Wir leben in der Anti-Aufklärung, postuliert die katalanische Philosophin Marina Garcés. Informationen überfluten uns. Die Gesellschaft ist in abgeschlossenen Blasen zersplittert und Wissenschaften beschäftigen sich nicht-interdisziplinär mit sich selbst. Die Menschen unterwerfen sich daher selbst den Lösungsversprechen des Nekrokapitalismus, anstatt gemeinsam zu denken und im Jetzt lebendig zu sein. Der Zukunftsforscher Daniel Schimmelpfennig meint: Marina Garcés Buch Neue radikale Aufklärung erfasst genau das, was gerade schiefläuft.
Eine Buchbesprechung von Daniel Schimmelpfennig
Das Buch Neue radikale Aufklärung von Marina Garcés ist ein Plädoyer, das seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2017 noch wichtiger und relevanter wurde. Das katalanische Werk wurde von Charlotte Frei übersetzt und brilliert durch eine klare und beeindruckende Sprache. Für mich funktioniert es in perfekter Ergänzung zu Kapitalistischer Realismus ohne Alternative? von Mark Fisher und Die Wurzeln der Welt von Emanuele Coccia. Vielleicht müssten diese Werke gemeinsam gedacht werden, als ternäres Rezept.
Bevor wir uns den Inhalten von Neue radikale Aufklärung widmen, gibt es noch zu erwähnen, dass ich hier keine Rezension im traditionellen Sinne schreiben werde. Das Buch ist aus meiner Sicht perfekt und ich empfehle jedem, es sich in einer ruhigen Minute mal reinzuziehen. Alle Argumente sind messerscharf und brillant getaktet. In diesem Text versuche ich, ein paar von Marina Garcés Gedanken aufzugreifen und in Kombination mit meiner Zukünftebrille vorsichtig – und manchmal auch unvorsichtig – weiterzudenken.
Marina Garcés beginnt ihr Vorwort damit, dass die Welt von heute radikal anti-aufklärerisch eingestellt sei. Was meint sie damit? Sie beschreibt unsere Zeit als einen „Krieg um die Ideen und die Vorstellungen, die bis heute die persönlichen und kollektiven Wünsche überall auf diesem Planeten leiten”. Während die Aufklärung eine Aufgabe war, ist die Anti-Aufklärung nun ein komplexer, dynamischer Prozess, mit vielen, mutativen Gesichtern, der auf der freiwilligen Leichtgläubigkeit des Einzelnen basiert. Garcés fordert einen Kampf gegen die Leichtgläubigkeit, die uns Knechtschaft und Unterdrückung akzeptieren lässt, und eine kritische Auseinandersetzung mit dem, was wir als Vernunft und Wissenschaft ansehen. Heraus aus der neuen „selbstverschuldeten Unmündigkeit“.
Sie bringt die Terminologie des Nekrokapitalismus ein. Damit erinnert sie an Erich Fromm, der bereits von der pathologischen Liebe zum Toten sprach und unsere westliche Welt als nekrophil bezeichnete. Und es stimmt: Statt mehr über hochkomplexe organische Systeme wie Myzel und Rhizome zu lernen, um diese Erkenntnisse dann in unser Systemdesign zu übersetzen, versiegeln wir die Bodenflächen. Statt Biodiversität als Building Block in unsere Landschaftsarchitektur zu integrieren, bevorzugen wir Monokulturen und vernachlässigen die Möglichkeit, organische Materialien intelligent zu nutzen. Statt Digitalisierung als Schlüssel zu begreifen, um Biologie zu dechiffrieren, und darin einen gemeinwohlorientierten Ansatz für gesamtgesellschaftliche Prozesse zu erkennen, setzen wir auf Sterilität, Isolation und Monomanien.
Wir reden immerzu von irgendeiner ominösen Künstlichen Intelligenz. Marina Garcés fragt aber berechtigterweise, wo bleibt die Intelligenz als reflexive und autonome Kraft?
Die unerschöpfliche Gegenwart des Einzelnen
Der Mensch scheint in der Ausbreitung einer panoptischen Megamaschine der Überwachungs-Konzernokratie nach Lewis Mumford zur Nutzlosigkeit und Hilflosigkeit herangezogen zu werden. Die Autorin präzisiert, während die Moderne noch ein Zukunftsversprechen an Alle verkündete, handelte die Postmoderne von der Anpreisung der unerschöpflichen Gegenwart des Einzelnen. Nun jedoch, in der postumen Zeit, wie sie unsere Epoche bezeichnet, gehe es nur noch ums Überleben. Jeder gegen jeden – in einer lediglich verbleibenden Zeit.
