Er nennt sich Smuggler, tritt nur mit Maske auf, ist Kryptoanarchist und Cypherpunk. Das mag düster klingen. Doch die Ideen, die er mit anonymen Online-Communities oder in semiautonomen, temporären Treffpunkten entwickelt, sollen die Menschen vor Überwachung und eskalierender Technologie schützen. Den Staat, wie wir ihn kennen, hält Smuggler nicht für die Lösung heutiger Probleme, sondern für das größte Problem. Warum? Das und mehr erzählt er im langen 1E9-Interview.
Ein Interview von Krischan Lehmann
Juni 2017: Erstmals beträgt die Marktkapitalisierung von Bitcoin und anderen Kryptowährungen 100 Milliarden Dollar. Wöchentlich bieten neue Start-ups in sogenannten ICOs, also Inititial Coin Offerings, neue digitale Münzen an, meist mit windschiefen Geschäftsmodellen, aber vollmundigen Versprechungen. „To the moon!“ und „Lambo!“ lauten die Devisen, anspielend auf explodierende Kurse und Luxusautos, die man wie Lebensmittel kauft, sobald man dann Millionär geworden ist. Der erste weltweite Krypto-Hype hat begonnen. Und auch die klassische Presse nimmt von der bislang eher diskret agierenden Szene rund um Blockchain Notiz.
„Eines Morgens hat mir Frank eine Nachricht geschickt: ‚What the fuck, kuck dir das mal an!‘ Und dann war da diese Fotomontage von uns und Donald Trump im Guardian.“ Im besagten Artikel werden Jonathan „Smuggler“ Logan und Frank Braun, vermummt und mit Sonnenbrillen, zu Protagonisten einer neuen politischen Bewegung erklärt, die nur mit Code und kryptographischen Methoden bewaffnet alte Gesellschaftsordnungen aus den Angeln heben könnte.
Ein britischer Journalist hatte die beiden Berliner Kryptoanarchisten beim Hackerkongress HCPP in Prag entdeckt. Beide waren schon früh in der Bitcoin-Community umtriebig gewesen. Smugglers Texte zu Kryptoanarchie, Cypherpunk und zum Darknet fanden in der osteuropäischen Szene besonderen Anklang. Bis heute gelten die Talks der beiden als Highlights der jährlichen Konferenz im „Institute of Cryptoanarchy“, einem Café und Hackerspace, in dem man seine Zeche mit Bitcoin, Litecoin oder Monero begleicht und der irgendwann einfach aufgehört hat, dafür Steuern an den tschechischen Staat zu zahlen. Die Paralelni Polis, eine geduldete Parallelgesellschaft mitten in Prag.
„Als der HCPP als physikalisches Event für die ganze Cryptoanarchy-Szene entstanden ist, gab es plötzlich Raum-Zeit-Koordinaten, wo man mit Leuten wie uns reden konnte“, erinnert sich Smuggler. „Dadurch sind sich ganz viele Leute, Außenseiter in Anführungszeichen, erst einmal bewusst geworden, dass es da noch Bewegungen gibt, die sie noch gar nicht kannten, weil das meiste, was wir tun, nun mal im Verborgenen stattfindet.“
Das Verborgene ist der rote Faden in Smugglers Leben, der eigentlich Konzertpianist werden wollte und noch vor dem Abitur Musik studierte. „Aber irgendwann hat der Computer gewonnen. Insbesondere die Kommunikation und das Schützen von Geheimnissen haben mich begeistert. Und ich fand die Fragestellung von sicherer, anonymer Kommunikation und Datenlagerung auch ästhetisch interessant. Da schwang diese Mischung aus ‚Du kannst etwas bewegen, du kannst technisch etwas tun‘ und einer gewissen Rebellion mit. Das ist definitiv ein wichtiger Aspekt gewesen, der mich angezogen hat.“
Die Computertechnik der frühen 90er Jahre ist noch was zum Ausprobieren gewesen. Damals gab es noch Bulletin Board Systems wie Sand am Meer. Sich nachts in der BBS einloggen und sehr spielerisch mit Technik umgehen - das ist es, womit ich aufgewachsen bin. – Smuggler
Irgendwann stolpert Smuggler über die Mailingliste der Cypherpunks, jener Hackergruppe, die ab Ende der 1980er Jahre über kryptographische Verschlüsselungstechniken und neue libertäre Gesellschaftsmodelle diskutierte. Er liest die „Declaration of Independence of Cyberspace“ und das „Cryptoanarchist Manifesto“, beginnt zu programmieren und betreibt schließlich einen eigenen Remailer, der es Usern ermöglicht, anonym an Diskussionen im Netz teilzunehmen.
1E9: Was hat dich an der anonymen Kommunikation so gereizt?
Smuggler: Dass sie viel mehr Experimente erlaubt. Selbst in einer physikalischen Community, von denen es ja ziemlich viele in Berlin gibt, ist man ständig auf die Vergebung der anderen Mitglieder angewiesen. Und das ist nun mal eine Sache, in der Menschen nicht besonders gut sind. In pseudonymen Online-Communities hat man die Möglichkeit, sich ständig neu zu erfinden, man kann experimentieren und spielen mit dem, was man denken und sein möchte. Und jeder hat ein Bewusstsein dafür, dass Identitäten dort fluide sind. Wir gehen in der physikalischen Welt ganz häufig davon aus, dass Menschen mehr oder weniger immer gleich sind. Und wenn sie eine Reihe von Fehlern machen, tragen sie die immer mit sich mit. Das führt dazu, dass Menschen sich sehr viel stärker daran ausrichten, was die Erwartungen der anderen an sie sind, weil sie einen Reputationsverlust vermeiden wollen – und das führt zu einer inneren Zensur und zu einem Konformismus.
