Kryptowährungen machen Dollar und Euro Konkurrenz. NFTs mischen den Kunstmarkt auf. Und Smart Contracts sollen Plattformen wie Uber überflüssig machen. Schon diese Verheißungen des Web3 klingen einschneidend. Doch die Vordenker von Decentralized Governance gehen noch weiter: Sie wollen Staaten und Regierungen, wie wir sie heute kennen, durch die Blockchain abschaffen. Yannic Plumpe aus der 1E9-Community hat dazu recherchiert und sich gefragt, was davon zu halten ist.
Von Yannic Plumpe
Manchmal zucke ich noch zusammen, wenn ich von einem Wolkenkratzer stürze. Aber dann erinnere ich mich daran, dass ich fliegen kann.
Seit sich die großen Konzerne mit den Wagniskapitalgebern zusammengetan haben, ging alles ganz schnell. Bürokratische Hürden wurden abgebaut, moralische Bedenken ausgeräumt und das Beste aus Metaverse und Web3 zu einer allumfassenden Welt vereint. Es ist viel besser so. Gegeneinander zu arbeiten ist so Web2.
Klar, am Anfang gab es noch Diskussionen. Doch mit der Zeit wurden die AR-Brillen besser, das Zubehör erschwinglicher und die Grafik realistischer. Mit jedem Update wurden die Kritiker leiser, bis sie irgendwann ganz verstummten. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, wie die Welt wäre, wenn man keine Brille oder Wallet hat.
Ach ja, das Beste ist eigentlich, dass wir nicht mehr arbeiten müssen. Wir spielen nur noch. Wir werden tatsächlich fürs Spielen bezahlt. Kannst du dir das vorstellen? Es passiert nicht in Euro. Alles wird in Token vergütet. Das erkläre ich dir ein anderes Mal. Zum Schluss muss ich dir noch sagen, dass ich nicht mehr in Deutschland wohne. Ja, du hast richtig gelesen. Ich lebe jetzt in einem Netzwerkstaat. Es ist alles so dezentral hier, das glaubst du gar nicht.
Mit Biotechnologie arbeiten sie jetzt auch daran, uns zu transzendieren. Ich weiß, dass sich das für dich komisch anhört, aber der technologische Fortschritt lässt sich sowieso nicht aufhalten. Du warst mit Sicherheit immer ähnlich vorsichtig und zurückhaltend wie ein Politiker, wenn es um grundlegend neue Technologie geht.
Turns out, Politiker brauchen wir überhaupt nicht mehr. Das wird jetzt alles durch die Smart Contracts geregelt, die auf dem Protokoll basieren, das wir in der DAO, also quasi im Netzwerkstaat, festgelegt haben. Es kann doch alles so einfach sein, wenn man nur will. Und war es nicht irgendwie auch abzusehen, dass es so kommt?
So oder so ähnlich stelle ich mir einen Brief meines zukünftigen Ichs an mein heutiges Selbst vor, seit ich mich in die Debatte um Web3 einlese. Obwohl das, was ich dazu im Web3 finde, oft nicht allzu ermutigend klingt: NFTs scheinen ein betrügerisches Ponzi-Scheme zu sein, Kryptowährungen nicht mehr als ein nettes Spielzeug, wird dort immer wieder kritisiert.
Auch mit der versprochenen Dezentralität, die doch schon lange eingefordert wird, läuft es bisher eher enttäuschend: Bisher läuft im angeblichen Web3 die Kommunikation offenbar nur über zwei APIs. Trotzdem wird gerade für Bitcoin und Ethereum Strom wie für ein Land in der Größenordnung der Schweiz oder Österreichs verbraucht. Das alles klingt für mich erstmal nach keinem guten Deal…
Gründe für ein neues Web gibt es genug!
Doch so schnell will ich das Web3, das bisher sowieso eher eine lose Sammlung von Konzepten ist, nicht als schlechte Idee abstempeln. Denn Gründe, sich ein neues Internet zu wünschen, gibt es genug: Das heutige Web basiert im Großen und Ganzen immer noch auf historischen Strukturen, die vor Jahrzehnten geschaffen wurden, um die Kommunikation des Militärs sicher zu stellen und den Austausch zwischen Universitäten zu fördern. Sicherheit war in diesem System nie inhärent. Viele Dienste und Protokolle sind inzwischen in die Jahre gekommen. Gleichzeitig gibt es gehörige Tendenzen zu einer Zentralisierung des Internets in den Händen weniger Großkonzerne. Das führt immer wieder zu Problemen und hat weitreichende Implikationen wie den Plattformkapitalismus und immer weniger Vielfalt.
