Von Wolfgang Kerler
Durchgesickert war die Nachricht schon Wochen vorher. Am 23. Oktober verkündete Google seinen Durchbruch dann ganz offiziell in einem Blogbeitrag und in der Fachzeitschrift Nature: die Quantenüberlegenheit, die Quantum Supremacy, sei erreicht. Erstmalig soll es einem Quantencomputer gelungen sein, ein Problem viel schneller zu lösen, als es ein klassischer Computer jemals könnte.
Ganz konkret schaffte es Googles Quantenprozessor Sycamore mit seinen 53 funktionsfähigen Qubits in 200 Sekunden eine Berechnung durchzuführen, für die ein heutiger Supercomputer 10.000 Jahre brauchen würde. Zumindest laut Aussage von Google. Das sorgte in Teilen der Fachwelt für Bewunderung. Der Quantencomputer-Rivale IBM dagegen meldete Zweifel an. Warum, das klären wir noch. Zunächst beantworten wir die grundsätzlichste Frage:
Werden klassische Computer jetzt überflüssig?
Nein, das behauptet auch Google nicht. Und auch Markus Braun, der Gründer des Frankfurter Quantensoftware-Start-ups JoS Quantum, dessen Arbeit weiter unten noch eine Rolle spielen wird, sagt zu 1E9: „Wir werden immer klassische Computer brauchen.“
Denn Google hat mit seinem Experiment lediglich nachgewiesen, dass es tatsächlich Probleme gibt, die sich nur mit einem Quantencomputer lösen lassen, wenn man nicht ewig warten will. Es geht also nicht um eine generelle Überlegenheit von Quantencomputern, sondern um eine Überlegenheit in bestimmten Fällen.
Theoretisch ging man zwar längst davon aus, dass es diese Fälle gibt. So hatte der US-Nobelpreisträger Richard Feynman schon 1981 geschrieben, dass klassische Rechner an der Simulation von Quantensystemen in der Physik scheitern würden, nicht jedoch Quantencomputer. Den praktischen Nachweis einer Quantenüberlegenheit lieferte aber bisher niemand. Das lag auch daran, dass heutige Quantenprozessor viele Fehler machen und nur für Mikrosekunden korrekt arbeiten. In einem früheren Artikel haben wir das bereits erklärt. Nun ist es Google trotzdem gelungen, das erste praktisches Beispiel für die Überlegenheit von Quantenrechnern zu liefern.
In diesem Video erklärt Google, wie das eigene Team in Santa Barbara, Kalifornien, die Quantenüberlegenheit erreicht haben will. Einigen wird sicher gleich auffallen, dass einer der wichtigsten Experten des Tech-Konzerns aus Deutschland stammt: Hartmut Neven, Engineering Director und Lead Google AI Quantum.
Was genau hat Sycamore berechnet?
Es ist, zugegeben, ein recht spezieller Anwendungsfall. Der Sycamore-Chip sollte bestimmen, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Zufallszahlengenerator, für den Quantenschaltungen mit 53 Qubits zum Einsatz kamen, bestimmte Kombinationen von Nullen und Einsen liefert.
Das ist deshalb so schwierig, weil jede der Zufallszahlen eine 53-stellige Zeichenkette darstellt und es davon 2 hoch 53 mögliche Versionen gibt. Diese Möglichkeiten sind außerdem nicht gleich wahrscheinlich. Wegen Interferenzen zwischen den Qubits kommen manche Zufallszahlen häufiger vor als andere. Es ist ein bisschen so, als würde man einen Würfel verwenden, dessen Schwerpunkt etwas verlagert ist – danke an die Kollegen von Nature für diesen anschaulichen Vergleich.
Die Zahlen, die der manipulierte Würfel liefert, wären zwar immer noch zufällig – aber nicht mehr gleichverteilt. Nur wie würde man herausfinden, welche Zahlen am wahrscheinlichsten sind? Man würde einfach oft würfeln. Sehr oft. Und das ist im Grunde auch, was Sycamore mit dem Quantenzufallsgenerator gemacht hat. Er ließ die Quantenschaltung eine Million Mal laufen, las die Ergebnisse aus – und berechnete auf dieser Basis die Wahrscheinlichkeit, mit der einzelne Zufallszahlen herauskommen.