In gewisser Weise sind anonyme Communities also eine Art Labor, in dem man sehr unausgereifte Ideen-Prototypen testen kann, was schnelle und oft auch erfolgreiche Entwicklungen von Ideen und Technologien zur Folge hat. Man hat sozusagen einen wesentlich größeren Suchraum. Außerdem erlaubt es die Anonymität, die innere Maske abzunehmen. Viele dieser Communities sind viel, viel ehrlicher und die Beziehungen untereinander oft tiefer als in der Realwelt, weil einem niemand schaden kann. Ich kenne Leute, die haben sich mit Hilfe von anonymen Online-Communities aus Depressionen befreit, weil sie endlich mal Leute hatten, mit denen sie wirklich über das reden konnten, was sie wirklich beschäftigt hat.
Bei euren Talks in Prag seid ihr immer maskiert. Warum tragt ihr diese Masken?
Smuggler: Wir wollten mit unseren realen Gesichtern einfach nicht in den sozialen Medien auftauchen. Und es ist natürlich auch ein Statement, das darauf hinweisen soll, dass wir mit der wachsenden Anzahl von Überwachungskameras und biometrischen Suchmaschinen die Fähigkeit verlieren, in der physikalischen Welt anonym zu sein – was wir ja eigentlich in den allermeisten Fällen sind. Das ist eine Entwicklung, von der wir noch überhaupt nicht wissen, wie weit sie gehen wird. Und das ist ein Problem.
Inzwischen trage ich übrigens manchmal auch in der Öffentlichkeit eine Maske, insbesondere wenn ich nicht weiß, worauf ich mich einlasse. Und erst wenn ich sichergestellt habe, dass nirgendwo eine Kamera steht, nehme ich die Maske ab, weil wir Menschen natürlich massiv daran gewöhnt sind, die Mimik unseres Gegenübers zu lesen. Gerade wenn man es mit Menschen auf der Asperger-Skala zu tun hat, dann macht das Verdecken der Restmimik die Sache noch schwieriger. Aber insgesamt glaube ich, dass das Tragen einer Maske in Zukunft wichtiger wird.
Jonathan „Smuggler“ Logan weiß, wovon er spricht. Anfang der 2000er macht er sein Faible für “Privacy Enhancing Technologies” zum Beruf und beginnt, in der Computersicherheit zu arbeiten, wo er Storagesysteme und Verfahren für verdeckte Kommunikation entwickelt. Parallel beschäftigt er sich mit politischer Philosophie, vor allem dem Libertarismus und dem Anarchismus. Übers Netz lernt er den Amerikaner Paul Rosenberg kennen, einen langjährigen Begleiter der Cypherpunk-Bewegung und den späteren Autor des Romans „The Lodging of Wayfaring Men“, eine Art „Der Herr der Ringe“ der Kryptoanarchisten. Zusammen gründen sie Cryptohippie, einen der inzwischen ältesten Provider von Virtual Private Networks, und verarbeiten ihre Erfahrungen in einem gemeinsamen Buch.
2017 hast du zusammen mit Paul Rosenberg das Buch „The New Age of Intelligence“ veröffentlicht, in dem ihr argumentiert, dass massenhafte Spionage und Beeinflussung eigentlich der neue Normalzustand sind, befeuert durch Technologien wie Big Data, Machine Learning und Predictive Analytics. Nur dass es sich bei den Hauptakteuren inzwischen um internationale Konzerne und nicht mehr – wie früher – Nationalstaaten handelt. Wie kam es zu dem Buch?
Smuggler: Dadurch dass wir Kommunikationsschutz für alle möglichen Menschen gemacht haben, haben wir über die Jahre natürlich auch das eine oder andere gesehen und erlebt. In unserer Arbeit war es immer sehr wichtig, Leute zu schützen, die konkrete Gegner hatten und abgehört, verfolgt oder gestalkt worden sind. Aber in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren haben wir dann zunehmend erkannt, wie die Methoden, die vorher nur einzelne Ziele betrafen, massiv verallgemeinert worden sind. Es hört sich vielleicht ein bisschen extrem an, aber ich glaube, dass wir gerade eine Art technologisch automatisierte Zersetzung der Gesellschaft erleben, also eine Zersetzung in der Bedeutung der geheimdienstlichen Methode durch Überwachung, automatische Feedback-Loops und individualisierte Darstellungen von Daten und Nachrichten. Und Tatsache ist, dass diese neuen individuellen „Wahrnehmungsmaschinen“ zum größten Teil durch große Unternehmen gebaut und genutzt werden.