Sicherheitslücken und übermächtige Internetkonzerne, deren Geschäftsmodell auf dem Sammeln und Vermarkten von Userdaten basieren – beides zusammen sorgte nicht gerade für Vertrauen ins Internet. Und die zuständigen deutschen und europäischen Institutionen und Politiker verstärkten diese Perspektivlosigkeit eher noch, da sie dem Internet vor allem mit Rat- und Ahnungslosigkeit gegenüberstanden. Noch heute führt diese Tatsache meistens nur zu neuen allgemeinen Gesetzesvorhaben, mit denen sie zu pauschal und zu allgemein versuchen, die nicht inhärente Sicherheit des Internets auszunutzen, um das Internet „unter Kontrolle“ zu bringen.
Wie weit sollte das Web3 gehen?
Bei diesem politischen und gesellschaftlichen Umfeld scheint es nur konsequent, dass ein Versprechen wie das Web3, welches sich von den Institutionen lossagt, inhärente Verschlüsselung und Dezentralität verspricht, bei vielen auf Gegenliebe stößt. Und auch ich bin auf meinen Recherchen auf vielversprechende Ideen gestoßen, die offensichtliche Missstände offenlegen und andere, vielleicht bessere Lösungen versprechen. Es ist also gar nicht so überraschend, dass Investoren Milliarden ins Web3 investieren und viele, vor allem junge Menschen darin eine Verheißung sehen. Doch eine Frage treibt mich wirklich um: Wie weit sollte das Web3 gehen?
Ich möchte nicht in die kleinteiligeren Debatten um den Sinn und Unsinn von NFTs oder den Stromverbrauch von Bitcoin einsteigen, sondern auf die umfassenderen Konzepte eingehen, die am Ende – wie mein zukünftiges Ich anfangs geschrieben hat – sogar klassische Staaten und Politiker überflüssig machen sollen. Einige davon klingen aberwitzig, sind aber so populär, dass wir sie auf jeden Fall ernst nehmen sollten – nicht nur, um Fehlentwicklungen rechtzeitig zu stoppen, sondern auch um mögliche Impulse für die Modernisierung unserer eigenen, in die Jahre gekommenen Demokratie zu gewinnen.
Schon Vitalik Buterin beschrieb, was DAOs sind.
Die Grundlage für die meisten dieser wahrhaft disruptiven Ideen sind Decentralized Autonomous Organisations , kurz: DAOs – die aus meiner Sicht auch eine der sinnvolleren Ideen aus der Web3-Konzeptsammlung sind. DAOs wurden schon 2013 im Ethereum Whitepaper von Vitalik Buterin beschrieben. Dabei kann man sich eine DAO als eine digitale Community vorstellen, die in den meisten Fällen ein bestimmtes und gemeinsames Ziel verfolgt.
Der Vorteil gegenüber einer normalen Community soll dabei sein, dass es keine gewöhnlichen Hierarchien und damit kein zentralisiertes Leitungsgremium gibt und die Community demokratisch Geld verwalten kann, das von den Mitgliedern eingezahlt wird. Wer sich näher über DAOs informieren möchte, findet im guten alten Web2 gute Einführungen, die viel besser geschrieben sind als das, was ich in dieser Kürze hier tun könnte.
Das Interessante an diesen Organisationen ist der Initiations- und Governance-Prozess. Die Community einigt sich auf bestimmte Verhaltensnormen, also: Regeln, die dann in Form von Programmcode auf einer Blockchain festgehalten werden. Ihre Einhaltung und Umsetzung wird durch die im Code festgehaltenen Smart Contracts kontrolliert, die automatisch Wenn-Dann-Regeln ausführen. Dadurch wird es möglich, eigene Wahlen und Abstimmungen abzuhalten, Transaktionen abzusichern oder einfach nur Klarheit über die Regeln und Prozesse des Zusammenarbeitens zu erlangen. Es braucht weder einen DAO-Vorstand oder eine DAO-Geschäftsführung noch Mittelsmänner wie Banken, Notare oder ähnliches, denen alle Mitglieder der DAO vertrauen müssen, da sie am Ende Entscheidungen über die Zukunft der DAO treffen und umsetzen. Der Code macht dieses zwischenmenschliche Vertrauen überflüssig. Die DAO ist autonom. Das Ganze erinnert an „Law is Code“, eine inverse Form des Ausspruchs „Code is Law“ des US-amerikanischen Verfassungsrechtlers Lawrence Lessig.
