So können wir die Ungewissheit möglicher Zukünfte ertragen und die Komplexität der Welt zelebrieren


Die Corona-Krise trifft uns wie ein Schock. Wir waren nicht wirklich vorbereitet – trotz vieler Warnungen. Denn unsere Gesellschaft leidet an einer Armut der Vorstellungskraft, erklärt der Futurist und 1E9-Kolumnist Daniel Schimmelpfennig. Doch wir können lernen, mit der Unsicherheit umzugehen. Überhaupt scheint der Umgang mit der Ungewissheit unser kreatives Potential erst zu entfesseln.

Eine Kolumne von Daniel Schimmelpfennig

Wahrscheinlich befinden wir uns gerade mitten auf einem Zeitstrahl zum Ende der Welt, wie wir sie kennen. Das kann man ruhig sagen, ohne gleich in depressiver Apathie vor sich hin vegetieren zu müssen. Eine konstruktive, konstruktivistische oder konstruktionistische Paranoia hat noch niemandem geschadet, wenn es ums Überleben einer ganzen Spezies geht.

Diese begründete Angst soll keineswegs lähmend wirken, ganz im Gegenteil, sie soll mobilisieren. Es ist daher auch keineswegs verwerflich mit Schreckensszenarien und düsteren Zukunftsbildern gedanklich und situativ zu spielen, um auf Eventualitäten vorbereitet zu sein. Wir alle lernen gerade eindrucksvoll, dass diese eventuellen Szenarien schneller wahr werden, als wir sie uns überhaupt vorstellen möchten. Dystopien und Utopien überholen uns gerade. Deshalb ist die spielerische Erfahrbarkeit von zukünftiger Andersartigkeit hilfreich.

Paradoxerweise wird alles besser, während alles simultan auch schlechter wird. Exponentialfunktionen und Multiplikatoren sind wesentliche, aber schwer zu begreifende Faktoren, die für die Entstehung von völlig neuen Zukunftsrealitäten relevant sind. Etwas Eindeutiges über die ferne Zukunft wissen zu können, wird uns in einer nicht-vorherbestimmten Welt trotz Predictive Analytics wohl niemals gelingen. Die Verheißung von absoluter Gewissheit und absoluter Sicherheit war schon immer eine Illusion.

Aber können wir Vermutungen anstellen? Ja. Spekulieren? Ganz gewiss. Vor allem können wir mögliche, wahrscheinliche, sogar surreale und seltsame Zukünfte antizipieren. Wir können Alternativen kontemplieren, Transformationen imaginieren, Hypothesen debattieren, pluralistische Bilder durchspielen und mit Neuheiten experimentieren.

Komplexität zelebrieren und die Zukunft nutzen

Innerhalb der Zukunftsforschung haben wir mit Zukünftebildung oder Zukünfteliteralität, auf Englisch: Futures Literacy, eine Fähigkeit beschrieben, mit der wir unvorhergesehene Herausforderungen angehen, Unsicherheiten ertragen und Komplexität zelebrieren können. Mit ihr können wir die Zukünfte nutzen, um die Gegenwart zu gestalten und zu innovieren. Und mit ihr hören wir endlich damit auf, uns bei unseren Plänen auf eine vermeintlich sichere Zukunft zu verlassen, die meist nur eine Fortschreibung der Gegenwart ist.

Es wirkt sicherlich ungewohnt, Zukunft im Plural als Zukünfte zu lesen. Die bewusste Nutzung der Vokabel Zukünfte soll aber dabei helfen, den Irrglauben zu überwinden, die Zukunft sei eindeutig vorhergeschrieben. Die Zukunft ist natürlich nicht vollendet, sondern immer offen für Möglichkeiten – und für Überraschungen. Und weil die Zukunft offen ist, beschreiben wir den Möglichkeitsraum der Zukunft im Plural als Zukünfte. Demnach existieren pluralistische Zukünfte. Theoretisch sollte das klar sein. In der Praxis gibt es aber beim Versuch, in andere Zukünfte zu steuern, ein paar Umsetzungsschwierigkeiten. Das weiß jeder, der versucht, eine schlechte Angewohnheit an sich selbst zu ändern, wie zum Beispiel keinen Zucker mehr zu konsumieren oder sich körperlich mehr zu bewegen.

Doch erst, wenn wir aus der Theorie herauskommen und in Handlungsaktionen übergehen, können wir die Entwicklungsverläufe der Zukünfte tatsächlich beeinflussen. Um das zu tun, sollten wir uns aber zunächst mit wahrscheinlichen, plausiblen, erstrebenswerten, düsteren und auch seltsamen Zukunftsbildern auseinandersetzen – also mit dem gesamten Spektrum dessen, was wir auch nur im Entferntesten antizipieren können. Es geht um Konsequenzen, um Kausalitäten, Korrelationen, und Korrespondenzen. Nur wer eine düstere Zukunft schon einmal gedanklich durchgespielt hat, kann sich theoretisch darauf vorbereitet.