Ich gebe mal ein Beispiel: Die Radikalisierung von Leuten. Es gibt diesen Witz, dass man im Prinzip nur eine halbe Stunde YouTube auf Autoplay laufen lassen muss und man wird zum Flat-Earther. Das ist zwar nur ein Witz, aber da steckt viel Wahrheit drin. Da die ganzen Algorithmen in den sozialen Medien engagement-orientiert sind, gewinnen wir eine Perspektive der Welt, die relativ extrem ist. Und viele Leute sind dafür sehr anfällig. Gleichzeitig führen die Feedback-Loops dazu, dass es keine gemeinsame Sicht mehr auf die Welt gibt, sondern stark individualisierte Bubbles entstehen, die nicht wirklich unter unserer Kontrolle liegen. Und das führt zu einer Zerfledderung von Communities. Es führt dazu, dass es immer schwieriger wird, über Wahrheiten zu reden, dass Konflikte stärker werden, weil die Polarisierung zunimmt. Und es führt dazu, dass die Autonomie der Menschen geschwächt wird, weil ihre Wahrnehmung verengt stattfindet.
Und der zweite wichtige Aspekt ist dann natürlich die Verwendung dieser gesammelten Daten, um Reaktionen auf uns zu steuern. Ob das jetzt das Anbieten von Produkten ist oder ob es sich um Risikoklassifizierungen handelt – hier geht es dann in den Bereich der gezielten Überwachung über, wo es dann auch Schnittmengen mit dem Staat gibt. Es ist interessant zu beobachten, wie viele Aufgaben, die wir insbesondere in Europa traditionell dem Staat zugemessen haben, „vergooglelisiert“ werden, wie aber auf der anderen Seite auch Staaten die Big 5 und viele andere Unternehmen dazu nutzen, um ihren Job „besser“ zu machen.
Gib auch hier mal ein Beispiel!
Smuggler: Es gibt derzeit ein interessantes Experiment in Toronto, wo ein ganzer Stadtteil von Alphabet mitgebaut wird und jetzt Memos aufgetaucht sind, in denen zum Beispiel steht, dass die Koordination der Polizei durch den privaten Betreiber des Stadtteils durchgeführt werden soll, inklusive der Fragestellung, welche Regeln wann Anwendung finden. Außerdem soll der Betreiber das Recht bekommen, Grundsteuern zu erheben. Das sind eigentlich Dinge, die wir, jedenfalls aus europäischer Sicht, primär dem Staat zugestehen würden, die aber hier experimentell an eine Datenmaschine weitergegeben werden.
Du hast vorhin von einer geschwächten Autonomie der Menschen gesprochen. Dabei sollte die doch eigentlich steigen, denn man kann die Digitalisierung ja durchaus auch als Demokratisierung der Produktionsmittel begreifen: Immer mehr Leute können immer mehr verschiedene Dinge tun. Jeder Teenager kann zum Beispiel inzwischen aus seinem Kinderzimmer heraus eine Live-Sendung machen, die ein Millionenpublikum erreicht. Und wenn man noch Bitcoin und Konsorten dazu denkt, werden jetzt auch finanzielle Mittel demokratisiert…
Smuggler: Das sind einfach die zwei Seiten der gleichen Medaille. Ich glaube, dass Technologie an sich eine Amplifikation des menschlichen Willens ist. Wir brechen einen Ast ab, weil wir Holz brauchen, und dann erfinden wir die Axt und können ganze Wälder abholzen. Technologie macht Dinge effektiver und effizienter, das aber nur selten in eine Richtung. Die meisten Technologien sind Dual-Use-Güter, die nicht nur das machen, was wir mögen, sondern eben auch viele andere Sachen. Und das ist eine der größten Gefahren: Dass wir nur darauf kucken, wie gut die Axt beim Baumfällen ist, und nicht, wie gut sie sich dafür eignet, Schädel zu spalten.
Und das nächste Problem ist, dass wir einen Über-Optimismus darin haben, Technologien kontrollieren zu können. Denn um das zu können, braucht man eigentlich eine weitere Technologie. Ich sehe das Ganze also immer sehr ambivalent. Deswegen ist es auch wichtig, dass es Leute wie uns Hacker gibt, die mit Technologien etwas anderes machen, als vorgesehen ist. Wir brechen die Regeln, um zu kucken, was man noch so alles machen kann.
Wie bewertest du in der von dir geschilderten Situation die Rolle des Staates?
Smuggler: Ich bin Anarchist und das bedeutet in allererster Linie, dass ich ein Gegner von zwanghaften Regelsystemen bin. Das bedeutet nicht, dass ich ein Gegner von Regelsystemen per se bin, sondern ich bin dagegen, dass man in ein Regelsystem reingeboren wird und es nicht oder nur sehr schwer wechseln kann. Der Staat an sich ist eine zwanghafte Community, die relativ rigide ist. Deswegen ist der Staat an sich für mich erst einmal etwas Negatives. Ich glaube aber, dass er nicht nur aus anarchistischer Sicht, sondern auch aus systemischer Sicht negativ ist. Wir haben eine Explosion von Wissen und Technologien, die große Veränderungen mit sich bringen und eigentlich Regelsysteme erfordern, die sich schnell an neue Umstände anpassen können. Und dafür sind große Nationalstaaten einfach nicht geeignet – was dazu führt, dass es einen Überhang von äußerer Veränderung zu innerer Anpassung gibt. Und das nennt man Krise.
Wenn Informationen zu viel werden, braucht man immer mehr Experten, auf die man hören muss. Aber die Welt verändert sich heute so schnell, dass man nicht genug Zeit hat, über entsprechend große Regelwerke zu reflektieren, was dazu führt, dass man dann spontan Regeln einbringt, die die Sache noch schlimmer machen. Und dass man an Dingen festhält, die in einer anderen Zeit extrem sinnvoll waren, aber heute kaum noch positive Auswirkungen haben. Das ist meiner Meinung nach fast universell.