In der perfekten DAO wird ein Schleier des Nichtwissens über Anträge gelegt.
Aus meiner Sicht sind DAOs, wenn sie richtig aufgesetzt werden, ein mögliches Modell, um demokratische Prozesse zu modernisieren. Als ein erstes Beispiel lassen sich eingetragene Vereine heranziehen. Mitglieder eines DAO-Vereins könnten durch Abstimmungen direkten Einfluss auf das Vereinsgeschehen nehmen und so von einem Mitglied zu einem institutionalisierten Stakeholder werden.
Als weiteres Beispiel lässt sich das festgefahrene politische System anführen. Werden heute in Parlamenten Anträge von einer ideologisch unterschiedlichen Partei eingebracht, so werden sie von den anderen Gruppierungen meistens aus Prinzip abgelehnt, unabhängig vom Inhalt. In der perfekten DAO wird ein Schleier des Nichtwissens über die Anträge gelegt. Sie werden nicht personifiziert, sondern werden in der digitalen Pseudonymität abgestimmt und beschlossen. Nur der Inhalt zählt – und Pfadabhängigkeiten, die unser aktuelles System lähmen, werden durchbrochen. Im Web3 hätten die Mitglieder von DAOs außerdem die Möglichkeit, ihre digitale Identität selbst zu verwalten.
Das Konzept der selbstbestimmten Identität (englisch: Self-Sovereign Identity, kurz: SSI) geht davon aus, dass Personen ihre Identität erzeugen, indem sie verifizierte Identitätsdaten in ihrer Wallet speichern. Diese Daten können, zum Beispiel, einer Historie von Transaktionen entspringen, Daten aus Social-Media-Accounts oder Bescheinigung von Freunden sein. In unserer „zentralen Welt“ werden solche Daten wie E-Mail-Adresse oder Telefonnummer eher von externen Entitäten bereitgestellt.
Wer sich jetzt bei dem Gedanken ertappt, Gemeinschaften, Identitäten und Wahlen – das könnte schnell pseudo-staatliche Züge annehmen –, wird schnell durch Maria P. Gomez Gelvez, eine Beraterin des Orca Protokolls und ehemalige Aragon-Mitarbeiterin, bestätigt. So berichtet zumindest Nathan Schneider in seinem Paper „Cryptoeconomics as a Limitation on Governance", dass Maria P. Gomez Gelvez der Ansicht sei, dass eine DAO einem Land näher sei als einer Firma (“A DAO is closer to a country than to a corporation”).
Mich erinnern DAOs allerdings auch an neue Kirchen einer anderen Form von Religion: eine Community, die durch meine freiwillige „Steuer“ finanziert wird, weil ich an sie glaube. Aber in der Web3-Debatte geht es eher um Staaten als um Kirche. Und damit sind wir bei DeGov .
DeGov: Die Disruption der Politik, wie wir sie kennen.
Mit DeGov, was für Decentralized Governance steht, hat sich jedoch auch schnell ein neues Schlagwort etabliert. Ähnlich wie DeFi, also Decentralized Finance, die Finanzwelt oder NFTs die Kunstwelt aufmischen sollen, ist DeGov darauf angelegt früher oder später den politischen Prozess zu „disruptieren“.
Auch hier steht die Dezentralisierung im Vordergrund. Das Vertrauen soll als notwendige Basis aus dem System entfernt werden, weil es, wie oben beschrieben, gerade beim Thema Internet zu oft enttäuscht wurde. Vor allem den Vordenkerinnen von Ethereum scheint die Abhängigkeit von verschiedenen Institutionen ein Dorn oder vielleicht schon ein Balken im Auge zu sein.
