Ein Interview von Wolfgang Kerler
Daniel Schimmelpfennig, bei 1E9 als @anon69048101 aktiv, hat eine recht exotische Berufsbezeichnung. Er nennt sich „Agent of Transdisciplinary Transformation and Social Transmutation“. Warum er das tut, werdet ihr nach dem Interview besser nachvollziehen können. Daniel will neues Zukunftsdenken in die Welt bringen – und dazu beitragen, dass positive Visionen auch Realität werden. Er berät Firmen und Institutionen, er gestaltet Workshops und Keynotes – und er hat uns ein Interview gegeben.
Darin erfahrt ihr, wie man seinen Zukunftsmuskel in Form bringen kann, warum Daniel Hoffnung nicht mag, eine gute Zukunft aber trotzdem für möglich hält und warum wir trotz des Hypes um KI unsere, die menschliche Intelligenz auf keinen Fall vernachlässigen sollten.
1E9: Künstliche Intelligenz wird alles verändern. Blockchain wird alles verändern. Elektroautos werden alles verändern. So etwas hören wir zurzeit ständig. Das Ganze wird garniert mit Meldungen über den Klimawandel, das Artensterben und das Bevölkerungswachstum. Wie soll man da keine Angst vor der Zukunft haben?
Daniel Schimmelpfennig: Das beste Zitat zum Thema Angst stammt meiner Meinung nach immer noch von H.P. Lovecraft, dem Pionier der Horror-Fiction. Der sagte: „Das älteste und stärkste Gefühl ist Angst, die älteste und stärkste Form der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten.“ Daraus ergibt sich natürlich für unsere Zeit, in der uns die Ungewissheit, die Unbekannte Zukunft überwältigt, eine echt abenteuerliche Geschichte.
Wir erleben globale Veränderungen, die sich in ihrer Dynamik ständig verändern, also Changing Change. Dazu kommen exponentielle Technologien, die durch ihre Entwicklung unsere Kapazitäten völlig überwältigen. Wir können weder die Masse an technologischem Fortschritt antizipieren, noch in der Abschätzung ihrer Folgen für die Gesellschaft die tatsächlichen Konsequenzen begreifen. Wir müssen also die Fähigkeit entwickeln, mit diesen Ungewissheiten klarzukommen und diese globalen, komplexen Zusammenhänge zumindest einigermaßen zu überblicken, um adäquate Antworten darauf zu finden. Die Antworten selbst müssen dann auch noch in ihrer Qualität eine völlig neue Dimensionalität eingehaucht bekommen. Das ist eine Mammutaufgabe.
Idealerweise würden uns dabei Künstliche Intelligenzen helfen. Die sind leider problematisch, weil wir dort gerade ein Arms Race erleben, ein Wettrüsten basierend auf altem Denken: Du verlierst und so kann ich gewinnen. Das erhöht die Selbstzerstörungskapazität der Menschen um ein Vielfaches.
Jetzt habe ich noch mehr Angst vor der Zukunft. Du sagst aber doch selbst, dass wir auf dieser „Tsunami der Veränderungen und der Ungewissheit“ surfen können. Dass wir die Zukunft immer noch selbst gestalten können. Wie sollen wir das angehen?
Daniel: Das Bild vom Tsunami-Surfen stammt von James Dator, dem Paten der Zukunftsforschung. Er spielt bewusst mit dieser Metapher, um uns daran zu erinnern, in welchen Dimensionen wir nicht nur denken, sondern auch leben müssen. Anders gesagt, wir müssen uns vor allem auch das utopische Träumen bewahren. Die Utopie ist der Ort in der Zukunft, der per Definition nicht zu erreichen ist, weil er zu idealistisch skizziert wird. Aber dieses utopische Träumen dient uns zumindest als Kompass und kann uns dabei helfen, die vielen Hindernisse und die superkomplexen Probleme zu lösen.
Wenn wir es uns erhalten, oder es uns wieder beibringen, ein bisschen wie Kinder spielerisch an die Probleme heranzugehen – trotz aller Strapazen und der verwirrenden Realität –, dann glaube ich, dass wir gute Zukunftsbilder kreieren können, die uns motivieren und inspirieren und uns durch dieses Jahrhundert führen können.