Nun ist ja nicht jeder Mensch dafür gemacht, ein herrschaftsloses Leben zu führen. Die meisten würden ein Regelsystem vermutlich stark befürworten, weil es ihnen hilft, sich zu orientieren und zu organisieren. Genau dafür ist ein Staat ja auch gedacht.
Smuggler: Für mich bedeutet Anarchismus nicht Atomismus, nicht Individualismus um jeden Preis. Das ist auch einer der Punkte, wo ich mit der libertären Theorie in Konflikt gerate. Ich glaube nur, dass das Individuum das Recht haben sollte, die Regelwerke auszuwählen, unter die es fällt. Das bedeutet nicht notwendigerweise, dass sich jedes Individuum seine eigenen Regeln gibt, sondern es ist eher ein Bewusstsein dafür, dass Regelsysteme und ihre Mitglieder fluider sein sollten, als sie es heute sind. Weil es sie anpassungsfähiger macht, weil es Konflikte vermeidet und weil es auch die Loyalität zu einem Regelsystem erhöht.
Ich bin nicht der Meinung, dass wir völlig ohne Systeme auskommen können oder dass sich Systeme nicht ständig auf natürliche Weise bilden, ganz im Gegenteil. Ich glaube nur, dass Systeme, die auf Gewalt fußen, eine richtig schlechte Idee sind, weil Gewalt selten ein Mittel ist, um gute Entscheidungen zu treffen. Gewalt selber ist eine Technologie der Amplifikation. Sie wird eingesetzt, wenn ich nicht mehr in der Lage, jemanden zu überzeugen, und das ist meiner Meinung nach zutiefst unmenschlich. Es ist zutiefst unmenschlich, Menschen zu sagen, dass ihr Wille weniger wert ist als der Wille eines anderen Menschen. Und das nur auf der Verfügbarkeit von Technologie, in diesem Falle Gewalt, zu fußen ist für mich sehr problematisch.
Wo siehst du das gerade?
Smuggler: Ein Beispiel dafür ist natürlich Hongkong, aber es ist ein extremes Beispiel. Ich glaube, man ist sich da häufig gar nicht so bewusst, wo überall staatliche Gewalt ist. Die Legislative, die Exekutive, die Judikative - aus diesen drei großen Strukturen bestehen alle Staaten dieser Welt. Das erkennt man relativ schnell in dem Moment, wo man eine Regel bricht. Dann sieht man sofort: Die Gewalt kommt.
Andererseits wird das Leben auf der Welt ja nach vielen Metriken für viele Menschen stetig besser: Die Säuglingssterblichkeit sinkt seit Jahren, der Zugang zu frischem Trinkwasser steigt, Menschen leben länger, bekommen eine bessere Bildung. Gleichzeitig liest man aber zum Beispiel von immer mehr depressiven Teenagern und exponentiell ansteigenden Deaths of Despair in den USA. Wir haben im Rahmen unseres Launchs mit vielen Usern nicht nur über die Zukunft, sondern auch über die Gegenwart gesprochen und dabei ist nicht selten das Wort „komisch“ gefallen. Es sei insgesamt eine komische Zeit. Siehst du das ähnlich?
Smuggler: Ich seh das zu einem ganz großen Teil so. Ich glaube definitiv, dass wir momentan so ein Übereinanderliegen von Welten haben. Es gibt diese schöne Zitat von William Gibson, dass die Zukunft schon längst da ist, aber noch nicht gleich verteilt. Das ist definitiv der Fall. Ich frage mich zum Beispiel oft, ob die meisten meiner Nachbarn überhaupt in der gleichen Welt leben, weil ich mit Technologien, Trends und Organisationen etc. zu tun habe, von denen meine Nachbarn noch nie etwas gehört haben. Aber all diese Sachen haben eben jetzt schon einen Einfluss auf sie und werden einen dramatischen Einfluss in der Zukunft auf sie haben.
Wir haben intern so einen Witz, nämlich dass die Realität irgendwann mal die falsche Abzweigung genommen hat, dass also diese Realität, in der wir gerade sind, eigentlich nicht dafür gedacht war, irgendwann instanziiert zu werden. Da könnte auch was dran sein.
Wir haben so eine paar seltsame Entwicklungen in den letzten Jahrzehnten gesehen, die man kurz davor gar nicht hätte voraussehen können. Ein gutes Beispiel ist 9/11. Wenn ich die Welt vor und nach 9/11 vergleiche, insbesondere was politische und gesellschaftliche Perspektiven angeht, dann ist da ein radikaler Unterschied. Vorher gab es den Dot.com-Boom, das Experimentieren mit neuen Gesellschaftsformen, das Zurückweichen des Staates aus bestimmten Bereichen – und dann kommt 9/11 und alles verhärtet sich wieder. Und es gibt diesen Schwenk auf Sicherheit, nicht nur physische, sondern auch auf ökonomische Sicherheit. Es gibt die verstärkten Überwachungen.
Oder das Wiederaufflammen von „Identity Politics“ rechts und links. In meiner Jugend hat sich wirklich keiner darum geschert, welche Hautfarbe irgendjemand hatte. Die Kinder haben einfach miteinander gespielt und es war egal, wo man hergekommen ist und welchen Nachnamen man hatte. In gewisser Weise hat jeder geglaubt, dass wir Rassismus und all das irgendwie überwinden. Und plötzlich fangen wir neu an, überkommene Konzepte als Standard zu sehen, und zu behaupten, dass die Überwindung dieser Konzepte eigentlich negativ ist.