Besonders Ethereum-Mitgründer Vitalik Buterin schwebt ein System der “Credible Neutrality”, also der „glaubwürdigen Neutralität“, vor, in dem die Politik von der Ökonomie ersetzt wird. Dabei dient die Kryptoökonomie als ein Konsensmechanimsus, der frei von Interessenskonflikten sein soll. Liest man Buterins Essays, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass sich Probleme verschiedenster Wahlsysteme und die darunter liegenden komplexen sozialen Gefüge einfach per Spieltheorie und Blockchain auflösen lassen. So schreibt er:
„Soziales Vertrauen als Grundlage kann in vielen Kontexten gut funktionieren, ist aber schwer zu verallgemeinern; was in einem Land, einem Unternehmen oder einem politischen Tribe als vertrauenswürdig gilt, wird in anderen Ländern möglicherweise nicht als vertrauenswürdig angesehen. Es ist auch schwer zu quantifizieren: Wie viel Geld braucht man, um soziale Medien so zu manipulieren, dass ein bestimmter Kandidat bei einer Abstimmung bevorzugt wird? Soziales Vertrauen als Grundlage scheint sicher und kontrollierbar zu sein, in dem Sinne, dass ,Menschen‘ das Sagen haben, aber in Wirklichkeit können sie durch wirtschaftliche Anreize auf alle möglichen Arten manipuliert werden. In der Kryptoökonomie geht es um den Versuch, soziale Vertrauensannahmen zu reduzieren, indem wir Systeme schaffen, in denen wir explizite wirtschaftliche Anreize für gutes Verhalten und wirtschaftliche Strafen für verbotenes Verhalten einführen.“
Wer die meisten Token hat, hat die Macht?
Vitalik Buterin will sich also nicht darauf verlassen müssen, dass etwa politische Entscheidungsträger im Sinne der Gemeinschaft handeln, weil sie sonst fürchten müssen, das Vertrauen ihrer Wählerschaft zu verlieren. Dafür gebe es zu viele Möglichkeiten der Manipulation. Er will vielmehr gutes Verhalten wirtschaftlich belohnen und schlechtes Verhalten wirtschaftlich bestrafen. Mit Smart Contracts auf fälschungssicheren Blockchains wäre das möglich. Automatismus statt Vertrauen. Es gibt jedoch auch Stimmen, die darauf hinweisen, dass DeGov nach dieser Vorstellung „die Politik“ lediglich auf eine Incentiv- oder Anreiz-Maschine reduzieren würde. Diese Art von DeGov wäre, wie die Kryptoforscherin Shermin Voshmgir es nennt, „wie Kapitalismus auf Steroiden“.
Wie allerdings auch Nathan Schneider schreibt, hat die DeGov-Bewegung inzwischen noch sehr viel weitreichendere Überlegungen zu Wahlsystemen (Quadratisches Wählen, Coin Voting, usw.), zu Staatsformen, Gemeingut, Wert und Demokratie angestellt.: „Auch die Politik braucht Kryptoökonomie. Experimente mit Distributed-Ledger-Systemen haben eine einzigartige kreative Fülle von Untersuchungen zu Wahlsystemen, Streitbeilegung, kollektiver Ressourcenverwaltung und anderen Prozessen hervorgebracht, die demokratische Strukturen fördern können (Allen et al. 2017; Mannan 2018).“
In der Analyse „Remaking Public Goods“ von Toby Shorin, Sam Hart und Laura Lotti wird allerdings auf ein weiteres grundlegendes Problem hingewiesen: DAOs und andere Kryptogemeinschaften tendieren dazu, den Mitgliedern mit den meisten finanziellen und zeitlichen Ressourcen die meiste Macht zu geben – anders als in heutigen Demokratien:
„Die Protokolle mögen Tausenden oder gar Millionen von Akteuren gehören, aber sie kommen nicht allen zugute – nur denen, die die Zeit, das Fachwissen oder die Ressourcen haben, um sich zu beteiligen. […] Wenn wir nicht wollen, dass Werte zentral von denjenigen bestimmt wird, die die meisten Token in ihren Wallets haben, müssen wir diverse Gemeinschaften stärken und explizit unterschiedliche Wertvorstellungen einbeziehen.“
Buterin und seinen Anhängerinnen scheint bewusst zu sein, dass sie ein unvollkommenes System geschaffen haben. Sie setzen sich mit Kritik auseinander und versuchen das System aktiv zu verbessern.
Auf der Blockchain entstehen neue Gesellschaftsformen.
