Von Wolfgang Kerler
Na, wer von euch ist mit dem Robotaxi in die Arbeit gefahren? Ich nehme an: niemand. Dabei müsste das längst Alltag sein. Zumindest wenn der ein oder andere Milliardär aus dem Silicon Valley richtig gelegen hätte. 2012, zum Beispiel, sagte der Google-Mitgründer Sergey Brin über autonome Autos: „Du kannst an einer Hand abzählen, wie viele Jahre es brauchen wird, bis normale Leute das erleben können.“ Macht 2017. Das Jahr, für das auch Tesla-Chef Elon Musk die Ankunft der vollständigen Autonomie vorhersagte. War wohl nichts.
Müssen wir uns also von der wunderbaren Zukunft, die selbstfahrende Autos versprachen, verabschieden? Viel mehr Radwege und Grün in den Städten, weil keine Privatautos mehr den Straßenrand zuparken. Auf dem Weg in die Arbeit entspannt einen Film schauen – im Liegen. Nie mehr Stau, weil sich Roboterautos untereinander koordinieren. Und natürlich: keine Unfälle mehr. Alles nur ein Traum?
Naja, ganz daneben lagen Sergey Brin und Elon Musk dann auch wieder nicht. Denn Testläufe mit „normalen Leuten“, die gab es 2017 schon. Sogar in Deutschland. Im Zentrum des niederbayerischen Bad Birnbachs fährt seitdem ein weiß-roter Elektrokleinbus des französischen Herstellers Easymile im Auftrag der Deutsche-Bahn-Tochter Ioki autonom umher – mit einem menschlichen Fahrbegleiter an Bord, der in schwierigen Situationen per Joystick übernehmen kann.
Sie fahren zwar nur 15 Stundenkilometer, das aber meistens autonom: die Elektrokleinbusse in Bad Birnbach
Im Oktober 2019 erreichte das Projekt den nächsten Meilenstein: Seitdem fährt das Shuttle nicht nur im Ortskern, sondern nimmt auch die öffentliche Landstraße zum zwei Kilometer entfernten Bahnhof. Die digitalen Verkehrszeichen senken die Höchstgeschwindigkeit von 50 auf 30 km/h, wenn das Kamerasystem den Bus auf der Landstraße erkennt. Autonome, vernetzte, intelligente Mobilität – nur eben eine Nummer kleiner als gedacht. Und bei der Premierenfahrt nicht mit Elon Musk an Bord, sondern mit Andreas Scheuer. Willkommen in der Realität.
Waymo schickt immer mehr Autos ohne Sicherheitsfahrer los
Man könnte sich über den sympathischen, ziemlich gemütlichen Kleinbus aus Bad Birnbach lustig machen, weil er so gar nichts mit kühnen Science-Fiction-Visionen zu tun hat. Angesichts der oft überzogenen Prognosen könnte man die Roboterautos auch gleich als hübsche Idee abschreiben, die wir vermutlich nicht mehr erleben werden.
Aber sind wir doch mal ehrlich: So schlecht ist ein selbstfahrender Kleinbus auf einer Landstraße, den eine Kamera bemerkt und dann automatisch das Straßenschild umstellt, auch wieder nicht. Und – den Versuch in Bad Birnbach in allen Ehren – es gab 2019 noch beachtlichere Fortschritte.
Vor ein paar Wochen tauchte auf Reddit eine (später verifizierte) E-Mail von Waymo auf, von Googles Schwesterfirma für selbstfahrende Autos. Darin wurden die paar hundert Tester des autonomen Shuttleservices in den Vororten von Phoenix, Arizona, vorgewarnt: „Komplett fahrerlose Autos sind auf dem Weg“, lautete die Überschrift. Der Inhalt: Immer häufiger sollen die Kunden von Minivans abgeholt werden, in denen kein menschlicher Sicherheitsfahrer hinter dem Steuer sitzt – eine Neuerung, die belegt, dass Waymos Vertrauen in die eigene Technologie steigt.
Es geht also voran mit den Roboterautos, nur nicht so schnell wie zunächst gedacht. Spätestens seitdem eine Frau im März 2018 bei einem Unfall in Tempe, Arizona, ums Leben kam, den ein selbstfahrender Testwagen von Uber verursacht hatte, werden Techkonzerne und Autoindustrie konservativer in ihrer Planung. Der reale Straßenverkehr hält einfach so viele unerwartete Situationen, oder: edge cases , bereit, dass es nahezu unmöglich ist, die Autos für jede einzelne zu trainieren – ob in der realen Welt oder in virtuellen Simulationen.
Im Sommer verschob die für Roboterautos zuständige GM-Tochter Cruise den Start ihres kommerziellen, autonomen Shuttle-Dienstes auf unbestimmte Zeit. Eigentlich sollte es noch 2019 los gehen. Doch man wolle die Fahrzeuge noch mehr testen, teilte Cruise mit. Nicht nur Waymo, sondern auch Volkswagen und andere in der Branche distanzieren sich vom Ziel, Autos zu entwickeln, die in jeder Situation, bei jedem Wetter überall auf der Welt komplett autonom unterwegs sein können. Vollautomatisiert statt autonom, das ist das neue Ziel. Level 4 statt Level 5.