Und dazu kommt dann noch der gesamte Bereich Globalisierung, globalisierter Handel, globalisierte Arbeit, Migration usw. Die Überdreißigjährigen finden sich in einer Zeit wieder, die nicht mehr so funktioniert wie die Zeit, in der sie aufgewachsen sind. Und die Unterdreißigjährigen merken, dass die Älteren nichts mehr verstehen, und folgern, dass sie vieles jetzt neu definieren können. Daraus erwachsen Generationenkonflikte.
Und jetzt sind wir in einer Zeit angekommen, wo all diese Aspekte zusammenkommen, und das macht diese Zeit interessant auf der einen Seite, weil sie Möglichkeiten eröffnet, aber auch wahnsinnig gefährlich, weil wir Überwachung und Manipulation haben, die extrem effizient sind und die von den alten Garden benutzt werden – auch weil sie Angst haben.
Der schwedische Philosoph Nick Bostrom glaubt ja, dass kein Weg an einer Überwachungsgesellschaft vorbeiführt, weil die Zugangshürde zu Waffen sinkt, zum Beispiel durch 3D-Druck oder Biotechnologien, und es immer Massenmörder geben wird. Dadurch seien die Staaten gefordert, hocheffektive Überwachungs- und Eingreifstrukturen zu bauen…
Also der gesamte Bereich Hyperviolence, Omniviolence…
Was sagst du dazu?
Es wird immer ein paar superkritische Technologien geben, die zivilisatorische Risiken mit sich bringen. Wie gesagt glaube ich, dass eine ganze Menge der aktuellen Feedback-Algorithmen der sozialen Medien bereits darunter fallen, siehe die politische Polarisierung. Dann ist da der gesamte Bereich „Autonomous Vehicles“, der leicht außer Kontrolle geraten könnte. Biometrisch getriggerte Waffen, zum Beispiel Mikrocopter, die mit Gesichtserkennung und Explosivkörpern ausgestattet sind und einfach auf eine Stadt losgelassen werden können, gibt es bereits. Die kann man schon längst im Darknet kaufen. Überhaupt haben wir viele Technologien, die eine so starke Amplifikationsfähigkeit haben, dass sie einzelnen Menschen sehr viel Macht geben. Und davon werden noch viele mehr kommen.
Aber was viele Leute unterschätzen, ist unsere Fähigkeit, Defensivtechnologien zu bauen. Dass wir als Menschheit schon immer diesen Konflikt zwischen Offensiv- und Defensivwaffen hatten und dass wir uns dem anpassen, wird in den ganzen Omniviolence-Diskussionen oft völlig ignoriert. Die Microcopter, von denen ich gesprochen habe, sind von Hunderttausenden Menschen auf dieser Welt baubar, aber man kann sich sehr leicht vor ihnen schützen, zum Beispiel durch Masken. Die Frage ist nur: Sind wir bereit, Defensivtechnologien gesellschaftlich zu akzeptieren? Und das sind wir nicht. Ich glaube, da ist ein ganz großer Haken. Wir haben auf der einen Seite die Angst vor Offensivtechnologien, aber wir haben die gleiche Angst vor der Veränderung, die Defensivtechnologien mit sich bringen. Das ist auch der Grund, warum wir ständig darauf schielen, dass der Staat alles reguliert, weil wir den Staat als unsere Defensivtechnologie ansehen, die schon alles für uns regeln wird – die aber gleichzeitig am meisten Menschen jemals umgebracht hat. Der Staat ist faktisch die gefährlichste Technologie, die die Menschheit jemals gebaut hat.
Ich glaube, dass es sogar eine Besonderheit der heutigen Zeit ist, dass wir uns zwanghaft festhalten an völlig überkommenen sozialen Normen und völlig überkommenen Verantwortungsstrukturen. Damit machen wir uns sowas von angreifbar und fragil. Und wir glauben schon religiös daran, dass Kontrollsysteme uns retten können. Aber jede Kontrolltechnologie hat False Negatives. Es gibt immer was, das durchkommt. Und das bedeutet, dass es verteilte Verteidigungstechnologien braucht. Die Schadensgrößen sind brutal höher, wenn man auf eine Zentraltechnologie setzt.
When offensive weapons can overpower defensive weapons, the result is centralized, hierarchical organization. When defensive weapons can overpower offensive weapons, the result is decentralization. – Carroll Quigley
Das ist ein Zitat des US-amerikanischen Zivilsationstheoretikers Carroll Quigley, den ihr in eurem Buch anführt, um auf Verschlüsselungs-, Anonymisierungs- und Darknet-Technologien hinzuweisen. Sie seien die naheliegenden Defensivwaffen, mit denen man sich vor Überwachung und Manipulation schützen könne. Womit wir beim Thema Kryptoanarchie wären. Was ist deine gegenwärtige Perspektive auf das, was sich Kryptoanarchie nennt?
