Alles wird gut? Oder totaler Weltuntergang? Dazwischen muss es doch irgendetwas geben – und zwar die Realität voller Widersprüche und Ambiguitäten. Für unser Nachdenken über Zukünfte heißt das auch, dass uns weder Utopien noch Dystopien wirklich weiterbringen. Stattdessen sollten wir – und das ist entscheidend – miteinander komplexe, mysteriöse, zweifelhafte und phantasmagorische Zukünfte erdenken und bereisen. Und dann erschaffen.
Von Daniel Schimmelpfennig
Düstere Zukünfte in leuchtend grellen Farben. Synthesizer-Sounds und die Koaleszenz von mikrokosmischen Klangwelten zur synaptischen, zerebralen Befeuerung. Ein Interregnum von Paradiesvögeln. Die Welt ist ein Remix. Wir spielen mit den Regeln und lassen Zukünfte in der Hypersensibilität der Beziehungen entstehen. Alle mit der sanftmütigen Intention, das Neue, das Andersartige gemeinsam entstehen zu lassen…
Eigentlich finde ich die Kategorisierung in dystopische und utopische Zukunftsszenarien relativ einfältig. Die Connaisseurs der Zukunftsgeschichten wissen schließlich, dass des einen Utopie auch immer des anderen Dystopie sein kann. Wenn wir aber nicht auf die Vokabel der Utopie verzichten wollen, dann stimmen wir doch wenigsten der Definition von Kim Stanley Robinson zu: Utopia ist demnach das Ausweichen vor dem Massensterben. Zukunftsbilder, die einfach „gude Laune“ verbreiten, sind schließlich etwas platt. Widersprüche, Paradoxien und Ambiguitäten kommen da zu kurz.
Ein Utopist zu sein, ist wie ein Kampf gegen Windmühlen. Man kann niemals gewinnen, aber man wird genau deswegen auch niemals aufgeben. Am Idealismus der Utopie ist erst einmal nichts auszusetzen, jedoch an der Undifferenziertheit, an der Weltfremdheit und der Impotenz, die damit einhergeht. Der Psychologie der Massen samt der Trillionen-Euro-Werbeindustrie des „Weiter so“, die uns in den Genuss gedankenloser Momente verleitet, kann man aber kein simplifiziertes Bild entgegensetzen.
Die Komplexität des Faktischen stand schon immer in krassem Gegensatz zu Hollywoods Sucht nach einem Happy End. Die Dardenne-Brüder sind geniale französische Regisseure und weisen daher mit Bedacht darauf hin, dass ihre gesellschaftskritischen Filme wie Deux jours, une nuit mit Marion Cotillard kein Gerichtssaal sind, in dem das Gute und das Böse klar definiert werden. Übernehmen wir diesen Gedanken und wenden ihn auf Science-Fiction und jegliche Form der antizipatorischen Deliberationen an, können auch wir ein Spektrum an Zukünften aufzeigen, welches nicht in übersimplifiziertes Gut und Böse vorsortiert. Ich persönlich genieße den Gedanken, düstere Zukünfte in leuchtend grellen Farben spielerisch zu bereisen.
Ehrfurcht vor dem Mysteriösen
Überhaupt ist mir die literaturtheoretische sogenannte „negative Fähigkeit“ – also der Wille, das, was mysteriös und zweifelhaft erscheint, auch mysteriös und zweifelhaft zu belassen – eine sehr lieb gewonnene und vieles entscheidende Qualität. Das Erlernen im Zustand der Unsicherheiten, der Mysterien und der Zweifel zu verweilen, ohne gleich gereizt nach Tatsachen und Gründen zu suchen, so wie John Keats die negative Fähigkeit beschrieb, ermöglicht uns ein kreatives Schaffen, das losgelöst ist von den Erwartungshaltungen, die einen üblicherweise lähmen und limitieren.
Das Leben an sich handelt doch davon, sich den großen Fragen zu stellen, ohne je absolute Antworten zu erhalten. Wissenschaften werden im Ursprung schon immer vom Unbekannten und Ungewissen angetrieben und die schönsten Erfahrungen, die wir in unserem Leben machen können, sind durchaus Momente der Ehrfurcht (auf engl. „awe“) vor dem Mysteriösen und Mystischen dieses Universums, der Natur und dem intimen Moment.
Doch wo sind dann die Wahrheiten, auf die wir uns verlassen können? Nur im Miteinander. Da jeder einzelne von uns nur über gefährliches Halbwissen und Schubladendenken verfügt, ist ein dialektischer Austausch, bei dem wir unsere Sichtweise der Untersuchung Anderer aussetzen, essenziell. Wahrheitsfindung und Wahrheitsgehalt sind demnach ein lebendiger Akt im Miteinander.