Die temporale Logik, die sie anspricht, ist wesentlich in ihrer Kritik. Denn in der Tat, wir alle wissen bereits, die Welt, die wir geschaffen haben, ist mehr als nur suboptimal. Wir wissen auch, wir sollten diese Welt auf keinen Fall so hinterlassen, wie wir sie nun vorfinden. Doch wir sollten nicht den fatalen Versuch fortsetzen, uns diese Welt zum Untertanen machen zu wollen. Stattdessen geht es um eine Lernkurve, auf der wir beginnen, uns vollständig selbstreflektierend von diesen alles durchdringenden pathologischen Tendenzen – Command and Conquer – zu emanzipieren und zu befreien. Das Management-Mindset mit vorgefertigten Antworten auf Alles hat ausgedient.
Deshalb stellt Marina Garcés die Frage: „Was wäre, wenn wir es wagten, die Beziehung zwischen Wissen und Emanzipation neu zu denken?“ Nicht zu gefallen scheint ihr „eine smarte Welt für ihre unheilbar dummen Bewohner”. Die „smarte Diktatur“, von der auch Harald Welzer sprach, scheint aber mit der unglaublichen Annehmlichkeit verbunden, die Welt für uns zu retten. Alles, was wir in ihr machen müssen, ist „Ja“ sagen zum neuesten Trend, zu den neuesten vermeintlichen Lösungen und einfach nur mitmachen, oder?
Nein, sagt Marina Garcés. Sie schreibt, genau das sei „die Kapitulation des Menschen vor der Aufgabe zu lernen und sich selbst zu bilden, um würdevoller zu leben“. Sie postuliert: „Was die radikale Aufklärung fordert, ist die Freiheit, alles Wissen und jede Überzeugung, ganz gleich woher sie stammen und wer sie formuliert hat, erforschen zu dürfen, bedingungslos und unabhängig von Vorgaben.”
Mit dieser Forderung kann ich mich als studierter Zukunftsforscher sehr gut identifizieren und solidarisieren. Denn wenn wir keine Zukünfte mehr erforschen dürfen, welcher Art auch immer, dann hat die Monomanie der Anti-Aufklärung in unserer Zeit gewonnen, unabhängig davon wie auch immer wir diese Monomanie der Anti-Aufklärung ideologisch genauer definieren würden.
In Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es, „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei“. Ein gerade gegründetes Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, welches leider keine Zukunftsforscher in den eigenen Reihen beherbergt, sieht zumindest genau das bedroht und tritt – laut dem eigenen Manifest – an, um „die Freiheit von Forschung und Lehre gegen ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen und zur Stärkung eines freiheitlichen Wissenschaftsklimas beizutragen.“ Diese Forderung nach freier Meinungsäußerung wird heute fatalerweise als rechtsradikale Sehnsucht nach einer Amnestie auf Hasstiraden verunglimpft. Aber zurück zur Neuen radikalen Aufklärung.
Gegen die Vormachtstellung des Solutionismus
„Heutzutage gibt es nur wenige Beschränkungen, was den Zugang zum Wissen betrifft, wohl aber viele Mechanismen zur Neutralisierung von Kritik“, schreibt Marina Garcés. Die Autorin hebt ein paar dieser unterschwelligen Mechanismen hervor, die unmerklich das Korsett der Möglichkeitsrahmen zuschnüren, darunter „die saturierte Aufmerksamkeit, die Segmentierung des Publikums, die Standardisierung der Fachsprachen und die Vormachtstellung des Solutionismus”. Zu viele Informationen, keine breite Öffentlichkeit mehr, Wissenschaften, die sich mangels verbindender Sprache nicht mehr verstehen, schnelle Lösungen, die eigentlich gar keine Lösungen sind. Das vermeintliche „Ende unserer lebbaren Zeit“ ist aus meiner Sicht in der Tat eine perfide Geschichte, die sich wie ein Virus in der Kognition der Gesellschaften verbreitet hat.
In Zeiten der Planetenära, schreibt sie weiter, können wir lernen, eine reziproke und freundliche Universalie zu erschaffen. Diese kann meiner bescheidenen Meinung nach als Arrangement des wechselseitigen voneinander Lernens nur dann entstehen, wenn sie einhergeht mit der De-Institutionalisierung der Werte. Was heißt das? Lernen muss wieder konvivial und explizit werden, das heißt es darf weder durchtränkt sein von Ideologien noch von einer Obsession in marktkonformen Lösungen denken zu müssen. Vor allem sollte Lernen nicht technologisch limitiert werden.
Unter den Begriffen „Blue Church“ und „Red Religion“ wird allerdings in den USA gerade diskutiert, dass – im Fall der „Blue Church“ – durch ein Zusammenspiel von Massenmedien und etablierten Institutionen bestimmte Experten auserwählt werden, um die Welt zu erklären. Andere Stimmen kommen demnach kaum zu Wort. „Red Religion“ ist wiederum ein etwas undifferenzierter Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Bewegungen, die jedoch allesamt die Netzwerkstrukturen und Dynamik der kollektiven Intelligenz zu nutzen wissen. Ich glaube allerdings, neue Labels und alte Schützengräben werden uns auch nicht unbedingt weiterbringen.