Wie schmecken und riechen die Zukünfte?

Zukunftsbilder haben sicherlich eine lange Tradition in der Zukunftsforschung. Aber mehr als nur das Bild brauchen wir ein spürbares Verständnis für den Wirklichkeitsgehalt abstrakter Zukünfte. Daher plädiere ich für die Einbeziehung von nicht-visuellen Daten, also von sogenannten Nichtbildern oder Nonimages der Zukunft. Diese stellen auch andere Fragen, wie zum Beispiel: Wie schmecken denn die Zukünfte? Wie riechen die Zukünfte? Oder wie fühlen sich die Zukünfte an, im Bauch, im Kopf, für unser Nervensystem oder für andere Formen der Wahrnehmung?

Natürlich können wir uns darüber unterhalten, was passieren würde, wenn der Meeresspiegel ansteigt. Das würde aber noch nicht bedeuten, dass wir uns auch nur ansatzweise vorstellen können, wie es sich schon jetzt anfühlt, in der indonesischen Hauptstadt Jakarta in den Fluten leben zu müssen. Und wer hat sich 2014, als in Westafrika die schwerste Ebola-Epidemie aller Zeiten ausbrach, gefragt, wie es sich wohl anfühlt, überall von einer tödlichen Seuche bedroht zu werden? Die Zukünfte sind bereits hier. Sie sind nur nicht gleichmäßig verteilt.

Einer muss anfangen, bevor irgendeine kritische Masse erreicht werden kann.

Die Geschichten über die pluralistischen Zukünfte müssen tiefgreifender erlebbar gemacht werden, um uns aus der Impotenz der Theorien zu befreien. Die neuen Formen von Wissen sind potente, verkörperlichte Formen des Wissens. Bildung muss also mehr sein als Auswendiglernen und Auskotzen an Prüfungstagen. Bildung muss eine höhere Entwicklungsstufe erreichen und selbst-verwirklichende, transformative Kapazitäten entfesseln. Und jetzt haben wir die Chance, zu experimentieren. Zukünfte beginnen in der Vielfalt der Individuen und werden dann systematisch verankert. Einer muss anfangen, bevor irgendeine kritische Masse erreicht werden kann.

Der erste Schritt zu neuen Zukünften findet meist durch gedankenspielerische Annäherungen statt, wie sie in Science-Fiction, Economic-Fiction, Environmental-Fiction oder Social-Fiction kommuniziert werden. Ihr könntet also die Zeit zuhause nutzen, um kreatives Science-Fiction-Schreiben zu üben. Wenn euch das aber zu viel ist, kann ich euch ein Gruppenspiel empfehlen, das ihr selbst ausdrucken könnt: The Thing from the Future von Stuart Candy. Obwohl das Spiel sehr minimalistisch gestaltet ist, kann man damit viele Zusammenstellungen alternativer Zukünfte erkunden. Noch einfacher ist die gute, alte Was-Wäre-Wenn-Methode. Stellt euch einfach mal vor, was wäre, wenn…? Und das am besten auch mit unplausibel, surreal oder schräg anmutenden Szenarien.

Die Futuristin Jane McGonigal fragt Ihre Studenten zum Anfang eines Semesters immer, welche Dinge sich aus deren Sicht in den nächsten zehn Jahren auf gar keinen Fall verändern werden. Unter den Antworten der Studenten sind dann Dinge wie: Menschen werden immer noch Sauerstoff zum Atmen brauchen. Länder werden immer Grenzen haben. Oder: Zur menschlichen Fortpflanzung benötigt man einen Mann und eine Frau. Darauf reagieren Jane McGonigal und ihr Team, indem sie den Studenten Signale aufzeigen, die selbst hier Veränderungen ankündigen. Schwierig wird das nur beim Sauerstoff.

Jane McGonigal nennt diese Aufgabe kontrafaktisches Denken – und sie erklärt sie wie folgt: Um etwas neues zu entwickeln oder zu erfinden oder irgendetwas in unserer Gesellschaft zu verändern, muss man sich erst einmal vorstellen können, dass und wie die Dinge anders sein könnten – anfänglich erst einmal ganz ohne Bewertung.

Welche Zukünfte wollen wir eigentlich?

