Weisen“.
Bei 1E9 haben wir uns um weniger apokalyptische oder euphorische Einordnungen bemüht. So hat sich unsere Science-Fiction-versierte Kolumnistin Aleksandra Sowa alias @Kryptomania mit der 39-minütigen KI-Debatte des Bundestags und der Rolle von KI in der Politik beschäftigt. Und der Volkswirt, KI-Forscher und Roman-Autor Christian Kellermann alias @ckone hat in einem Interview erklärt, warum er keine Panik hat, dass KI zu neuer Massenarbeitslosigkeit führen wird. Er hält gar eine Vier-Tage-Woche durch KI für möglich.
@Michael hat zu ganz konkreten Herausforderungen recherchiert: Sollten wir KI die Ergebnisse unserer kreativen Arbeit als Trainingsdaten zur Verfügung stellen? Wie sollen Firmen mit dem Mangel an KI-Chips umgehen? Was tun, wenn KIs an „digitalem Rinderwahn“ erkranken, weil sie mit KI-generierten Daten trainiert wird? Und wie sollen wir darauf reagieren, dass KI-Chatbots und Sprachmodelle erschreckend gute Profiler sind, die sich aus öffentlichen Beiträgen im Netz erstaunlich viel über einzelne Menschen erschließen können?
Mit der Frage, wie wir Chancen und Risiken von generativer KI in die richtige Balance bringen, beschäftigte sich bei unserem Festival der Zukunft übrigens auch Prof. Björn Ommer von der Universität München, dessen Forschungsgruppe KI-Geschichte geschrieben hat – als Entwickler der Open-Source-Bild-KI Stable Diffusion. Hier könnt ihr die Keynote nachschauen:
Das Beste zum Schluss: KI sorgt für kreative Experimente.
Immer neue Tools, große Fragen, komplexe Probleme, aber eben auch großartige Projekte, die zeigen, was kreative Menschen mit den neuen Möglichkeiten durch KI anstellen können: Auch das war 2023.
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Jetzt Mitglied werden!Deshalb konnten wir euch den Schöpfer des KI-Zeitreisenden vorstellen. Wir sprachen mit einem Berliner Künstler, der so versiert im Umgang mit KI ist, dass er mit einem KI-Bild sogar einen begehrten Fotopreis holen konnte. Wir durften über eine Kamera berichten, die Orte per KI „fotografiert“, obwohl sie gar keine Linse hat. Und mit unserem großartigen Redaktionspraktikanten @Chase konnten wir eintauchen in die Welt von Roleplaying mit der KI von character.ai.
Viel Wow also, wenn es um KI ging. Ob das nächstes Jahr auch so bleibt? Wahrscheinlich dürfte das Staunen etwas weniger werden, während wir alle genauer herausfinden, wo und wie sich KI tatsächlich sinnvoll einsetzen lässt – ob privat, kreativ oder in Unternehmen. Einen Wunschzettel für die Weiterentwicklung der Technologie hat die 1E9-Community in der anfangs schon erwähnten Befragung jedenfalls ausgefüllt:
So hofft @juliaschneider auf nachhaltigere KI. @Ralph und @florianpinzel sehen großes Potenzial in multimodalen Fähigkeiten, also in KI-Assistenten, die mit Text, Bild und Video gleichermaßen umgehen können. @InvisibleCow wäre mit KIs geholfen, die logisch kombinieren können. Und @mezzo fordert „klare Regeln und ordentliches Trainingsmaterial“. Ende 2024 werden wir wissen, was davon Wirklichkeit wurde.
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