Versucht man die Motivation hinter all diesen Überlegungen, Politik im Web3 neu zu konzipieren, zu verstehen, stößt man immer wieder auf die echte Enttäuschung über die vorhandenen Institutionen, die dem in sie gesetzten Vertrauen nicht gerecht wurden. Deshalb geht es bei vielen Ideen aus dem Krypto- und Web3-Umfeld nicht nur um punktuelle Verbesserungen des heutigen Systems, sondern um Disruption.
Nathan Schneider führt in seinem oben bereits zitierten Aufsatz dazu folgende These aus: „Diese Fragen sind insofern besonders dringlich, als die Distributed-Ledger-Technologie eine Art präfigurative Politik darstellt (Leach 2013), da viele Akteure versuchen, die institutionelle Infrastruktur des politischen und wirtschaftlichen Lebens zu ersetzen (Swartz 2017; Faustino 2019; Dicker 2021).“
Der entscheidende Punkt ist der Term bzw. die Theorie der „prefigurative politics“, der präfigurativen Politik – ein Ansatz, der auf Deutsch bisher wenig diskutiert wurde. Bei präfigurativer Politik geht es darum, Organisationsformen zu erschaffen, die im Kleinen bereits die zukünftige Gesellschaft widerspiegeln, die eine Gruppe gerne verwirklicht sähe. Vereinfacht gesagt: Viele in der Krypto-Welt versuchen Nathan Schneider zufolge, mit der Blockchain schon jetzt Systeme zu erschaffen, die den kompletten Umbau unserer Institutionen vorwegnehmen. Vorboten der radikalen Veränderung.
Das Interessante ist, dass diese Theorie in den USA von Menschen geprägt wurde, die sich selber als Anarchistinnen und Anarchisten bezeichnen, vor allem aus der linken Szene. Die heutige DeGov-Bewegung kommt nun allerdings hyperkapitalistisch daher. Die Krypto-Community hat zwar ein rebellisches, um nicht zu sagen anarchistisches Selbstverständnis, doch sind es hauptsächlich wohlhabende Tech-Millionäre (oder -Milliardäre), die diese Bewegung anführen.
Man kann aber auch eine direkte Referenz auf die Anfänge des Internets bzw. das Cypherpunk-Manifest von 1993 und der damit verbundenen Bewegung unterstellen. Denn in seinem Manifest beschreibt Eric Hughes unsere Gesellschaft im elektronischen Zeitalter und zeigt sich vor allem um die Privatsphäre besorgt. Er sieht den Schutz der Privatsphäre als essenziell an und da Kryptographie die einzige Möglichkeit sei Privatsphäre zu gewährleisten, müsse man Kryptographie fördern und gegen jegliche Einflussnahme verteidigen.
Während die Hacker- und Computerkultur in Deutschland durch den CCC eher links der Mitte zu verorten ist, sind die Krypto-Anhängerinnen durch das amerikanische Vorbild der Cypherpunk-Bewegung eher im libertären Spektrum anzusiedeln. Hier besteht also ein deutlicher Unterschied. Und auch, wenn die Vordenkerinnen der Ethereum-Szene mittlerweile dazu aufrufen, sich von diesen Anfängen zu emanzipieren, haben die libertären Denkweisen und die heutigen technologischen Möglichkeiten bereits neue Konzepte hervorgebracht. Eines der radikalsten davon, auch wieder durch die Idee von DAOS befeuert, sind sicherlich Privatstädte oder Crypto Cities .
Von der Crypto City zum Network State.
Diese Idee von autarken Städten ist in Teilen der Krytpo-Community auf fruchtbaren Boden gestoßen. Im Vergleich zu älteren Konzepten wie den Charter Cities oder freien Privatstädten, haben die Krypto-Vordenkerinnen weitreichendere Ideen. Charter Cities beschränken sich darauf, dass ein ausgewiesenes Stück Land von einer Regierung an eine andere abgegeben wird, um es wirtschaftlich weiterzuentwickeln. Der Wirtschaftsprofessor Paul Romer, der dieses Konzept zuerst verfasste, beschrieb es in einem Satz als „Kanada entwickelt ein Hongkong in Kuba“. Freie Privatstädte öffnen sich dagegen komplett für eine Verwaltung durch eine Firma und wenden sich von einer Staatlichkeit in dem Sinne ab, wie wir heute einen Staat verstehen würden. In diesem Paradigma gibt es keine Regierungen mehr.