Wenn wir auf diese Arten verschiedene Zukunftsbilder entwickelt haben, können wir uns mit der Frage beschäftigen, welche Zukünfte sind denn besonders erstrebenswert? Oder welche Zukünfte werden bevorzugt innerhalb einer Katastrophe oder Dystopie, abhängig vom Handlungsspielraum, der da noch bleibt?

In jeglicher Hinsicht steht bei der Frage, für welche Zukünfte wir uns eigentlich einsetzen wollen, das gute Leben an erster Stelle. Dafür braucht es auf jeden Fall eine nicht-toxische Umwelt – frei von Abgasen, Giften und anderen Umweltverschmutzungen, die der Gesundheit schaden, lebt es sich offenkundig besser. Sehr gut lebt es sich auch mit qualitativ hochwertiger Nahrung für Körper – und Geist. Außergewöhnliche Bildungschancen sind die Voraussetzung, um seiner Neugierde, seinen Interessen und Leidenschaften nachgehen zu können, und machen deshalb einen enormen Qualitätsunterschied des Lebens aus. Doch all diese Dinge sind keineswegs schon überall vorhanden oder für die Zukunft garantiert. Zumal offenbar eine enorme Diskrepanz zwischen den Zukünften, die wir eigentlich wollen, und den Zukünften, für die wir Tag ein und Tag aus tatsächlich arbeiten, besteht. Potentiale für systemische Transformation und soziale Mutation gibt es also reichlich.

Durch unser bisheriges, infantiles und exzessives Konsumieren haben wir bereits vorzeitig viele Zeitfenster für bessere Zukünfte geschlossen.

Eine Armut an Vorstellungskraft dagegen führt zur Stagnation der Gesellschaft. Durch unser bisheriges, infantiles und exzessives Konsumieren haben wir bereits vorzeitig viele Zeitfenster für bessere Zukünfte geschlossen. Ohne neue Ideen dominieren nun einmal Pfadabhängigkeiten. Pfadabhängigkeiten entstehen durch Entscheidungen der Vergangenheit, aber auch durch nicht hinterfragte Annahmen als die prädominante Autorität unserer Zeit. Daher gilt es in manchen Fällen auch Zukunftsbilder zu dekolonialisieren. Es gibt viele dominante Bilder, die wir nicht brauchen, die uns nicht gut tun, die sogar kontraproduktiv sind. Zu definieren, welche Bilder das sind, ist aber nicht unbedingt meine Rolle. Ich könnte zwar das Geldsystem anführen, hierarchische Organisationskulturen oder individualisierten Personenverkehr. Aber es gibt sicherlich viel persönlichere Themen von missverstandenen Individuen oder diskriminierten Personengruppen, die ihre Geschichten ihrer Zukünfte zu erzählen haben. Wer in offenen Systemen transformativ zu denken beginnt, erkennt sofort, dass es wirklich überall Aufgaben zur Wandlung gibt und nichts, aber auch gar nichts, bestehen bleiben muss.

Erfindet euch neu!

Zukünfte finden nicht im luftleeren Raum statt. Man braucht auch Resonanz. Wir benötigen deshalb Begegnungsräume, in denen wir Möglichkeiten entstehen lassen können, auch in digitaler Hinsicht. Wir sollten unsere Erfahrungen teilen können, um gemeinsam den unendlichen Lernprozess der Zukunftsgestaltung gesamtgesellschaftlich zu etablieren. Seid also experimentierfreudig und erfindet euch und eure Welt immer wieder neu!

Verbündet euch, bildet Allianzen, Kooperationen und Kollaborationen. Kreiert Remixe, bündelt bereits bestehende, gute Ideen und kombiniert diese in neuem Gewand. Überrascht Euch selbst. Jetzt ist definitiv die Zeit, um eine Explosion neuartiger Möglichkeiten zu zelebrieren. Die hier beschriebenen Ansätze können vielleicht dabei helfen. Aus Weirdness wird Uniqueness und daraus können pluralistische Zukünfte entstehen, die dann den qualitativen Unterschied ausmachen.

Das Coronavirus ist für mich das Ende einer planetenzerstörenden Monokultur – und die Einladung, die bisherige Armut an Vorstellungskraft zu ersetzen durch einen Reichtum an neuen und transformativen Ideen. Wir brauchen keine Autoritäten, die uns Kontrolle und Sicherheit suggerieren und politisch verkaufen wollen, obwohl das letztendlich nur Hybris ist angesichts unseres Universums und der menschengemachten, existenziellen Risiken. Genauso wie Ikarus glaubten wir, die Sonne berühren zu können. Wir glaubten, die Natur mit systemischer Logik in Besitz nehmen zu können. Tatsächlich ist es aber so, dass alles im Werden zu verstehen ist. Und wer sich selbst im Werden verstehen kann, eine Synthese aus dem ökologieverbundenen Propheten und dem tech-optimistischen Wizard zelebriert, befähigt sich dahingehend die existentielle Ungewissheit als kreative Inspiration seines Schaffens zu nutzen zu lernen.