Die Prekarisierung der Intellektualität spielt auch noch eine entscheidende Rolle. Wenn es sich nicht mehr lohnt, zu verstehen und das Gefühl der Unterdrückung zu artikulieren, können auch die bestehenden Verhältnisse nicht mehr adäquat beschrieben werden. Wer es wagt, es dennoch zu versuchen, wird im allerbesten Fall zu Lebzeiten hungrig zu Bett gehen müssen.
Verstehe, was die Zukunft bringt!
Als Mitglied von 1E9 bekommst Du unabhängigen, zukunftsgerichteten Tech-Journalismus, der für und mit einer Community aus Idealisten, Gründerinnen, Nerds, Wissenschaftlerinnen und Kreativen entsteht. Außerdem erhältst Du vollen Zugang zur 1E9-Community, exklusive Newsletter und kannst bei 1E9-Events dabei sein. Schon ab 2,50 Euro im Monat!
Jetzt Mitglied werden!In Zeiten von Immanuel Kant hieß es noch, Aufklärung bedeute, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne Anleitung eines Weiteren. Es ging um das Erfolgsversprechen, durch Vernunftbegabung die Fehlerquellen im logischen Denken zu blockieren. Heute müssen wir konstatieren, erlauben uns die Brüche in der Realität die Möglichkeit, eine neue Möglichkeit überhaupt erst zu erkennen und demnach eine neue Realität zu entdecken und entstehen zu lassen. Auch sehen wir uns nicht mehr genötigt, die Welt im Alleingang zu verstehen – ohne Anleitung anderer Menschen.
Wir maßen uns diesen Mangel an Demut nicht mehr an, sondern erkennen mittlerweile die Qualitäten der Symbiogenese und Symbiose, des kooperativen Miteinanders in völliger Authentizität auch einzigartige Komplexität im Anderen zu zelebrieren. Die Welt ist heutzutage voller Tutorials, in denen wir alle unsere passende Community-of-Practice finden können. Jedoch, was wir in unserem Kulturkreis sehr gut können, ist Mimicking, das Nachahmen von Verhaltensweisen anderer.
Bis zu einem gewissen Grad ist Mimicking sehr hilfreich, um von denen zu lernen, die vor uns da waren und fachspezifische Expertise verkörpern. Ab einem gewissen Grad müssen wir uns allerdings genau von diesem Mimicking verabschieden und anfangen, unsere eigene einzigartige Form von Crazy Wisdom unabhängig auszuleben und auszukosten. Erst von diesem Moment an, kann etwas Neues entstehen. Es geht bei diesem Neuen aber nicht um Impact, sondern vielmehr um die Sensibilität der Interdependenzen.
Für eine neue Handlungsmacht!
Marina Garcés Appel lautet daher, sich auf den Sinn des Lernens zu beziehen und an einer Allianz von Wissensformen zu arbeiten, die Skepsis mit Vertrauen verbinden. Wir können das final so verstehen: Der neue memetische Code muss von uns allen gemeinsam in den mutativen Rollen der kritischen Zukunftsvisionäre gewoben werden, um eine neue Werteordnung des organischen Lebendigen aufblühen zu lassen. Wir können unsere eigenen sozialen Mutationen inspirieren und induzieren; Science-Fiction lesen und beginnen kognitive Verfremdungen zu situieren; holotropes Atmen zu praktizieren; Pivotal Mental States also neuronale Hyperplastizität zelebrieren; anderen in Ihrer Selbstentfaltung beistehen und nicht im Weg stehen.
Doch wenn sich die Handlungsmacht des Einzelnen nur noch auf die Fingerspitzen beim Tippen auf die Tastatur beschränkt, verrottet der Körper und der Verstand wird schwach. Das Recht auf ein analoges und würdiges Leben im lebendigen Jetzt müssen sich die heutigen Generationen in wahrhaftig werdenden Träumen kompromisslos und gleichwohl kompromissbereit erkämpfen. Und wie wachsen und gedeihen Bäume am besten? Sie blühen auf, wenn wir die einzigartige Bodenqualität zu pflegen verstehen. Doch vergesst nicht, der Baum selbst bezeichnet sich selbst nicht als Baum. In anderen Worten: „The world is perfect, appreciate the details!“*
*The RZA in Jim Jarmushs Kultfilm The Dead Don’t Die
Hat dir der Artikel gefallen? Dann freuen wir uns über deine Unterstützung! Werde Mitglied bei 1E9 oder folge uns bei Twitter, Facebook oder LinkedIn und verbreite unsere Inhalte weiter. Danke!
Titelbild: Getty Images