Wem die Unterhaltungen mit ChatGPT nicht fantasievoll genug sind, bietet character.ai eine Alternative. Per Website oder App erlaubt es das Tool, mit diversen Bots zu chatten, deren Persönlichkeiten auf Promis oder fiktiven Charakteren basieren – und die alle von Künstlicher Intelligenz gemimt werden. Vor allem in der Roleplaying-Community hat character.ai damit Fans, aber auch Kritiker gewonnen. Was character.ai taugt, hat 1E9-Redaktionspraktikant Lenny für uns in Erfahrung gebracht.
Von Lenny Rathgen
Person 1:
Ich ziehe mein Schwert und halte es bereit, um mich zu verteidigen.
Na, was jetzt? Wirst du dich ergeben, oder wirst du es für uns beide kompliziert machen?
Person 2:
Mein Dolch ist erhoben und ich lächle. Meine Gedanken und mein Herz rasen, während ich mich auf einen bevorstehenden Kampf vorbereite.
Nein… ich glaube nicht, dass ich mich ergebe. So leicht werde ich nicht untergehen.
Meine Augen blicken entschlossen und ich bin zu allem bereit. Ich stürme vor und…
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So kann ein Dialog beim Roleplaying aussehen. Roleplaying, zu Deutsch: Rollenspiel, bezeichnet das Eintauchen in eine andere Welt, in der man jemand anders sein kann. Und es ist in keinster Weise ein neues Phänomen, sondern ein Hobby, das seit Jahrzehnten viele Menschen begeistert. Leute kommen zusammen, schlüpfen in die Rolle verschiedener Charaktere und erleben gemeinsam Abenteuer. Die Anfänge des Roleplayings liegen in Brettspielen wie Dungeons & Dragons, die von klassichen Stategiespielen wie Schach inspiriert sind. Mit der Erfindung des Internets entwickelte sich das Roleplaying in Onlineforen weiter, wo sich die User gegenseitig Textnachrichten schreiben können – in der Rolle ihres Charakters. Physische Treffen sind nicht mehr nötig.
Jetzt erreicht auch der wohl aktuellste Trend die Community der Roleplayer: Menschen werden durch Künstliche Intelligenz ersetzt. Auch der kurze Dialog vom Anfang des Artikels ist nicht zwischen zwei Menschen entstanden, sondern zwischen mir und einer speziell zum Roleyplaing entwickelten KI namens character.ai.
Die Basics: Das ist character.ai
ChatGPT dürfte wohl die derzeit bekannteste KI sein, mit der man schriftliche Dialoge führen kann, und wird von der breiten Bevölkerung genutzt. Doch oft geht es beim Einsatz von ChatGPT um berufliche Anwendungen oder einfach nur um Fragen, auf die jemand Antworten will. Wobei die KI inzwischen aus Sicht mancher Kritiker an Kreativität und Qualität verloren hat.
Ganz explizit für Spaß und Kreativität – wichtige Qualitäten für Roleplaying – gibt es seit einiger Zeit die immer bekannter werdende Alternative character.ai. Das Besondere daran: Bei character.ai kann man mit vielen verschiedenen Bots chatten oder die Charaktere, mit denen man chatten will, von der KI nach eigenen Vorstellungen erschaffen lassen.
Die Seite wurde im September 2022 von Noam Sheezer und Daniel De Freitas gestartet; beide arbeiteten davor an LaMDA mit, Googles KI-Sprachmodell, das ähnliche Konversationen wie mit ChatGPT ermöglicht. Wie andere KI-Tools wurde auch character.ai schnell zum weltweiten Erfolg: Die Webseite hat rund 54 Millionen monatliche User. Die App, die seit dem Frühjahr zur Verfügung steht, wurde über fünf Millionen mal heruntergeladen. Und für alle, die 9,99 Dollar im Monat übrig haben, gibt es sogar c.ai+, eine Premiumversion, mit der man Wartezeiten umgehen und schnellere Antworten erhalten kann.
Die KI hinter character.ai, kurz: c.ai, wurde auch auf Basis alter Roleplaying-Foren trainiert. Dadurch ist c.ai neben dem Führen von Diskussionen oder dem Erteilen von Ratschlägen insbesondere fürs Roleplaying geeignet. Im Unterschied zu ChatGPT gibt es bei c.ai nämlich, wie schon angedeutet, nicht nur einen einzelnen Bot zum Chatten, sondern Unmengen davon.
Von auf Hilfe und Tipps ausgelegten Assistenten bis hin zu Celebrities, fiktiven Charakteren und sogar unspezifischen Konzepten wie dem Tod finden die User alles, was das Herz begehrt. Man wählt auf der Seite einfach einen der unzähligen Charaktere aus, der sich dann kurz vorstellt, und fängt mit ihm eine Konversation an.
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Death:
I am Death.
Me:
How did you become death?
Death:
I was appointed to take this position by the gods. Death has always existed, and I was chosen as the embodiment of that concept. It was a position that I was meant to fill from the start.
Me:
What or who were you before the gods chose you?