Die Wiederverzauberung der Welt
Trotzdem können wir die Zukünfte nicht wissen, weil sie nun einmal nicht existieren. Diese Aussage ist faktisch nicht falsch, wird aber leider viel zu oft missbraucht und gegen den emanzipatorischen Anspruch, positive Veränderungen bewirken zu wollen, vorgebracht. Dabei können wir die Zukünfte, selbst wenn sie noch nicht existieren, im pluralistischen Sinne mental bereisen – und bereits jetzt damit beginnen, die dadurch gewonnenen Ideen und Eindrücke im Hier und Jetzt zu etablieren. Dieser Prozess wird begleitet von einer selbstkritischen Haltung gegenüber unserer eigenen Rolle und unserer Systemdynamik.
Denn wir halten nach wie vor den Selbstzerstörungsmodus unserer zivilisatorischen Mythen und Annahmen aufrecht. Tödliche Abgase auf unseren Straßen. Von Chemie verseuchte Böden verwandeln sich zu Marsstaub. Die Natur krepiert vor unseren Augen. Und nach gewissenhaften Lockdown-Phasen sind alle schnell wieder im Ameisenmodus des alten Industriezeitalters. Alle machen mit, um doch noch ein paar Privilegien zu ergattern. Und währenddessen fordert die AfD das allgemeine Recht auf Waffenbesitz.
Wenn wir die Richtung unserer Welt wirklich ändern wollen, reicht es nicht, die nächste Geschäftsidee zu pitchen. Wir brauchen eine tiefgründige „Wiederverzauberung“ der Welt, wie sie der im vergangenen Jahr verstorbene französische Philosoph Bernard Stiegler fordert. Es geht also um eine grundlegende und alles entscheidende Transzendenz, eine Bewusstwerdung lebensrelevanter Systeme und um die Notwendigkeit eines Einfühlvermögens im Miteinander, das sich jeweils lokal und global an einem gesunden, nachhaltigen und würdigen Leben orientieren sollte.
Unsterbliche Ignoranz, unerschöpfliche Gleichgültigkeit und hyperbolische Gewissheit müssen in einer besseren Zukunft obsolet werden. Auch wenn eine Verallgemeinerung von Generationen nicht immer hilfreich scheint: Mir bereitet sowohl der pure Hedonismus älterer Generationen als auch der absolutistische Moralismus jüngerer Generationen Unbehagen. Savoir-vivre , verstehen, zu leben, ist doch eher in der Synthese zu finden, statt in der falschen Dichotomie. Dummerweise fördern gerade Online-Foren die ideologische Segregation und politische Feindschaften.
Wie Alice hinter den Spiegel schreiten
Wie aber bekommen wir nun den Übergang hin zu Systemen der Lebensvitalität und des Miteinanders? Wenn wir uns wie so oft an den Weisheiten und Erkenntnissen der alten Griechen orientieren, müssen wir leider feststellen, dass es schwierig werden könnte. Prometheus und Epimetheus waren zwei Brüder, Titanen, die symbolträchtig für Foresight und Hindsight standen, Vorausschau und Rückschau. Epimetheus wurde als der Trottel der beiden Brüder beschrieben. Man kann spekulieren, vielleicht weil er in der Vergangenheit hängen geblieben ist. Wenn sich ein Kulturkreis voll und ganz am Vergangenen orientiert, geht das kreative Element verloren und das Denken stagniert. So interpretierte es Carl Jung.
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Jetzt Mitglied werden!Prometheus hingegen wurde angeklagt. Denn er wagte es, der Menschheit die zivilisierende Kunst und das Feuer als soziotechnologische Eigenschaften zu überreichen. Er vertraute der Menschheit die Fähigkeit an, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen, und beging damit das größtmögliche Verbrechen. Viele historische Figuren wurden seitdem dafür bestraft, Menschen befähigen zu wollen. Wir sehen, nicht die Despoten und orthodoxen Weiter-So-Ökonomen werden verurteilt, sondern die Befreier.
Der Schritt hinter den Spiegel, wie ihn Alice im Kinderbuch von Lewis Carroll für sich entdeckt, ist der alles entscheidende Akt, um in einer anderen Zukunft anzukommen. Was ist euer Portal in eine Parallelwelt, in der wir gemeinsam das Leben anders zur Entfaltung bringen können als im jetzigen Format einer digitalen Abwärtsspirale samt analogen Massensterbens durch Ökozid? Es ist die Alles-Leben-dieser-Erde Frage, die nur ihr für euch selbst beantworten könnt.
- Brauchen wir eine „neue radikale Aufklärung“?
- „Wir müssen den Muskel des Zukunftsbewusstseins trainieren!“
- So können wir die Ungewissheit möglicher Zukünfte ertragen und die Komplexität der Welt zelebrieren
- Wir können unsere Welt nur retten, wenn wir mehr Risiko und Experimente wagen
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Titelbild: Getty Images