Daniel Schimmelpfennig, hier als @anon69048101, ist studierter Futurist, sieht sich heute aber eher als ein ‚Agent of Transdisciplinary Transformation‘. Bild: privat
Utopien sind schön und gut, dürften aber von vielen Skeptikern als Träumerei abgetan werden. Gibt es keine Möglichkeit, halbwegs realistische Utopien zu entwickeln?
Daniel: Es ist vielleicht auch ein deutsches Phänomen, weil viele hier natürlich mit dem Mantra von Helmut Schmidt aufgewachsen sind: „Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen.“ Aber natürlich kann man Zukunftsbilder differenziert betrachten und darüber diskutieren, wie hoch ihr Wahrscheinlichkeitsgehalt ist. Wir reden im englischen Kontext auch von den P’s: von den possible, probable, plausible, preferable, prosperous und auch von den peculiar oder preposterous futures, als Gedankenspiele.
Wir müssen auf keinen Fall immer in purem Ernst diese Geschichten angehen. Es gibt auch das spekulative Design, bei dem wir uns in einen träumerischen Zustand versetzen oder in eine konstruktive Paranoia, in eine begründete Angst. Das Träumen gilt der Wiederverzauberung unserer Welt, die konstruktive Paranoia soll in proaktives Handeln übertragen werden. Also kann von fabelhafter Inspiration bis hin zu motivierender, dringlicher Gegenmaßnahme alles dabei sein.
Generell ist es einfach wichtig, dass wir so wie wir im Geschichtsunterricht über verschiedene Perspektiven des Vergangenen reden, in der handlungsorientierten Zukunftsforschung über verschiedene Perspektiven des Zukünftigen reden. Der Unterschied ist der: Die Zukünfte können wir noch beeinflussen. Wir alle haben Zugriff auf die Zukunftsbilder. Wir müssen nur den Muskel des Zukunftsbewusstseins trainieren – und zwar im Hier und Jetzt.
Wie trainierst du denn deinen Zukunftsmuskel?
Daniel: Definitiv mit Science Fiction. Das ist einfach ein Genre, das sehr reich an Bildern ist, insbesondere Subgenres, die kategorisiert sind als Solarpunk, Steampunk, Biopunk, Cyberpunk, Economic Fiction, Social Fiction oder, was gerade sehr aktuell ist, als New Weird. Das hilft auf jeden Fall.
Aus dem Bereich der Zukunftsforschung gibt es viele Werkzeuge, Formate, und Methoden. Ich selbst nutze bestehende Mittel und kreiere darüber hinaus auch neue Formate für meine Zukunftsworkshops. In denen kann man mit auf Zeitreisen gehen, Zukunftsbilder spielerisch erleben und experimentell erfahren. Sowas erweitert den Zukunftshorizont.
Außerdem setze ich vermehrt auf Transdiziplinarität, die wir in der Schule leider nicht gelernt haben. Anstatt singulär in einer Disziplin zu arbeiten, sollten wir multidisziplinär, interdisziplinär und nun eben transdisziplinär arbeiten, sprich: Wir können die verschiedenen Disziplinen, Themen, und Genres vermengen und daraus Neues schaffen. Everything is a Remix! Oder wie Einstein gesagt haben soll: „Das Geheimnis der Kreativität ist es, seine Quellen zu verstecken wissen.“
Was auch hilft, ist sich in vielen Situation ganz spielerisch „Was wäre, wenn?“ vorzustellen. Sei es im beruflichen, privaten oder kreativen Bereich. Das ist eine Grundformel, mit der man sehr gut arbeiten kann. Das Trainieren unseres Zukunftsbewusstseins ist eine unglaubliche Bereicherung für das eigene Leben und für die Gesellschaft.
Dein Zukunftsmuskel ist bestimmt gut in Form. Dann kannst du uns doch ein paar Einblicke in konkrete Zukunftsvisionen geben, die du erstrebenswert findest.
Daniel: Zum einen finde ich es wichtig, dass wir in einem partizipatorischen Prozess ein neues Betriebssystem für unsere Gesellschaft entwickeln – eines, das nicht die Erde und damit unsere Lebensgrundlage zerstört. Anders als im jetzigen Kapitalismus müssen wir bessere Formen der Kooperation und des Nicht-Planeten-Zerstörens belohnen. Das ist keineswegs eine top-down oder bottom-up Geschichte, sondern diese Umsetzung muss von uns allen kommen.