Der „Mischverkehr“ macht die Welt ohne Stau unwahrscheinlich
Wann wir also den Durchbruch der selbstfahrenden Autos erleben werden, bleibt für Nicht-Insider schwer abzuschätzen. Manche Experten, Analysten und Hersteller sagen in drei Jahren, manche in fünf, zehn oder fünfzehn Jahren. Eine Studie des Prognos-Forschungsinstituts für den ADAC rechnet beispielsweise damit, dass Neuwagen, die auf der Autobahn und in der Stadt komplett die Kontrolle übernehmen können, erst gegen 2030 auf den Markt kommen – inklusive Landstraße sogar erst ab Ende der 2030er Jahre.
Das heißt, wir sollten uns wohl besser auf ein paar weitere Bad-Birnbach-Jahre einstellen. Mit immer neuen Pilotprojekten, die jedes Mal einen kleinen Fortschritt bedeuten. Mit immer besseren Assistenzsystemen in Neuwagen, zunächst in der Oberklasse. Und mit der ein oder anderen falschen Vorhersage. Das macht aber nichts. Denn wir werden die Zeit brauchen, um über einen realistischen Traum vom Roboterauto zu diskutieren. Denn, sorry, die wunderbare Utopie einer Welt ohne Staus und Unfälle wird nicht über Nacht eintreten. Dafür können wir uns beim Mischverkehr bedanken.
Wenn selbstfahrende Autos auf Menschen treffen, kann es kompliziert werden. Das sieht man schon heute an den vielen Videos, die Schwierigkeiten bei Teslas kürzlich gestarteten Smart-Summon-Features zeigen. Dabei parkt das Auto selbst aus und sammelt seinen Besitzer ein.
Denn obwohl oft vom „iPhone-Moment“ der Autoindustrie geredet wird, wenn es um autonome Fahrzeuge geht: Autos sind keine Handys. Sie werden bis zu 20 Jahre gefahren. Innovationen setzen sich nur allmählich durch. Das bedeutet, dass sich menschliche und künstlich intelligente Fahrer noch lange die Straßen teilen werden. Menschen und Roboterautos werden sich mischen.
Eine perfekte Steuerung des Verkehrs, die Staus und Unfälle verhindert, fällt damit aus. Die setzt nämlich voraus, dass Drängler und Raser aus Fleisch und Blut weg sind und sich regeltreue Maschinen untereinander koordinieren.
Trotz dieses Problems könnten autonome Taxi- und Shuttle-Dienste recht schnell zu einer Renaissance des Automobils in der Stadt sorgen. Denn durch ihre hohe Auslastung und weniger Personal dürften selbstfahrende Services die Preise von klassischen Taxis, aber auch von Bus und Bahn unterbieten. Die bequeme, individuelle Tür-zu-Tür-Mobilität wird für jeden erschwinglich. Mehr Staus und Verkehr könnten die Folge sein. Aber eben auch der viel beschworene frei gewordener Parkraum entstehen, weil private Autos langsam an Bedeutung verlieren werden. Doch in welchem Umfang das alles passiert, werden nicht nur Unternehmen bestimmen, sondern auch die Gesellschaft.
Wie wollen wir 2035 mit selbstfahrenden Autos unterwegs sein?
Es ist also an der Zeit, uns konkret zu überlegen, welche Mobilität wir uns in Zukunft wünschen, wie wir diese realisieren können und welche Rolle Roboterautos darin spielen sollen. Denn davon hängt ab, welche Gesetze und Regeln erlassen werden, um negative Folgen zu verhindern. Auch öffentliche Investitionen – in vernetzte Infrastruktur oder neue Grünanlagen – brauchen Zeit und sollten einem Plan folgen.
Es wird also etwas komplizierter und kleinteiliger, Visionen zu entwickeln. Aber es können trotzdem optimistische Visionen sein! Wenn das Beispiel Bad Birnbach Schule macht, könnten gerade alte Menschen auf dem Land wieder mobil sein, ihre Einkäufe selbst erledigen und am öffentlichen Leben teilhaben. Platooning, also das Formen von automatisierten LKW-Kolonnen auf der Autobahn, könnte Fahrern ihre Ruhezeiten ermöglichen, Staus und Unfälle verhindern und vielleicht sogar das Klima schonen. Und Innenstädte könnten von Parkplätzen und individuellen PKW befreit werden, ohne dass man auf den Luxus verzichten muss, direkt vor den Geschäften ein- und auszusteigen. Zonen für Roboshuttles könnten es möglich machen. Aber das sind nur ein paar Ideen, die mir einfallen. Ihr habt bestimmt noch andere!
Genau deshalb, um mit euch gemeinsam zu diskutieren und Ideen zu entwickeln, starten wir mit diesem Artikel unseren Themenschwerpunkt: „Fahren 2035. Wir und die Roboterautos.“ Dahinter steckt natürlich die Annahme, dass wir im Jahr 2035 – falls wir dann trotz KI noch arbeiten müssen – tatsächlich ganz alltäglich mit dem Robotaxi ins Büro fahren können – falls wir dann trotz VR und AR noch ins Büro müssen. Irgendwann müssen sie ja schließlich kommen, die selbstfahrenden Autos.
Also, liebe Mitglieder von 1E9, geht ihr davon aus, dass wir 2035 in selbstfahrenden Autos unterwegs sind? Und wie könnte ein „realistischer“ Traum vom Roboterauto aussehen, den wir 2035 in die Tat umgesetzt haben sollten? Freue mich auf eine Diskussion mit euch in den Kommentaren unter dem Artikel.
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Dieser Artikel ist Teil des 1E9-Themenspecials: Fahren 2035. Wir und die Roboterautos. Alle Texte und Diskussionen und Mobilitäts-Expertinnen und -Experten aus unserer Community findest du hier!Titelbild: Ceri Thomas / Getty Images