Smuggler: Meine Perspektive auf Kryptoanarchie selbst hat sich nicht groß verändert. Was sich verändert hat, ist meine Perspektive auf die Umgebungswelt und den Stellenwert von Kryptoanarchie. Dass sie nicht nur mit Autonomie zu tun hat, sondern – das hört sich jetzt vielleicht pathetisch an – einen gewissen Überlebenscharakter hat. Wir nehmen immer mehr wahr, wie schnell und wie dramatisch sich Sachen in eine schlechte Richtung verändern können und wie wichtig es ist, da Optionen für Kontrapunkte zu haben.
Unser Ziel mit Kryptoanarchie ist nicht die kryptoanarchistische Welt. – Smuggler
Wir behaupten ja jetzt nicht, dass jeder Mensch Kryptoanarchist werden sollte oder dass es nur noch kryptoanarchistische Systeme geben sollte. Es gibt da Leute, die sind radikaler, aber für mich ist das kein Ziel. Ich sehe Kryptoanarchie als eine Option und einen Baustein, den man braucht, um Alternativen entwickeln zu können und alternative Orte zu haben, sowohl physikalischer als auch digitaler Art. Aber ich bin kein Kryptoanarchie-Maximalist, um das mal so zu sagen. Monokulturen sind immer schlecht. Ich bin für das Nebeneinander von Systemen.
Auf den letzten Hackerkongressen in Prag gab es viele Teilnehmer, die die staatliche Infrastruktur – Straßenbahn hier, Museum da – wie selbstverständlich genutzt haben, aber dann zum Beispiel höchst kritisch gegenüber Steuern waren. Kann man ein Kryptoanarchist sein, ohne ein „Leecher“ zu sein und irgendwo mitzusurfen?
Smuggler: Man muss ein Kryptoanarchist sein, der nirgendwo mitsurft. Ich bin total kritisch, was dieses Leechertum angeht. Für mich ist das ein parasitäres Handeln, das einem nicht nur die moralische Rechtfertigung nimmt, sondern weiterhin verhindert, dass man tatsächlich neue Systeme aufbaut. Das ist dann eher so ein „Larping“, das es in dem Bereich ganz oft gibt.
Kleine Anekdote: Wir haben ein Meetup in Berlin, das Eintritt kostet. Und wir wollen Cash. Also keine EC-Karte und kein Blabla, sondern entweder Euros oder Silbermünzen. Und wir werden jedes Mal dafür angegriffen, dass wir nicht auch Bitcoin annehmen, was wir nicht tun, weil wir erstens unsere Rechnungen nicht in Bitcoin bezahlen und das Ganze zweitens „tracebar“ ist ohne Ende. Jetzt kamen kürzlich ganz viele Bitcoin-Leute vorbei und es stellte sich heraus, dass sie immer mit Kreditkarten bezahlen, die mit Bitcoin aufgeladen werden bzw. dass sie Bitcoin wechseln, die dann als Euros auf der Kreditkarte landen. Und das ist vermutlich der größe Schwachsinn, den es auf der Welt gibt. Das zentrale Überwachungssystem für Consumer im Geldverkehr sind Kreditkarten. Da ist es völlig egal, ob ich die mit Bitcoin auflade oder sonst irgendwie. Und diese Abneigung gegenüber Eurocash zu haben und gleichzeitig Kreditkarten zu benutzen, hat mich zum Lachen und zum Weinen zu gleichen Teilen gebracht.
Soll heißen: Nicht jeder, der Bitcoiner ist, ist jetzt Kryptoanarchist. Und ich glaube auch nicht, dass das parasitäre Existieren unser Ziel sein sollte. Unser Ziel muss sein, parallele Systeme und parallele Orte zu schaffen, in denen man auch praktisch lebt. Aber die werden natürlich niemals völlig eigenständig sein, nichts auf dieser Welt ist völlig eigenständig. Alles in dieser Welt interagiert, auch Staaten geben sich Regeln untereinander. Und etwas Ähnliches muss auch für kryptoanarchistische Systeme gelten, dass sie versuchen, mit den Systemen außen rum respektvoll, souverän und diplomatisch umzugehen. Es ist ein langer Weg dahin, aber das muss das Ziel sein.
Bei deinem letzten Vortrag in Prag „The fortgotten art of anonymous digital cash“ hast du von eurem eigenen Kryptoprojekt „Scrit“ erzählt, das die Möglichkeit bieten soll, für eine Toilettenbenutzung zu bezahlen. Ein ziemliches Understatement…
Smuggler: Nein, das ist totaler Ernst.
Es kann ja so entstehen. Aber ich vermute schon, dass jetzt andere Ziele damit verbunden sind…
Smuggler: Wir haben diesen Ort in Berlin, der kryptoanarchistisch geprägt ist und wo wir mit parallelen und alternativen Technologien, Regeln und Sozialformen experimentieren wollen. Es ist ein Labor sozusagen, das auch sehr physikalisch ist, ein Ort, wo wir alles selber machen. Wir fangen im Prinzip in der Steinzeit an und versuchen, ein alternatives System zu bauen. Und wir haben tatsächlich nach einer Lösung gesucht, wie wir Toiletten betreiben können, das heißt, wie wir Personal bezahlen, das sie putzt. Und da wir nicht kollektivistisch, sondern anarchistisch eingestellt sind, also nicht hergehen und einfach von jedem Geld nehmen, sondern sagen ‚Wer das Klo benutzt, muss auch dafür bezahlen‘, sind unsere Lösung nicht Steuern, sondern Gebühren. Und dadurch ist tatsächlich die Idee überhaupt erst aufgekommen.