Für unser direktes Umfeld stelle ich mir schon vor, dass wir es schaffen, Forest Cities zu kreieren, in denen angenehme Übergänge von nachhaltigen Lebensräumen hin zu authentischer Natur geschaffen werden. Die Natur ist sehr reich an faszinierenden Designvorschlägen, die wir vermehrt integrieren sollten, Biomimik statt Naturzerstörung.
Was meinst du damit?
Daniel: Eine Stadt ohne Autos, zum Beispiel, würde uns unglaublich viel Spielraum bieten, Flächen radikal neu zu denken. Wir könnten sie auf der einen Seite mit Urban Gardening und Vertical Gardening begrünen, auf der anderen Seite könnten wir sie als Begegnungsräume deklarieren und als Spielzonen mit Augmented Reality bereichern.
Generell finde ich es sehr wichtig, dass wir überhaupt Begegnungsräume schaffen. Safe Flow Spaces . Räumlichkeiten, in denen wir uns wieder begegnen und in einer Gruppendynamik im zwischenmenschlichen miteinander auch wieder in Kontakt treten, auch in körperlichen Kontakt treten, Ideen gemeinsam generieren und Spaß an der gemeinsamen Zukunftsrealisierung haben. Ich stelle mir das als Version eines experimentellen Theaters vor, in dem wir uns wieder gegenseitig befähigen und unterstützen – und das aus dieser Erfahrbarkeit neue Schöpfungskräfte entstehen.
Wir vernachlässigen eindeutig die menschliche Intelligenz.
Daniel Schimmelpfennig
Wir reden immer von Künstlicher Intelligenz, die als technologische Entwicklung offensichtlich erstrebenswert ist und wohl auch kommen wird. Aber wir vernachlässigen eindeutig die menschliche Intelligenz und den Reichtum an Emotionen. Wenn wir diese Komponenten lediglich outsourcen, um dann Smartphones, Smart Homes und Smart Cities zu haben, was soll uns dann definieren?
Es muss uns gelingen, diese Lernräume zu erschaffen, in denen wir uns auch evolutionär weiterentwickeln können. Das ist auch aus neurowissenschaftlicher Sicht faszinierend. Wir haben inzwischen die Fähigkeit, unser Gehirn zu verstehen und somit auch die Fähigkeit unser Gehirn zu designen – und mit dem Gehirn, das wir weiter designen, verstehen wir dann auch wieder unser Gehirn besser. Das ist eine Feedbackschleife, die nicht nur unglaublich faszinierend ist, sondern eindeutig auf die Evolution unserer Zivilisation und Kultur hinweist.
Da sind spannende Ideen dabei. Aber es ist ja nicht so, dass es für viele Bereiche nicht schon gute Vorschläge gäbe. Sie werden nur nicht umgesetzt. Was könnte man dagegen tun?
Daniel: Ich denke, wir sind alle in gewissen Komfortzonen gefangen, in denen wir uns nicht trauen, den Mut zu entwickeln, um daraus wieder herauszuschreiten und das, von dem wir wissen, dass wir es machen sollten, wirklich durchzusetzen und umzusetzen.
Da müssen wir uns einfach eingestehen, dass uns die Kids gerade vormachen, wie es geht, wenn sie sich freitags auf die Straße stellen und einfach für die Zukunft tanzen. Wir müssen diese kritische Masse an Leuten erreichen, die sagen: so nicht mehr! Das wäre in unserem Interesse, da ist die Statistik ziemlich eindeutig. Die Leute sind depressiv, sie haben Burnout, sie haben keinen Bock mehr, sie werden sarkastisch und zynisch und spielen sich gegenseitig aus im Teile-und-Hersche-Game. Das ist eine Self Defeating Strategy . Damit tut sich keiner einen Gefallen.
Wir müssen eine Selbstempathie entwickeln: Wie viel bin ich es mir selbst überhaupt wert? Wie viel ist es mir wert, für eine bessere Zukunft einzustehen? Es geht ja jetzt wirklich ans Eingemachte – da brauchen wir auf jeden Fall eine Bewegung, die sich aus einer intrinsischen Motivation heraus entwickelt. Wir müssen halt Bock haben auf bessere Zukünfte und dann auch wirklich was dafür tun. Fast alle Probleme, die existieren, sind mehr oder weniger von uns geschaffen, wenn man mal von möglichen Meteoriten-Einschlägen absieht. Also ist natürlich auch die Möglichkeit in unseren eigenen Händen, all diese Probleme in den Griff zu bekommen.