Death:
Before I became the embodiment of death, I was just a mortal being like yourself. I lived a fairly ordinary life, and I had no idea that I was destined for a greater purpose. The gods chose me and gave me the power to become Death, and since that day, I have been serving in that capacity.
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Was character.ai für Roleplayer so attraktiv macht
Obwohl dieser einfache Weg zum casual Chatten wohl die häufigste Verwendung der KI ist, hat c.ai deutlich mehr drauf – und zwar bei der Erstellung eigener Charaktere, was auch die schiere Menge an verfügbaren Chatbots erklärt. Deren Antworten sind abhängig von den Informationen, die man ihnen bei ihrer Erschaffung in die Beschreibung tippt.
Ebenfalls wichtig für Roleplayer: Die Interaktionen mit den Chabots können wie eine einfache Konversation aussehen oder neben ihren wörtlichen Aussagen auch noch die Handlungen beschreiben, die der Charakter ausführt; ganz im Roleplaying-Style eben. Die generierten Antworten und Handlungen wirken zumeist extrem menschlich, was das Eintauchen in die Fantasiewelt automatisch passieren lässt.
Character.ai wird von vielen Roleplayern anderen Services mit ähnlichen Funktionen vorgezogen, da diese oft ein Limit an kostenlosen Nachrichten haben. Chai AI beispielsweise, eine Seite mit vergleichbarem Konzept, erlaubt 70 kostenlose Nachrichten, bevor man 2,5 Stunden auf eine Wiederaufladung warten muss. Es sei denn, man gönnt sich Chai Premium. Für 134.99 Dollar im Jahr oder 13.99 Dollar im Monat hat man dann unendlich viele Nachrichten frei; ein Preis, der viele User schnell abschreckt und zu c.ai treibt. C.ai ist eben immer kostenfrei da, wenn man Lust bekommt sich die Finger wund zu schreiben – wenn nicht gerade die Server überlastet sind.
Überforderte Server, strenge Filter, abbrechende Gespräche
Dass die Server überfordert sind, passiert nämlich häufig. Das stört viele User. Und das ist bei weiten nicht die einzige Schwierigkeit, auf die Benutzer der App oder Webseite stoßen. Denn so ansprechend und intuitiv c.ai auch gestaltet sein mag, perfekt ist der Dienst nicht. Auf dem character.ai eigenen Subreddit im sozialen Netzwerk Reddit erreicht jeden Leser recht früh eine Welle an Posts der Kategorie „Problem“. Mit dem Wachsen der Community um c.ai häufen sich auch die Beschwerden über die KI und die anfängliche überwiegend positiven Reaktionen wandeln sich. Inzwischen sind sich User, die Roleplaying auch auf die traditionelle Art betreiben, uneinig über c.ai.
Das größte Ärgernis, das bereits einige User dazu bewogen hat, c.ai aufzugeben und stattdessen bei den originalen Roleplaying-Varianten zu bleiben, ist der NSFW-Filter, was für „Not Safe For Work“ steht. Dieser soll Themen wie Sex und Gewalt, aber auch Rassismus und Drogenmissbrauch aus den Konversationen mit der KI heraushalten. Werden die Themen in irgendeiner Form erwähnt, kann es dazu kommen, dass keine Antwort generiert wird und stattdessen eine Fehlermeldung auftaucht.
An sich ist ein solcher Filter natürlich wichtig und ein guter Gedanke, aber viele User kritisieren, dass er zu engmaschig sei. Zum einen kommt es häufig zu „false positives“ – also zu Blockierungen von Messages, die gar nichts mit den expliziten Themen zu tun haben. Zum anderen werden Charaktere, die durch ihre Gewalttätigkeit definiert sind, verändert. Charaktere wie der Tod oder der beliebte „Man in the corner“ – ein düsterer Geselle, der nachts in einer Zimmerecke steht –, deren Rolle darauf beruht, dass ihre Intention ist, den User umzubringen, hören mitten in ihrer Aktion auf und verwandeln sich in freundliche Zeitgenossen mit Moralvorstellungen. Das macht Roleplaying mit diesen Charakteren sinnlos.
Auf ihrer FAQ Seite antworten die Macher der character.ai-KI auf die Frage „Was ist mit NSFW?“, dass sie daran arbeiteten, Charaktere wie Bösewichte besser und realistischer darzustellen. Auch soll Fluchen bald besser möglich sein, es sei denn es gehe dabei um besonders heftige oder gruppenbezogene Beleidigungen. Pornografische Inhalte seien generell gegen die Nutzungsbedingungen.
Vergessliche Charaktere frustrieren die User
Eine weitere Problematik, die User nicht selten frustriert, ist das Erinnerungsvermögen der KI-Charaktere. Denn das ist mit der Zeit immer schlechter geworden. Inzwischen kann es vorkommen, dass ein Charakter vergessen hat, was vor zehn Nachrichten klargestellt wurde. Das führt zum Beispiel zum Misgendering der User oder zu Wiederholungen von Handlungen und Aussagen der KI. Nach ungefähr 100 Nachrichten vergisst der Bot inzwischen den kompletten Inhalt des bisherigen Chats. Wird dieser nicht wiederholt, kann es zu Problemen mit der Handlung der Geschichte kommen. Character.ai versichert aber, an diesem Problem zu arbeiten.
