Wir brauchen mehr Dystopien – aber die richtigen!

In der Rückschau erscheint das Jahr 2020 wie eine Dystopie, die sich ein übereifriger Autor oder eine Autorin ausgedacht haben könnte. Kein Wunder, dass viele Menschen sich nun Romane, Filme und Serien wünschen, die eine bessere Welt zeichnen. Aber: Wir brauchen Dystopien nun mehr denn je. Denn eben diese Werke helfen uns, uns für Katastrophen zu wappnen und sie besser zu verstehen.

Von Michael Förtsch

Was 2020 doch für ein Jahr war. Gigantische Brände, terroristische Anschläge, eine weltweite Pandemie, die uns wohl noch lange und weit begleiten wird. Dazu Ausbrüche von und Debatten rund um Fake News, Verschwörungstheorien und die Herausbildung einer Gegenöffentlichkeit, die sich von Fakten und Wahrheiten in ihren Überzeugung nicht erschüttern lässt. Polizisten zeigen sich stolz mit Gerät, das eher auf Schlachtfelder gehört. Drohnen surren umher, schreien Menschen an und Demonstranten werden von maskierten Beamten in anonyme Fahrzeuge gezogen. Das und noch viel, viel mehr hat das Jahr 2020 geprägt und könnte einen glatt denken lassen, man wäre direkt in eine Science-Fiction-Dystopie gestolpert.

Wie logisch erscheint es da, nach Gegenwürfen zu rufen. In Form von optimistischen Geschichten und aufmunternden Narrativen, die in weniger deprimierende Welten flüchten und eine bessere Zukunft denken lassen. Und ja, wir brauchen sie dringend. Es braucht Filme, Romane und Serien, in denen die Welt nicht in Trümmern liegt, in denen die Menschen einen Weg gefunden haben, mit der und nicht gegen die Natur zu leben, in denen neue und humanere Gesellschaften konzipiert und durchgespielt werden. Solarpunk und Hopepunk sind da zwei Stichworte. Aber: Wir brauchen auch Dystopien – und zwar mehr denn je. Denn, selbst wenn es irrational klingen mag, besonders sie können uns die Kraft und die Orientierung geben, düstere Zeiten zu überstehen und Denkanstöße mitgeben, die Zukunft zu einem besseren Ort zu machen.

Filmschauen gegen die Pandemie

Es war im März 2020 als vielen Menschen richtig bewusst wurde, dass das Coronavirus nicht einfach an ihnen vorbeigehen würde. Dass es, nicht wie einst die SARS-Pandemie, Hunderte, sondern Abertausende Leben kosten könnte. Genau in diesen Tagen schnellte ein Film an die Spitze der Streaming-Charts, der so ziemlich das Gegenteil einer positiven Zukunftsaussicht darstellte. Nämlich der 2011 erschienene Thriller Contagion von Steven Soderbergh. Der ist keine Dystopie im klassischen Sinne, sondern ein Film gewordenes Planspiel, in dem die moderne Gesellschaft an ihre Belastungsgrenze gezwungen und die globalisierte Welt wortwörtlich zum „üblen Ort“ wird.

Fast schon prophetisch wird in Contaigon die rasche Verbreitung eines MEV-1 genannten Virus aus Asien über den Erdball nachgezeichnet. Der Film blickt auf den Umgang einer Familie mit dem Virus, das Tun von Forschern und Behörden wie der CDC, aber auch darauf, wie manche Menschen durch Gerüchte, Verschwörungstheorien und Heilsversprechen von der Katastrophe profitieren. Es geht weniger um die heldenhafte Bekämpfung des Virus, sondern um die Systeme, auf die unsere Zivilisation aufgebaut ist, und was passiert, wenn sie urplötzlich unter enormen Stress geraten. Systeme also wie Mobilität, Lieferketten, Gesundheitsversorgung und auch Medien.

Aber nicht nur Contagion wurde mit der Pandemie zum Hit. Auch der Roman Das Licht der letzten Tage von Emily St. John Mandel, das aufzeigt, wie eine Zivilisation durch eine Krankheit zerfallen ist und sich neu formen musste. Ebenso sind Zombie-Romane wie Severance von Ling Ma oder World War Z von Max Brooks seit der Pandemie in den Verkaufscharts von Amazon nach oben gestiegen, werden viel gelesen und im Internet besprochen. Dabei zeichnen sie alle, gerade im Kontext unserer aktuellen Weltlage, geradezu erschreckende und in Einzelaspekten sehr glaubhafte Szenarien – und lassen ihre Protagonisten Leid und Verlust durchleben. Aber genau das brauchen und wollen viele Menschen gerade.

Dystopie als Schreckensbekämpfung?

Der Zauber der Dystopie ist, dass sie uns den Raum und die Möglichkeit gibt, unsere Ängste, Gefühle und Entscheidungen zu konfrontieren und zu trainieren – ohne uns in akute Gefahr zu begeben oder uns darin zu befinden. Wir können gedanklich durchspielen, was kommt, wie wir wohl reagieren werden, wenn die Katastrophe eintritt und wir in eine Extremsituation geraten. Dabei haben wir stets die Macht darüber, wie stark wir uns dem aussetzen. Wir können auf Pause drücken, das Buch zuklappen, vor- oder zurückspulen, weiter- oder zurückblättern. Oder nach dem Ende nochmal von vorne anfangen. Das hilft uns auch, uns zumindest etwas gegen die Wirklichkeit zu impfen.

