Wenn der Hype um Künstliche Intelligenz zu einem ungebremsten Wettrüsten der Tech-Konzerne führt, droht uns eine düstere Zukunft, warnt die Futuristin Amy Webb bei der SXSW. Ihre zentralen Botschaften: Das Internet, wie wir es kannten, stirbt. Und das neue Internet wird nicht unbedingt besser. Immerhin bietet das Industrial Metaverse einen Hoffnungsschimmer.
Von Wolfgang Kerler
Bevor Amy Webb, die vielleicht populärste Futuristin der Welt, Ordnung ins aktuelle Chaos aus technologischen Hypes, Trends und Fails bringt, warnt sie die über 2.000 Menschen im vollgestopften Ballroom D des Convention Centers in Austin: „Ihr braucht einen starken Magen.“ Denn was sie zu sagen habe, werde ziemlich erschreckend ausfallen.
Webb, die mit ihrem Future Today Institute Zukunftsszenarien erarbeitet, präsentiert beim Tech- und Kulturfestival SXSW ihren neuesten Tech Trends Report. Das beherrschende Thema darin: der Boom der Generativen Künstlichen Intelligenz und seine Folgen für die Gesellschaft. Für Webb markieren Programme wie der KI-Chatbot ChatGPT oder Bildgeneratoren wie Midjourney den Anfang eines gewaltigen Umbruchs.
„Es ist das Ende des Internets, wie ihr es kennt“, sagt sie. Das neue Internet, das sie skizziert, macht allerdings nicht gerade einen einladenden Eindruck.
Wird das Internet schon bald uns durchsuchen?
„Was wäre, wenn ihr nicht mehr das Internet durchsucht, sondern das Internet euch durchsucht?“, fragt die Futuristin – und blickt erst einmal zurück. Seit den 1990ern seien immer mehr von Menschen geschaffene Informationen ins World Wide Web gewandert. So viele, dass es bald Suchmaschinen brauchte, um irgendetwas zu finden.
Jetzt dienten genau diese Datenberge dazu, um Künstliche Intelligenzen zu trainieren. Erst wurden dafür digitalisierte Bücher verwendet, dann Millionen von Webseiten, später das gesamte Internet. Inzwischen seien zu wenig neue Trainingsdaten der „Flaschenhals“ bei der Weiterentwicklung von Künstlicher Intelligenz, weshalb Firmen schon bald sämtliche Daten heranziehen würden, die Menschen in ihrem Alltag produzieren.
Nicht nur beim Surfen im Internet, beim Posten und Liken in sozialen Netzwerken oder beim Onlineshopping und Streamen. Selbst der eigene Körpergeruch, das scheinbar unwichtige Hintergrundgeschehen in Videocalls oder die Informationen, die eine smarte Toilette sammelt, könnten zum Trainingsmaterial werden. Die Nutzer und ihr Tun werden zu Datensätzen, die durchsucht werden.
„Text-to-Everything is nur der Anfang”, prophezeit Webb außerdem. Während es heute KIs für ganz bestimmte Anwendungen gebe, die aus den Texteingaben von Nutzern neue Texte, Bilder, Videos oder Klänge und Musik generieren, werde es in zwei Jahren multimodale KI-Modelle geben, die all das und noch mehr beherrschen – und in jede Ecke unseres digitalen Alltags einziehen werden. „Es wird schnell passieren“, sagt Webb. Und: „Wir sind nicht darauf vorbereitet.“
Die große AISMOSIS könnte ungemütlich werden
Wenn sämtliche Daten, die wir in unterschiedlichsten Lebenslagen produzieren, zum Input für KI-Assistenten werden, mit denen wir ständig interagieren, dann sei die große AISMOSIS erreicht – eine Wortschöpfung von Webb, die sich aus KI und Osmose zusammensetzt. Diese Durchdringung der digitalen Welt durch KI könnte im Jahr 2033 zu einem besseren Internet geführt haben, von dem wir genau die Antworten, die Vorschläge und die Unterstützung bekommen, die wir gerade brauchen.
Diesem optimistischen Szenario räumt Webb allerdings nur eine Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent ein. Denn es würde voraussetzen, dass die Weiterentwicklung von KI entschleunigt wird, um nicht aus den Augen zu verlieren, was im Sinne von Usern und Gesellschaft sei. Dafür brauche es wiederum Transparenz, Offenheit und eine dezentrale Infrastruktur, die nicht nur von einigen wenigen Unternehmen kontrolliert wird – sowie eine Opt-Out-Möglichkeit, was die Nutzung der eigenen Daten angeht.
„Wir werden immer von Informationen umgeben sein, aber nie die Informationen bekommen, die wir eigentlich brauchen.“ – Amy Webb
Für viel wahrscheinlicher – darauf fallen die übrigen 80 Prozent – hält Webb allerdings ihr Katastrophenszenario. In diesem werden die immer leistungsfähigeren KIs, die eine ungeahnte Datenvielfalt über alle User zur Verfügung haben, uns mit vollständig auf unsere vermeintlichen Bedürfnisse abgestimmter Werbung bombardieren. „Wir werden immer von Informationen umgeben sein, aber nie die Informationen bekommen, die wir eigentlich brauchen“, meint Webb.
Warum sie so pessimistisch ist? Zum einen, weil eine Firma wie OpenAI, die im Jahr 2020 über ihre Text-KI GPT-2 sagte, dass diese aufgrund von Sicherheitsbedenken „zu gefährlich zum Veröffentlichen“ sei, seitdem trotzdem eine KI nach der anderen auf den Markt brachte. Und zum anderen, weil die Entwicklung neuer KI-Modelle so viel Rechenpower brauche, dass diese im Grunde nur noch von den Clouds von AWS, Microsoft oder Google bereitgestellt werden kann.
Webb fürchtet also, dass die User wieder einmal zu unfreiwilligen Versuchskaninchen werden und in Zukunft sogar noch weniger Auswahl zwischen unterschiedlichen Dienstleitern haben.
Webb sieht nicht nur schwarz – oder: Das Medical Metaverse
Kurz erwähnt sei hier auch noch, dass Webb natürlich auch auf die Probleme hinwies, dass KI-Systeme häufig Falschinformationen produzieren und die im Internet weitverbreiteten Vorurteile übernommen haben. Eine weitere Sorge, die sie umtreibt, betrifft außerdem den Arbeitsmarkt: An dem könnten bald alle Menschen – und zwar aller Generationen –, die nicht ermächtigt werden, mit den neuen KI-Tools umzugehen, vollständig abgehängt werden. „Wir erschaffen eine neue, gefährliche digitale Spaltung“, warnt sie.
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Jetzt Mitglied werden!Immerhin: In ihrem einstündigen Vortrag, in dem sie einige gut platzierte Lacher unterbrachte, skizzierte Webb auch noch einen ganz konkreten, positiven Trend – und zwar das Industrial Metaverse beziehungsweise das Medical Metaverse. Denn durch das Zusammenspiel von XR-Technologien, Datenbrillen, digitalen Zwillingen, neuen Sensoren und KI könnten digitale Assistenzsysteme entstehen, die zum Beispiel in der Medizin zu personalisierten und präzisen Operationen beitragen könnten, die heute undenkbar seien.
„Ich denke, wir werden auf das Jahr 2023 zurückblicken und nur den Kopf schütteln“, meint Webb. „Chirurgen haben uns früher ohne die Assistenz von Computern im Medical Metaverse aufgeschnitten!“
Titelbild: SXSW
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