Daniel Schimmelpfennig, bei 1E9 als @CTTF aktiv, ist studierter Futurist und hat eine recht exotische Berufsbezeichnung. Er nennt sich „Curiosity-Driven Futures Power User“. Mit seiner Kolumne will Daniel neues Zukunftsdenken in die Welt bringen – und dazu beitragen, dass positive Visionen auch Realität werden. Außerdem berät er Firmen und Institutionen, er gestaltet Workshops und Keynotes.

Titelbild: George Peters / Getty Images

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JA., WOW…! Absolutely d’accord… Und ich würde Science - Fiction Literatur in den Schulen endlich mal einführen… Spätestens ab jetzt is das lebensnotwendig! :v:

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Guter Text - gefällt mir! m.E nur ein wenig zu lang und (noch) zu wenig konkret. Ich nehme an, die Kolumne ist von Dir als Einstieg in dieses wichtige Thema gedacht. Besonders gut gefällt mir „die Komplexität der Welt zelebrieren“. Das wird für manche Leute schwierig werden, die bislang versucht haben „die Komplexität der Welt zu ignorieren oder platt zu bügeln“ :wink:

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Spannender Text! Mit „Zukünften“ statt „Zukunft“ zu operieren macht es tatsächlich einfacher, Alternativen zu denken und zu kommunizieren. Und auch, dass manche Zukünfte bereits hier und somit erlebbar (oder von Menschen mit direkter Erfahrung kommunizierbar sind) ist ein spannender Ansatz.
Mir fallen in dem Zusammenhang die „Temporären Autonomen Zonen“ (T.A.Z, Hakim Bey) ein.

Die aktuelle Situation eröffnet sicher viele erfahrbare Ausblicke auf andere Zukünfte - wie wäre es, wenn wir auch nach Corona nur noch „systemrelevante“ Arbeit machen, viel mehr Zeit zu Hause hätten, aber sogar wieder soziale Kontakte haben dürften? Wenn viel mehr - und weniger Unnötiges - automatisiert produziert würde und wir trotzdem nicht verhungern (ohne Arbeitsgesellschaft geht’s doch gar nicht!)?

Aber werden diese Erfahrungen bewusst und wirksam werden oder geht’s zurück in den alten Trott, das ist für mich die große Frage.

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Sorry, das ich jetzt erst antworte. Yezz, auf jeden Fall gehört Science-Fiction in jedem Lehrplan. Vor allem sollte auch Economic Fiction in jedes Wirtschaftsstudium, und Social Fiction in jedes Soziologie und Psychologie Studium und Environmental Fiction gehört bei allen Designern und Architekten ins Curriculum mit Schnittstelle zur Biomimik und Biomorphismus. :blush: :v: Wir verstehen uns :handshake:

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Ich glaube uns allen fällt das schwer, weil es wohl evolutionär bedingt immer genügend Gründe gab, Dinge zu simplifizieren und nur im egoistischen Überlebensmodus zu betrachten. Die holistische, oder omnizentrische, oder transperspektivistische Herangehensweise ist ja schon etwas sehr neues. Dafür müssen erst die Gehirnverschaltungen stark geprägt werden, bevor diese durch Epigenetik tatsächlich tiefgreifende und weitreichende Veränderungen bewirken können. Alleine in den letzten 10 Jahren hat die Menschheit mehr über unser Gehirn gelernt, als die 100000 Jahre zuvor. Das kann ja auch keiner wirklich verstehen was das bedeutet. Aber in der Tat vielleicht zelebrieren :sweat_smile:

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Mmh, das sind eindeutig sehr gute Fragen. Schwierig zu sagen. Da bleibe ich vorsichtig und realistisch mit den Worten von Robert Musil, wir irren voran. Aber danke für die Hakim Bey Referenz. Die anarchistische Denkmethode finde ich immer sehr aufschlussreich. Da lässt sich sicherlich noch viel gutes ableiten. Anarchismus als sehr anspruchsvolle Organisationskultur, kollektive Intelligenz, Eusozialität, aber auch radikaler Individualismus hinsichtlich Signatur Stärken, im Zusammenspiel mit einer Symphonie an künstlichen Intelligenzen, könnten interessante Kombinationen für die Zukünfte ergeben.

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Mentale Resilienz klingt etwas nach Waffensystem Upgrade, aber abgesehen davon, sind die Argumente in dem Artikel sehr gut:

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