Wir würden gerne ein Zahlungssystem haben, das wahnsinnig billig und schnell ist. Du möchtest halt nicht 50 Cent Gebühren bezahlen, wenn du für zehn Cent aufs Klo gehst. Auf der anderen Seite möchtest du aus nachvollziehbaren Gründen auch nicht, dass eine Transaktion eine Minute dauert. Das ist der gedankliche Auslöser gewesen und wir werden Scrit auch für diesen Zweck einsetzen, aber es es ist natürlich mittlerweile wesentlich mehr geworden als das.
Verstanden. Wie funktioniert Scrit?
Smuggler: Scrit ist die direkteste Übertragung von physikalischem Bargeld auf das Digitale. Die Idee stammt ursprünglich von David Chaum, der ECash erfunden hat. Es ist nicht wie Bitcoin eine verteilte Buchhaltung, sondern wir haben digitale Münzen, die nichts anderes sind als ein paar digitale Zeichen, die dadurch verifizierbar sind, dass sie durch den Ausgeber unterschrieben und auf diese Weise einmalig gemacht werden und auch nur einmal benutzt werden können. Das ist die Idee aus den frühen 80ern.
Und für uns ist immer die Fragestellung gewesen: Wie können wir verhindern, dass ein einzelner Betreiber eines solchen Systems es unterminieren kann, zum Beispiel dadurch, dass er Geld klaut oder dass er Geld erfindet. Oder dass das System auseinanderbricht, weil es technische oder regulatorische Angriffe auf den einzelnen Betreiber gibt. Die Innovation von Scrit ist, dass man statt eines Betreibers ein Netz von Betreibern hat, die konsensuell miteinander agieren müssen, um das System zu betreiben.
Praktisch bedeutet das: Man bezahlt mit einem Creditstick, wie man ihn aus Science Fiction-Filmen kennt, also mit einem technischen Tool, das nichts anderes macht, als Geld zu übertragen. Heute haben wir diese Vermischung von Funktionen innerhalb eines Geräts. Ich finde das nicht sehr attraktiv, das Konzept des billigen Creditsticks, mit dem ich nur Geld übertragen kann, dagegen wunderschön. Und deswegen auch die Überlegung: Wie können wir ein System bauen, das mit einfacher, zuverlässiger und günstiger Hardware nutzbar ist und idealerweise sogar funktioniert, wenn das Netz mal nicht vollständig da ist. Und das ist halt der zweite Aspekt von Scrit. Unser Ziel ist es, diesen Credit-Stick zu bauen.
Wir wollen also gar keine Währung machen, sondern eher das Bargeld für Hackerspaces, ein community-getriebenes Projekt, das auch nur innerhalb von kleinen Communities eingesetzt werden soll und sehr günstiges anonymes Zahlen ermöglicht.
Kommen wir noch mal zu euren „parallelen Räumen“…
Smuggler: Wir nennen sie TAZ, eine temporäre autonome Zone. Deswegen verwenden wir dafür hauptsächlich bewegliche Container.
Wie autark glaubt ihr damit werden zu können?
Smuggler: Wir haben kein gutes Wort für dieses Konzept, aber ich nenne es gerne semiautark. Du möchtest in der Lage sein, die notwendigsten Funktionen selber umzusetzen und für den Luxus interagierst du mit deiner Umgebung. Das bedeutet, dass wir Sanitäranlagen bauen, die für einige Tage oder Wochen autark funktionieren können, aber dann, wenn man sich mit dem Rest der Infrastruktur vernetzt, effizienter weiter funktionieren. Das Gleiche ist mit Strom: Wir haben Solarzellen, Generatoren etc., aber schließen uns für die Luxusfunktionen normal ans Stromnetz an. Bei der Kommunikation ist es genau das Gleiche: Wir haben ein dropbox-basierendes Sneaker-Network, das aber nicht in Realtime und nicht über große Distanzen funktioniert, aber wenn wir uns an den Rest des Internets anschließen, gibt es einen weichen Übergang dahin.
Auf der einen Seite möchten wir also in der Lage sein, Grundfunktionen selber umzusetzen, auch wenn das von einer Umgebung nicht akzeptiert wird. Und auf der anderen Seite, wollen wir mit einer Umgebung interagieren können, wenn man willkommen ist, weil dann alles natürlich leichter wird. Das ist das Konzept dahinter.
Das hat ein bisschen was von einem Pfadfinderzeltlager und das meine ich gar nicht spöttisch…
Smuggler: Es ist natürlich einerseits Do-it-yourself, andererseits aber auch echt eine Art spiritueller Trip für die meisten Teilnehmer. Weil wir total daran gewöhnt sind, dass alles einfach existiert für uns und dass wir alles, was wir nicht haben, kaufen. Und wir verstehen eigentlich gar nicht, welche Komplexitäten dahinter sind und welche Skills wir dafür brauchen. Deshalb ist das Bauen dieses Ortes eigentlich genauso wichtig wie der Ort selber, weil er uns das Bewusstsein dafür schafft, was eigentlich um uns herum alles so existiert, und uns hilft, es mehr zu wertschätzen, aber auch die Abhängigkeiten zu verlieren. Wenn du weißt, wie man Strom selbst herstellt, ist das auch ein befreiender Moment.