Wo die genannten „alten“ Konzepte der Privatstädte oder Charter Cities noch auf den „materiellen“ Aspekt eines Stadtstaats setzen, verstehen sich die Crypto Cities eher als eine Community, die das „Immaterielle“ betont. Die Community braucht kein eigenes Land mehr. Ihr „Land“ kann der Discord-Server sein oder irgendein Server, irgendwo. Der Fokus geht von der materiellen Verkörperung eines Staates als Land hin zu den starken Verbindungen menschlicher Individuen als Teil einer Community.
An dieser Stelle verschränken sich libertäre Positionen mit den postmodernen Theorien eines Jean Baudrillard. Baudrillard beschreibt einen Wandel der Wirklichkeit, indem sich die „alte“ Wirklichkeit vom Bezug zur äußeren Welt ablöst. Einer der Vordenker der Krypto-Bewegung, Balaji Srinivasan, beschreibt diesen Wandel sehr kompakt: „Digitale Währungen sind Teil eines grundlegenden Wandels in der menschlichen Organisation – weg von der gemeinsamen Geografie, hin zu gemeinsamen Ideen.“
Mit dieser kompakten Definition bietet Srinivasan, der früher im Vorstand von Coinbase und General Partner beim einflussreichen Wagniskapital-Investor Andreessen Horowitz war, eine Art kopernikanische Wende der Staatsdefinition an, denn die Drei-Elementen-Lehre geht in der Jellinekschen Trias von einem Staatsgebiet, einem Staatsvolk und einer Staatsgewalt aus. Wenngleich im Staatsrecht keine allgemein gültige Definition des Begriffs Staat existiert, reicht diese unterkomplexe Darstellung, um einen Vergleich zu Srinivasans Idee zu ziehen. Er propagiert nicht nur Crypto Cities, sondern gleich den Network State , den digitalen Netzwerkstaat:
„Ein Network State ist ein soziales Netzwerk mit einem vereinbarten Anführer, einer integrierten Kryptowährung, einem eindeutigen Ziel, einem nationalen Bewusstsein und einem Plan, um Territorium durch die Crowd zu finanzieren.“
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Jetzt Mitglied werden!Das Herz eines Network States soll die Community darstellen. Menschen versammeln sich in einer DAO, sammeln Geld, konstituieren ein Protokoll und letztendlich ist der letzte Schritt, dass sie diesen „Online-Staat“ mit dem Kauf physischen Lands manifestieren und untermauern. Gleichzeitig soll es möglich sein, dass man mehrere Zugehörigkeiten zu den verschiedensten Network States hat. So wie man heute schon mehrere Tokens verschiedenster DAOs halten kann oder einen Account bei Twitter und bei Facebook haben kann.
In Srinivasans Konzept ist ein Network State nicht auf ein zusammenhängendes Gebiet beschränkt. Es könnten überall auf der Welt Gebiete dazu erworben werden. Als Vorbild wird Frankreich mit seinen Überseegebieten angegeben oder Google mit Büros überall auf der Welt. Allerdings schreibt Srinivasan, dass es für den Anfang effektiv sein könnte, Immobilien in einem dezidierten Stadtviertel zu kaufen. (Ich stelle es mir wie in der amerikanischen Stadt Clearwater vor, wo Scientology nach und nach den Großteil der Gebäude und Grundstücke aufkaufte und so praktisch eine Stadt „kaufte“. Ich möchte die Idee des Network States damit aber nicht mit Scientology in Verbindung bringen!)
Grenzen und Migrationsbewegungen werden in der Welt aus Network States gänzlich fluide. Wer kann schon eine Landkarte von Facebook zeichnen? Die zugrundeliegende Idee der Dynamic Digital Geography ist dabei stark von Patri Friedmans Konzept der Dynamic Geography beeinflusst, welches dafür argumentiert, dass es zwischen Städten einen natürlichen Wettbewerb um Bürger geben sollte und Menschen sich so ihren perfekten Lebensmittelpunkt aussuchen könnten. In der Idealvorstellung der Autoren würde dieser Wettbewerb zwischen Städten stattfinden, die auf schwimmenden Plattformen im Meer errichtet werden. Dann ließen sie sich am besten vergleichen.