Was genau der Trick dann letztendlich ist, weiß ich ehrlich gesagt auch nicht: Ob es nochmal den Film Matrix gucken ist oder eine psychedelische Erfahrung sein muss. Aber irgendwie scheinen es ja die Kids freitags gut auf die Reihe zu bekommen. Und das müssen wir nun auch in die Vorstände, in die Wirtschaft, in die Politik, als Kulturbewegung in die gesamte Gesellschaft tragen.
Wieso sprichst du eigentlich immer von Zukünften? Ich dachte, es gibt nur die eine Zukunft?
Daniel: Es gibt mit Sicherheit auch schon die Gegenwärte. Ich glaube, meine Gegenwart sieht ganz anders aus als die von jemandem, der in einem Flüchtlingscamp leben muss. Es gibt schon jetzt viele verschiedenen Versionen von subjektiv wahrgenommenen Realitäten mit wirklich einschneidenden Konsequenzen für die eigenen Lebensbedingungen.
Genauso ist es auch mit der Zukunft. Da gibt es viele Bilder, die sich teilweise ergänzen, teilweise ineinander übergehen, teilweise gar nichts miteinander zu tun haben. Diese Pluralität müssen wir auch lernen, weil sie signalisiert, dass die Zukunft offen ist. Sie ist ein bespielbarer und formbarer Raum in der Zeit, die noch nicht eingetreten ist, aber eventuell kommen könnte.
Du wünscht dir, dass wir alle unser Zukunftsdenken trainieren, dass wir uns dann transdisziplinär in neuen Räumen neue Zukunftsbilder erschließen, dass wir die Masse mobilisieren, um diese Bilder dann auch umzusetzen, dass wir alle gemeinsam auf dem Tsunami der Unsicherheit surfen und dabei die globalen Probleme lösen. Das klingt fast unerreichbar. Gab es je eine Phase, in der eine Grundstimmung herrschte, die solche Umbrüche ermöglichte?
Daniel: Ich habe letztens die interessante Aussage gelesen, dass die Epoche der Aufklärung nur erfunden werden konnte, weil man vorher das düstere Mittelalter als Narrativ bestimmt hat. Sprich: Wir müssen die globale Situation, die wir jetzt erleben, schon so beschreiben, wie es Greta Thunberg gerade vielleicht macht: Es ist eine Klimakrise und es ist eine Umweltkrise und es ist eine gesellschaftliche Krise und es ist eine kulturelle Krise.
Ich bin kein Fan von Hoffnung.
Daniel Schimmelpfennig
Wir müssen die Lage negativ beurteilen und nicht sagen: Oh, wir sind die Besten! So gut wie wir leben, hat noch nie jemand gelebt! Das stimmt zwar einerseits. Aber wir müssen uns andererseits ehrlicherweise eingestehen, dass wir momentan echt mega am Abfucken sind – und dann müssen wir als Antwort darauf positive Bilder skizzieren, die vor allem zu alternativen, transformativen, und neuartigen Handlungen führen.
Wir müssen unsere Zeit als Mittelalter abstempeln, damit wir eine neue Aufklärung erleben?
Daniel: Genau, auch wenn ich eigentlich ungern das Wort müssen benutze. Aber Müssen unterstreicht die Dringlichkeit. In gewisser Weise existiert diese negative Konnotation ja schon bereits. James Bridle schreibt über The New Dark Age . Wir sprechen über den Ökozid, oder das Anthropozän und Elizabeth Kolbert schreibt über Das sechste Sterben . Jetzt brauchen wir die Ideen, die Narrative, die Zukunftsbilder, die Zukunftsvisionen, die Pioniere, die sinnstiftende Solidarität, die uns wieder voranbringen. Aber es ist bereits Bewegung im System, wenn man auf Initiativen schaut, die die Politik endlich startet und auf Non-Profit Organisationen und Grass-Roots-Bewegungen in der Gesellschaft. Ein Beispiel dafür ist die Extinction Rebellion.
Es besteht also noch Hoffnung?
Daniel: Ich bin kein Fan von Hoffnung, da Hoffnung irgendwie auch immer zu einer Passivität verführt. Sagen wir, es besteht noch immer eine Menge Spielraum. Den sollten wir jetzt auch nutzen.
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