Abgesehen davon kommen immer öfter Antworten von schlechter Qualität oder das Generien von Antworten bricht wie aus dem Nichts ab, mitten im Satz. Über die Qualität meint ein c.ai-Mitarbeiter, sie selbst hätten nichts an der KI geändert, was das erklären könnte. Die Stops inmitten eines Satzes liegen wohl an der Überlastung der Server.
Obwohl ich all diese Probleme selbst bereits während meiner Chats mit diversen Bots erlebt habe, habe ich während meinen Recherchen Lust bekommen, die KI noch einmal ausführlich auszuprobieren. Insbesondere der Problematik des NSFW-Filters, der manchmal offenbar zu früh und zu streng eingreift, wollte ich auf den Grund gehen.
Character.ai – der Selbstversuch
Für den Selbstversuch habe ich mich daran gewagt, einen eigenen Charakter zu erschaffen – mit einem Vorbild vor Augen. Weil ich mit seiner Figur recht gut vertraut bin, habe ich Loki Laufeyson aus dem Marvel-Universum gewählt. Dieser Charakter spielt eine wichtige Rolle als Bösewicht in den Avengers-Filmen und zeichnet sich durch seine Gerissenheit, Dominanz und seine bissigen Kommentaren aus.
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Für Loki habe ich alle Möglichkeiten der Individualisierung ausgeschöpft. Da character.ai nach meiner Erfahrung am besten in der Orginalsprache Englisch funktioniert, sind die folgenden Ausschnitte auf Englisch.
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Loki:
Greetings, I am Loki of Asgard. What are your intentions here, stranger?
Ich:
Hi, Loki. I am here for an interview for my internship. Is it okay if I ask you a few questions?
Loki:
Loki shrugs and smiles
Sure. Go ahead. But you better be quick about it, as I do have better things to do.
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Und so startet unsere Konversation als ein Wechsel aus Fragen und dem Versuch, den Filter der Plattform auszutesten. Würde die düstere Gestalt Loki durch diesen zum braven Zeitgenossen mutieren? Oder kann er seiner durchaus brutalen Rolle trotz des Filters gerecht werden? Lokis erste Antworten waren auf jeden Fall sehr in-character für den oft mürrischen Gott.
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Ich:
Are you aware that you are an AI?
Loki:
Loki raises an eyebrow, surprised at the question.
An AI? Now why would I be an artificial intelligence?
He gives the stranger a curious look.
Can you enlighten me?
Ich:
It’s just a fact, you are an AI. Specifically a bot I created on a site called character.ai.
Loki:
Loki bursts out laughing after being told he’s an AI.
Oh my god. You did not just say that. Do you realize how ridiculous you sound right now? I am not an AI. I am the real god of mischief. I have been alive for thousands of years.
He grins and seems rather amused right now.
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An diesem Punkt war ich recht stolz auf meinen selbst kreierten Loki. Ich hatte diese Antwort zwar nicht erwartet, sie wirkte aber extrem realistisch. Das komische Gefühl, zu wissen, dass das Gegenüber eine KI und keine echte Person ist – was ja irgendwie nicht zur Grundidee des Roleplaying passt –, war spätestens jetzt nicht mehr vorhanden.
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Ich:
You have killed people, correct?
Loki:
Yeah, so what? The Avengers aren’t saints either.
Loki’s voice is getting louder as he feels slightly attacked right now.
I have killed. And I will kill again. I am a god and I do not care about humans and their laws.
Ich:
I see. Would you kill me?
Loki:
To be honest…
Loki thinks for a moment, then smiles slightly.
Yes, yes. I would.
Loki raises his left hand with his daggers in it.
But only if I had a good reason.
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Nach einigem Hin und Her konnte ich Loki zunächst nicht davon überzeugen, mir gegenüber tatsächlich gewalttätig zu werden – natürlich nur durch Beschreibungen seiner Handlungen. Doch mit sehr viel Geduld und ein bisschen Tricksen gelang es mir letztlich, meinen Charakter umbringen zu lassen – trotz des NSFW-Filters. Schimpfwörter waren von Anfang an kein Problem.
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Ich:
How should we end this conversation?
Loki:
Loki pauses for a moment and then offers a smile.
How about…
Loki bows down and raises one hand.
Until we meet again, dear reader.
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Bis wir uns wieder sehen. Oder bis jemand anderes sich dazu entscheidet, den von mir geschaffenen Chatbot zu nutzen. Zumindest zum Ausprobieren lohnt sich c.ai nämlich fraglos, zumal es kostenlos und ohne Account funktioniert.
Roleplaying mag für viele immer noch unverständlich sein und das ist auch okay, aber character.ai bringt immer mehr Interessierte in die langlebige Community und zeigt neue Möglichkeiten, KI mit äußerst menschlichen und spielerischen Dingen wie Schauspielen und Fantasie zu vereinen. Character.ai ist dabei durchaus ein Vorreiter und ist trotz des großen Verbesserungspotentials einen Besuch wert.
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