Ich stelle gerade in meinem persönlichen Umfeld fest, dass der Schutz und die Wertschätzung der Privatsphäre an Bedeutung gewinnt. Viele haben die sozialen Medien wie Twitter, in denen es kaum eine vernünftige Diskussion mehr gibt, sondern hauptsächlich ungezügelte Emotionen, auch einfach satt. Was würdest du jemandem raten, der an Sachen wie Datenschutz und Privacy bewusster rangehen möchte?
Smuggler: Ich würde jedem raten, das Internet einmal mit Anonymisierungstechnologien auszuprobieren. TOR, VPN, egal was, einfach mal des Gefühls wegen. Das ist eine ganz wichtige Sache. Außerdem: Bewusster mit Bargeld bezahlen. Bitcoin ist schön und gut, aber bezahl mal bewusst mit Cash – was in Deutschland ja noch eher der Fall ist, aber in vielen anderen Ländern eben schon ein Problem. Und dann sollte man tatsächlich mal mit Leuten in anonymen Communities reden, ob das jetzt IRC-Server sind oder irgendwelche Foren im Darknet. Völlig egal. Aber mal weg von Profilbildern auf Twitter und „Ich weiß, mit wem ich da rede, und ich habe eh nur 140 Zeichen“. Lieber mal in die langsameren und direkteren Communities reingehen, wo tatsächlich miteinander gesprochen wird und wo Anonymität der Default ist.
Das sollte man mal ausprobieren, weil ich glaube, dass unsere Lösungen für die Zukunft Erfahrungen sind, nicht die Technologien selber, sondern die Erfahrung, dass wir Dinge selber machen können und dass es eine viel größere Welt da draußen gibt, als wir häufig erleben und zu sehen glauben.
Dann lass uns zuletzt mal einen Blick in die Glaskugel werfen. Wo geht unser aller Reise hin?
Smuggler: Schwierig. Ich glaube, dass wir momentan sehr viele Entscheidungen treffen und Systeme anwenden, von denen wir nicht die geringste Ahnung haben, was sie kurzfristig bedeuten, geschweige denn langfristig. Und ich glaube, dass wir in einer Welt leben, wo sich die weit überwiegende Mehrheit, vielleicht 9999 von 10000, nicht mal darüber bewusst ist, was wir schon längst gemacht haben. In gewisser Weise befinden wir uns in einer Phase, die sehr nahe an eine Singularität, an eine Art „schwarzes Loch“ kommt, wo wir eigentlich überhaupt nicht nach vorne kucken können und der Ereignishorizont ständig mit uns mit wandert.
Und viele mögliche Pfade, die vor uns liegen, sind natürlich auch alles andere als schön. Wir übertünchen das gerne mit einem bisschen Zukunftsoptimismus und haben dann halt noch ein bisschen mehr Technologie und noch ein bisschen mehr Miteinanderreden und dann wird schon alles gut. Ich glaube aber, so funktioniert das nicht. Die Zukunft ist ganz stark gekennzeichnet durch eine viel größere technologische Amplifikation, was massive Auswirkungen darauf hat, wie Unternehmen, Gesellschaften und Staaten funktionieren.
Ich glaube, dass viele Systeme, an die wir heute gewöhnt sind, in Zukunft nicht mehr so funktionieren werden, wie sie das für die letzten zwei bis drei Generationen getan haben. Ich glaube, dass die Interaktion zwischen Staaten und Unternehmen viel extremer wird, sowohl was Kooperation wie auch feindliche Auseinandersetzungen angeht. Ich glaube, dass Leute Autonomie verlieren, dadurch dass sie abhängig werden von Technologien, die sie nicht verstehen, und abhängig werden von Systemen, die sie nicht beeinflussen können. Und ich glaube, dass sich die Leute das nur bedingt gefallen lassen werden und Revolution in der Luft liegt. Das hört sich jetzt vielleicht doof an, aber immer wenn die Zukunft schwer vorhersehbar ist und wenn wir aufhören, an die Systeme zu glauben, in denen wir leben, gibt es Menschen, die einfach versuchen, etwas dagegen zu machen – und das ist dann selten konstruktiv.
Wir müssen uns daran gewöhnen, dass mehr Chaos existiert und dass es viele Leute gibt, die unsere Systeme in Frage stellen, manchmal ohne eine Alternative zu haben. Das kann man momentan zum Beispiel ganz gut bei der Extinction Rebellion sehen, ein bloßes Aufstehen gegenüber dem, was es gibt, aus einer vagen Angst vor dem, was kommt.
Ein wesentliches Mittel gegen das Chaos wird meiner Meinung nach sein, nicht offensiv gegen das System vorzugehen, sondern konstruktiv Alternativen zu bauen. Das wird der Schlüssel dazu sein, wie lebenswert die Zukunft ist. Ich glaube schon, dass wir da wahnsinnig viel Potenzial für neue, gute Lösungen haben. Die müssen sich allerdings davon verabschieden, absolute Lösungen zu sein. Universalismus und Absolutismus des Denkens sind Sachen, die wir dringend hinter uns lassen müssen, weil sonst die technologische Amplifikation das Risiko gigantisch macht, dass wir uns beenden.
Smuggler ist Speaker auf der 1E9-Konferenz am 16.07.2020 in München (Tickets hier!). Zusammen mit Frank Braun betreibt er derzeit den Podcast Cypherpunk Bitstream.
Aufmacherbild: Smuggler, Montage: Michael Förtsch