Laut Pamela Rutledge vom Media Psychology Research Center kann es zudem geradezu befreiend sein, eine Katastrophe zu sehen. Es kann ein Gefühl von Kontrolle schaffen, die Gefahr und ihre Auswirkungen frontal und nahbar zu erleben, sei es durch Bilder oder die fiktiven Augen eines Charakters – oder an dessen Seite. Denn was wir nicht sehen, macht umso mehr Angst und lässt die Gefahr unnatürlich und irreal erscheinen – und vielleicht sogar daran zweifeln. „Mir wäre es viel lieber, wenn die Leute den ganzen Tag Contagion und Netflix schauen würden, als die Nachrichten“, sagt Pamela Rutledge vom Media Psychology Research Center daher. „Sich Dinge [wie fiktive Katastrophen] anzuschauen, schafft das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Du kannst dich mit den Charakteren identifizieren.“

Aber diese fiktiven Geschichten können uns auch dabei unterstützen, ein gedankliches Raster zu erstellen, in das wir die komplexen Vorgängen der Wirklichkeit, die überfordern und überfluten, einsortieren können. Das meint der Soziologe Thomas Beamish von der University of California. Filme und Romane könnten also eine Art Handreichung sein, um abstrakte Zahlen und Medienberichte in Bilder zu übersetzen; sie lassen uns visualisieren, was wohl passiert, wenn es heißt, dass Forscher an einem Impfstoff arbeiten oder versuchen, die Herkunft eines Virus zu ermitteln. Selbst wenn diese Bilder nicht gänzlich akkurat sind, erzeugen sie ein Verständnis. Vielleicht sogar für Verhaltensanweisungen wie Händewaschen, Masketragen und Zuhausebleiben. Sie können zeigen, warum sie richtig und wichtig sind.

Mir wäre es viel lieber, wenn die Leute den ganzen Tag Contagion und Netflix schauen würden, als die Nachrichten.
Pamela Rutledge

Die richtigen Visionen

All das oben gesagte trifft aber nicht nur auf Visionen von Krankheiten zu, die die Erde leerfegen, sondern auch auf andere finstere Szenarien. Seien es die Gefahren, die aus der Übermacht von Konzernen, der Spaltung der Gesellschaft, Überwachungsmaschinerien, der ungleichen Verteilung von Reichtum, dem Klimawandel, Rassismus, der unkontrollierten Entwicklung von Künstlicher Intelligenz und autonomen Waffensystemen resultieren, wie sie in Cyberpunk- und Hard-Science-Fiction-Werken debattiert werden. Dadurch sind Dystopien nicht nur Geschichten, die unterhalten, unsere Gefühle anregen, sondern auch vor Gefahren warnen und Situationen vergegenwärtigen lassen. Selbst wenn die Kulissen aus Science-Fiction-Werken wie Blade Runner, New York 2140, Mad Max, What Happened to Monday?, 1984, Wir oder Die Tribute von Panem oberflächlich wenig mit unserer gegenwärtigen Realität zu schaffen haben.

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Die Konfrontationen, die die Heldenfiguren erleben, das Herausarbeiten und Sichtbarmachen der Herausforderungen und Probleme: Das beeinflusst unsere Sicht auf die Welt, und was wir in ihr tun und wie wir uns entscheiden. „Wenn Menschen fiktionale Erzählungen lesen, sehen oder anderweitig konsumieren, verarbeiten sie diese Geschichten so, als ob sie tatsächlich Zeuge der Phänomene wären, die diese Erzählungen beschreiben, selbst wenn diese Ereignisse unwahrscheinlich oder unmöglich sind“, heißt es in einer Studie aus dem Jahr 2017. Sie werden also von Zuschauern, Lesern oder auch Zuhörern auf einer gewissen Ebene ernst genommen.

Dystopien können Debatten und sogar handfesten Aktivismus befeuern. „Junge Erwachsene beschrieben, wie das ‚wirklich rebellische Gefühl‘ dystopischer Fiktion sie wütend und bereit zum Handeln machte und ihnen das Gefühl gab, dass auch normale Menschen ‚den Status quo herausfordern‘ und ‚gegen das System rebellieren‘ können“, beschreiben Calvert W. Jones und Celia Paris, die an der Universität Cambridge die Wirkung von dystopischen Romanen untersuchten. Tatsächlich geben viele Menschen, die sich für digitale Bürgerrechte engagieren, an, von Romanen wie den Werken von William Gibson oder den The-Little-Brother -Romanen von Cory Doctorow inspiriert worden zu sein.

Gerade daher ist es wichtig, welche Dystopien nun Autoren, Film- und Fernsehmacher erschaffen, welcher Themen sie sich annehmen, auf welche Probleme sie die narrative Lupe richten und wie sie die Heldenfiguren gegen sie ankämpfen lassen. Es wäre nicht grundlegend falsch jetzt einen Roman über eine Verschwörung der Eliten zu schreiben, aber hilfreich wäre es im Lichte von Verschwörungsbewegungen wie QAnon und den selbsternannten Querdenkern sicherlich nicht. Wohl aber eine Dystopie wie Veil von Eliot Peper etwa, die den Kampf gegen den Klimawandel thematisiert oder Die Siliziuminsel von Qiufan Chen, in dem durch Konsumwut und Korruption vor der Küste Chinas eine ganze Insel aus Elektroschrott entstanden ist.

Der Autor Cory Doctorow schrieb erst vor kurzem, dass er in Zukunft auf eine Art schreiben wolle, die der Welt etwas Gutes tut. Er wolle mit seinen fiktiven Werken aufklären und zur Mitarbeit an einer besseren Zukunft inspirieren. Gute Science-Fiction-Werke und Dystopien könnten Menschen etwa helfen zu verstehen, welche Macht die Datenverarbeitung darstellt; sie könne Bewegungen inspirieren, die Monopole aufbrechen und eine diverse Gesellschaft schaffen. Nach einem Jahr wie diesem klingt das nach einer echt guten Idee. Oder nicht?

Teaser-Bild: Photo by mikhail serdyukov auf Unsplash

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