Srinivasan kritisiert, dass Macht über Wohlstand, Institutionen und Medien heute nicht mehr erarbeitet, sondern vererbt und dann verwaltet wird. Als Beispiel führt er die Familien Du Pont, Forbes, Mellon, Kennedy, Bush, Clinton, Murdoch und Sulzberger an. Heutige Staaten und ihre Institutionen versagen laut Srinivasan – in der Coronakrise wäre etwa das staatliche Gesundheitssystem überfordert gewesen, während Moderna einen Impfstoff entwickelte –, weshalb er als Vorbilder für Network States eher erfolgreiche Start-ups wie die von Jeff Bezos oder Mark Zuckerberg sieht. Hier darf man nicht vergessen, dass Balaji Srinivasan in erster Linie ein Investor ist – mit einem großen Interesse an offenen, liberalen Demokratien, die Rechtssicherheit, aber auch freien Kapitalfluss gewährleisten.
Aus meiner Sicht lässt sich die Verwaltung eines demokratischen Staates mit komplexen Pfadabhängigkeiten allerdings nur bedingt mit der Gründung eines Unternehmens vergleichen. Dazu vergessen die erfolgreichen Unternehmer gerne zu erwähnen, dass es die staatliche finanzierte DARPA bzw. In-Q-Tel war, die die Entwicklung des Internets bzw. der ersten Protokolle und Vorgänger erfolgreicher Firmen und Produkte wie Google Earth finanziert hat.
Der biotechnologisch perfektionierte Mensch.
In Präsentationen zeichnet Srinivasan das Bild einer sich transzendierenden Gesellschaft, die auch durch Biotechnologie erreicht werden kann. Dabei schwebt Srinivasan eine Welt vor, in der jedes Individuum als Teil einer größeren Sache an sich selbst arbeitet, um einen Status der Exzellenz zu erreichen. Zentral sind für ihn die Selbstverteidigung bzw. die Souveränität des Individuums. Das Individuum soll in diesem Prozess nicht vor der biotechnologischen Weiterentwicklung seines Körpers zurückschrecken. Im Gegenteil, er möchte Menschen eher dazu ermutigen.
Doch noch werden – in seinen Darstellungen – eben jene Durchbrüche in der Biotechnologie von staatlicher und moralischer Regulierung sowie durch große Konzerne, die der Gesellschaft durch ihren Einfluss ihr Narrativ aufdrücken wollen, zurückgehalten. Als Beispiel nennt er die New York Times, die er implizit als Medium darstellt, welches Lügen verbreitet. Es wird zudem suggeriert, dass sich die Welt kurz vor „dem kulturellen Kampf“ befinden würde. Man müsse sich bzw. den Network State in diesem Fall verteidigen.
Was ist, wenn der Stecker gezogen wird?
Denker wie Srinivasan oder Buterin gestehen zwar ein, dass sie Verwaltungs- und Funktionsweisen aus der Offline-Welt nicht problemlos in ihre neue Web3-Welt übertragen können, jedoch versuchen sie mit Blick auf post-demokratische Staaten und deren zunehmender Abschottungsmentalität eine alternative und neue Art des Zusammenlebens zu propagieren. Dadurch entsteht nicht zuletzt eine neue Politik.
Sie erkennen darin ein Policy-Window, also eine Möglichkeit zur politischen Veränderung, und stellen ihre Ideen einer Krise des Liberalismus entgegen, auf die sie die vermeintliche Antwort parat haben. Sie bedienen sich immer wieder des Frames des versagenden und schwachen Staates. Erstaunlicherweise wird dieses Narrativ auch im Informationskrieg gegen westliche Staaten immer wieder in Desinformationskampagnen hervorgebracht.
Offensichtliche und grundlegende Punkte, die in der Debatte bisher nicht ausreichend bedacht werden sind, dass 37 Prozent der Weltbevölkerung immer noch offline sind und 1,7 Milliarden Menschen über kein Bankkonto verfügen. Wie sollen diese Menschen ein Verständnis für eine Wallet und eine Kryptoökonomie haben? Zugang und Wissen über digitale Prozesse sind für Network States und selbst DAOs entscheidend, aber selbst in Deutschland wissen gerade einmal 52 Prozent der Menschen wie sie per Smartphone bezahlen.
Darüber hinaus stellt sich die Frage: Was ist wenn das Internet abgeschaltet oder zensiert wird? Wo sind diese Staaten, wenn wir den Stromstecker ziehen? Wer baut Straßen und Krankenhäuser?
Krypto-Spinnerei oder ernstzunehmende Konzepte?