Zu kontrollieren, ob Sycamores Berechnungen überhaupt korrekt waren, stellte eine weitere Herausforderung dar. Welcher Rechner soll einen überlegenen Quantencomputer überprüfen? Das Google-Team behalf sich, indem es vereinfachte Versionen der Schaltungen auf klassischen Supercomputern simulierte. Die Schätzung, dass selbst die stärksten normalen Rechner 10.000 Jahre brauchen würden, kam dabei ebenfalls heraus. Zu den Partnern, die das ermöglichten, gehörte übrigens auch das Forschungszentrum Jülich mit seinem Supercomputer JUWELS.
Warum gibt es Zweifel daran, dass Google wirklich die Quantenüberlegenheit erreicht hat?
Der Google-Konkurrent IBM, der ebenfalls einen Quantencomputer mit 53 Qubits konstruiert hat, postete seinen kritischen Blogpost sicherheitshalber schon kurz vor der offiziellen Veröffentlichung der Ergebnisse in Nature. Darin ließ IBM wissen, dass man die 10.000 Jahre, die ein Supercomputer für die Berechnung brauchen soll, mehr als bezweifelt.
„Wir argumentieren, dass eine ideale Simulation der gleichen Aufgabe auf einem klassischen System in 2,5 Tagen und mit weitaus größerer Genauigkeit durchgeführt werden kann“, schreiben die IBM-Experten. Und fügen hinzu, dass selbst das eine konservative Worst-Case-Schätzung sei. Von Quantenüberlegenheit könne also keine Rede sein.
Aus IBMs Sicht würde unter anderem eine Optimierung der Speichernutzung die Zeit, die ein klassischer Computer braucht, auf dieses überschaubare Maß bringen. Noch bleibt IBM aber den praktischen Beweis schuldig, dass der firmeneigene Supercomputer Summit – der stärkste Rechner der Welt – tatsächlich so schnell wäre, wie theoretisch vorhergesagt.
Wer hat also Recht?
Irgendwie beide. Die Zusammenfassung von Tiernan Ray bei ZDNet bringt es ganz charmant auf den Punkt. Er schreibt, dass beide Tech-Konzerne einen wertvollen Forschungsbeitrag geleistet haben: „Im Fall von Google geht es um die Physik der Herstellung eines überlegenen Geräts. Im Falle von IBM zeigt das Unternehmen, dass Architektur, also das Design eines traditionellen Computersystems, noch immer ein erstaunliches Potenzial hat, das Computing voranzutreiben.“
Auch der Quantenexperte Scott Aaronson, ein Computerwissenschaftler an der Universität von Texas, würdigt in einem Blogpost beide Firmen. IBM lobt er dafür, dass der Konzern genau richtig auf Googles Fortschritte reagiert hat: nämlich mit besseren klassischen Simulationen. Er zweifelt auch nicht daran, dass IBM mit seinen theoretischen Überlegungen richtig liegt. Trotzdem merkt er an, dass Google die Überlegenheit des Quantencomputers belegt hat. Schließlich seien 200 Sekunden immer noch 1200-mal schneller als zweieinhalb Tage – und das obwohl Googles Computer im Vergleich zu IBMs Summit, der die Fläche von zwei Basketballfeldern belegt, winzig ist.
Und wenn wir schon bei Scott Aaronson sind: Eine seiner Studentinnen bewies im vergangenen Jahr ziemlich eindrucksvoll, dass traditionelle Computer noch lange nicht ausgereizt sind.
Die 18-jährige Ewin Tang, die schon an der High School mehrere Klassen überspringen konnte, sollte eigentlich den Nachweis erbringen, dass es keinen klassischen Algorithmus gibt, der das Recommendation Problem schneller lösen kann als ein Quantenalgorithmus, den die Computerwissenschaftler Iordanis Kerenidis und Anupam Prakash 2016 veröffentlicht hatten. Doch das gelang Ewin Tang nicht. Denn sie fand einen quanten-inspirierten Algorithmus für klassische Computer, der vergleichbar leistungsstark ist.