Klassischen Ökonomen oder Politikwissenschaftlerinnen werden geneigt sein, all diese Ideen zu DAOs, Crypto Cities oder gar Network States als unrealistische Zukunftsvisionen abzutun. Doch in Zeiten, in denen Smart Cities, goldene Pässe und Sonderentwicklungszonen längts Normalität sind, scheint DeGov keine allzu abstruse Idee mehr zu sein. Zumal erste DeGov-Projekte umgesetzt werden: Der US-Bundesstaat Wyoming hat gerade erst ein DAO-Gesetz erlassen. Daraufhin hat die erste DAO dort Land gekauft. Miami hat den MiamiCoin eingeführt. Bitcoin wurde in El Salvador als Staatswährung etabliert und es soll dort eine Bitcoin City errichtet werden. Nur, um einige Beispiele zu nennen. Das ist spannend, sollte aber auch eine echt gesellschaftliche Debatte auslösen – denn unproblematisch sind all diese Projekte nicht.
In ihrem Buch New Social Money: How Payment Became Social Media schreibt Lana Swartz: „Alle diese Visionen sind in gewisser Weise Postdemokratie-Fantasien“ – und ich denke sie hat mit ihrer Kritik Recht. Demokratische Wahlen sind vor allem allgemein und gleich. Sobald Identitäten, die über mehr Coins oder Token verfügen, mehr Einfluss erhalten, wird dieser Grundsatz verletzt. Und in den bisherigen, frühen Formen der Kryptoökonomien können vor allem die teilnehmen, die die nötigen technischen Kenntnisse und genügend Geld haben.
Selbst wenn Mechanismen gefunden werden, die dieses Problem lösen, muss das Ergebnis nicht unbedingt besser sein als heutige Staaten. Dazu passt, dass Lana Swartz schreibt: „Neue Formen des Geldes schaffen neue Formen der Identität, neue Formen der Gemeinschaft und neue Formen der Macht“
Die Web3-Debatte sollte aus meiner Sicht als Anlass genommen werden, um Missstände wie Fehlanreize, Vertrauensverlaust, Solidaritätsverlust, gesellschaftliche Spaltung und Abwendung von demokratischen Prinzipien unter der Prämisse neuer technischer Möglichkeiten zu diskutieren. Sollte es die Politik nicht schaffen, diese Probleme glaubhaft und effektiv zu adressieren, könnten es andere tun. Politische Entscheidungsträger könnten weiter an Einfluss verlieren. Menschen könnten sich – trotz aller Kritik und aller möglicher Probleme – der Idee von Network States zuwenden, weil sie sich in etablierten Staaten nicht repräsentiert fühlen.
Am Ende kann ich die Faszination für das Web3 und seine Versprechen nachvollziehen, weil es etwas Neues ist, Raum für Kreativität und Exploration bietet und irgendwie an die frühen Tage des Internets erinnert, das damals noch mehr als heute eine Spielwiese fernab jeglicher Konventionen und Normen war. Vielleicht hilft das Web3, Änderungen einzuleiten, wenn den entsprechenden Entscheidungsträgern die Tragweite der immer populärer werdenden Konzepte bewusst wird.
Trotzdem bleibe ich mit zu vielen unbeantworteten Fragen zurück. Ist es sinnvoll, Vertrauen durch Incentives zu ersetzen? Sollte jemand Verantwortung für einen Staat tragen, nur weil man mehr Geld hat oder eine Influencerin mit vielen Followern ist? Geht es den Vordenkern wirklich um Freiheit für Einzelne oder vielleicht einfach nur darum Regulation in ihrem Sinne abzuändern?
Letztendlich zeigt mir die Web3 Debatte wie wichtig es ist, gerade auch für die Politik, offen für neue technologische Entwicklungen zu sein und gleichzeitig die kritische Distanz nicht zu verlieren. Zumal mit zunehmendem Fortschritt technische Entwicklungen die Basis für gesellschaftliche Umwälzungen sein werden. Perfekt hatte das der inzwischen verstorbene Psychologe und Netzwerkforscher Peter Kruse schon 2010 in der vierten Sitzung der Enquete Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ im Bundestag auf den Punkt gebracht. Natürlich ist und wird es nicht einfacher, die Signale aus dem ganzen Rauschen, gerade in komplexen Zusammenhängen, herauszufiltern. Nach diesem Artikel ist für mich aber klar, dass die Demokratie es uns wert sein sollte.
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Titelbild: Getty Images
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