Wenn wir in Zukunft bei Netflix, Spotify & Co. Empfehlungen bekommen, die noch besser auf unseren Geschmack zugeschnitten sind, dürfen wir uns dafür also auch bei Ewin Tang bedanken. Denn genau um diese Empfehlungen, also: Recommendations, ging es bei dem Problem, für das sie eine klassische Lösung entdeckt hat.
Was bringen uns Quantencomputer bisher überhaupt?
Zugegeben: Mit der ersten Berechnung, die ein Quantencomputer tatsächlich schneller durchführen kann als ein klassischer Rechner – nämlich mit der von Google – kann man nicht schrecklich viel anfangen. Sie ist lediglich ein Vorgeschmack auf das, was kommen könnte. Deswegen haben einige, darunter auch Google-Chef Sundar Pichai, das geglückte Experiment mit dem ersten Flug der Gebrüder Wright am 17. Dezember 1903 verglichen. Der dauerte nur 12 Sekunden, bewies aber, dass Motorflugzeuge wirklich fliegen können. Im Februar 1919 fand dann der erste Linienflug der Welt statt. Ähnlich könnte es, zeitlich gesehen, auch mit der Entwicklung der Quantencomputer weitergehen.
„Die Hardware hinkt leider noch etwas hinterher“, sagt Markus Braun vom Software-Start-up JoS Quantum. „Wir Theoretiker und Softwareschreiber haben aber schon sehr große Visionen, was wir alles mit Quantencomputern machen könnten.“ Denn in der Theorie existieren bereits einige spannende Quantenalgorithmen – allen voran der Shor-Algorithmus, mit dem sich einige der heute verwendeten kryptografischen Verschlüsselungen knacken ließen.
Dass noch kein wirklich zuverlässiger – und erschwinglicher – Quantencomputer auf dem Markt ist, heißt aber nicht, dass man mit der Hardware, die da ist, gar nichts anstellen könnte. Oder dass die theoretischen Überlegungen über Quantensoftware nichts bringen würden. Das beweist auch die Firma von @Markus_Braun.
Jos Quantum arbeitet unter anderem für die Finanz- und Versicherungsbranche und konzentriert sich dabei auf Optimierungsprobleme. Es geht, zum Beispiel, darum, die Portfolios von Anlegern zu optimieren und dabei möglichst viele Einflussfaktoren auf die Finanzmärkte zu berücksichtigen – und davon gibt es nahezu unendlich viele. Auch die Analyse von Risiken, die für Versicherungen entscheidend ist, wird umso besser, je mehr Variablen in die Simulationen einfließen. Viele gehen davon aus, dass Quantencomputer bei solchen Problemen klar überlegen sein werden.
„Die bisherigen Modelle wurden immer mit dem Wissen entwickelt, dass die Computerressourcen, die man hat, eigentlich nicht ausreichen“, sagt Markus Braun. Daran hat sich zwar noch nichts Grundlegendes geändert. Doch allein die Forschung, die Jos Quantum für seine Partner auf heute verfügbaren Quantencomputern macht, führte zu besseren Algorithmen, die schon heute auf klassischen Rechnern laufen können – genau wie bei Ewin Tang. „Es sind neue, quanten-inspirierte Algorithmen entstanden, weil wir angefangen haben, so zu denken, wie man Quantencomputer programmiert.“
Außerdem ist Markus Braun davon überzeugt, dass es sich für Firmen – nicht nur aus der Finanzindustrie, sondern insbesondere auch aus der Pharma- und Chemiebranche – lohnen wird, bereits jetzt in die Entwicklung von Quantensoftware zu investieren. „Denn wenn der Quantencomputer wirklich da ist, wird sich ganz viel ändern.“
Ach ja, noch eine Zusatzinfo zum Schluss: Eigentlich hat der Sycamore-Chip 54 Qubits. Aber ein Qubit war kaputt.
Titelbild: Erik Lucero / Google
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