mRNA-Technologie für Impfstoffe und Therapien: „Die Auswirkungen werden gigantisch sein.“

Am 10. Dezember, dem Todestag von Alfred Nobel, werden traditionell die Nobelpreise verliehen. Der Medizin-Nobelpreis geht 2023 an die mRNA-Pioniere Katalin Karikó und Drew Weissmann. Ohne ihre Forschung hätte es die erfolgreichsten Impfstoffe gegen COVID-19 nicht so schnell gegeben. Doch welches Potential steckt noch in der mRNA-Technologie, die auf ihrer Entdeckung aufbaut? Darüber hat 1E9 mit dem Genetiker Wolfgang Nellen gesprochen.

Ein Interview von Wolfgang Kerler

Anfang Oktober verkündete das Preiskomitee seine Entscheidung: Der diesjährige Medizin-Nobelpreis geht an die Forscher Katalin Karikó und Drew Weissmann, beide von der University of Pennsylvania. Sie hätten durch ihre „bahnbrechenden Erkenntnisse“ das Verständnis dafür geschaffen haben, wie mRNA mit dem Immunsystem interagiert.

Die Auswirkungen ihrer Entdeckungen könnten „gigantisch sein“, meint auch Wolfgang Nellen im Interview mit 1E9. Er ist Professor für Genetik a.D., ehemaliger Präsident der Gesellschaft für Genetik, Gründer der Organisation BioWissKomm, die die Öffentlichkeit über Biotechnologie informieren will, und hier in der 1E9-Community als @serigala aktiv.

1E9: Katalin Karikó und Drew Weissmann werden für ihre mRNA-Forschung mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Ist das eine gute Wahl des Komitees, was meinst du?

Wolfgang Nellen: Natürlich ist das eine gute Wahl. Die Auswirkungen von dem, was Katalin Karikó und Drew Weissmann gemacht haben, werden gigantisch sein – nicht nur in der Medizin, sondern in Zukunft auch noch in anderen Gebieten. Ein bisschen Einspruch muss ich aber trotzdem erheben. Denn es ging schon verdammt schnell mit dem Nobelpreis. Das ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, dass andere Leute seit zehn Jahren und länger auf der „Warteliste“ stehen. Sehr wahrscheinlich hat die erfolgreiche Anwendung der Forschungsergebnisse dabei eine Rolle gespielt.

Katalin Karikó und Drew Weissmann haben insbesondere mRNA erforscht. Diese gibt Zellen die Anweisung, bestimmte Proteine zu erzeugen. Warum haben die beiden darin so viel medizinisches Potential gesehen?

Wolfgang Nellen: Das lässt sich sehr gut an Impfstoffen erklären. Bisher musste man abgetötete, abgeschwächte Viren oder zumindest deren komplex zu konstruierenden Proteine von außen in den Körper spritzen, damit diese als fremd erkannt werden und es zu einer Immunreaktion kommt. Mit mRNA kann man die körpereigenen Zellen dazu bringen, die Proteine des Virus – und wirklich nur diese winzigen Teile davon – zu produzieren, wodurch die Immunantwort ausgelöst wird. Beim COVID-19-Impstoff ging es dabei um das Spike-Protein.

In der Theorie ist das seit Jahrzehnten bekannt, ließ sich in der Praxis allerdings nicht umsetzen. Warum nicht?

Wolfgang Nellen: Die erste Frage, die beantwortet werden musste, war: Wie bekommt man die mRNA überhaupt in eine Zelle? Dafür wurden winzige Fett-Tröpfchen, also Nanopartikel, als Verpackung erfunden. Doch es gab noch zwei andere Probleme.

Denn, ja, man hat schon vor vielen Jahren in Tierversuchen probiert, ob sich mRNA erfolgreich injizieren lässt. Zum Beispiel hat man Mäusen mRNA gespritzt, die Zellen für ein grün-gefärbtes Protein codiert. Und ganz nah bei der Einstichstelle fand man dann tatsächlich ein paar Zellen, die auf einmal grün waren, weil sie dieses Protein produzierten. Man sah also, dass es im Prinzip funktioniert, aber ausgesprochen miserabel, da mRNA nicht stabil genug ist und nur kurzzeitig als Bauplan funktioniert. Das war das erste Problem. Das zweite war, dass mRNA, die von außen in eine Zelle gebracht wird, als fremd erkannt wird, was zu einer Reaktion des angeborenen Immunsystems führt. Es kam zum Beispiel zu eitrigen Entzündungen, als wäre Dreck in eine Wunde gekommen.

Diese beiden Probleme mussten also noch gelöst werden: mRNA hält nicht und sie führt zu Komplikationen. Beides haben Katalin Karikó und Drew Weissmann dann auf einen Schlag gleichzeitig gelöst.

Und wie?

Wolfgang Nellen: RNA, also auch mRNA, setzt sich ähnlich wie DNA aus vier verschiedenen Bausteinen zusammen, den Nukleotiden oder Basen. Von diesen gibt es allerdings ungefähr 150 verschiedene Modifikationen in Form von kleinen chemischen Änderungen.

Genau auf diese haben sich Katalin Karikó und Drew Weissmann konzentriert und haben dabei eine einzelne Modifikation gefunden, um die Probleme der Instabilität und der Entzündungen zu lösen. Dafür muss der „Original-Baustein“ durch ein chemisch verändertes „Pseudo-Original“, das in manchen RNAs tatsächlich vorkommt, ausgetauscht werden. Das war der Durchbruch, ab dem man synthetische mRNA erfolgreich injizieren konnte.

Du hast vorhin schon erklärt, wie mithilfe der mRNA-Technologie Impfstoffe hergestellt werden können. Lass uns das noch vertiefen. Was sind die Vorteile gegenüber konventionellen Verfahren, um Impfstoffe zu entwickeln?

Wolfgang Nellen: Der wesentliche Vorteil ist: Es geht mit mRNA schneller. Ein großes Problem, was wir bei Corona gesehen haben, ist: Solche Viren mutieren wie verrückt. Es entstehen neue Varianten – und schon wirkt ein Impfstoff nicht mehr so gut. Aber mRNA-Impfstoffe kann man deutlich schneller anpassen als konventionelle Impfstoffe.

Ein weiterer Vorteil ist die Kombination von Impfungen. Gerade arbeitet eine Firma daran, zum Beispiel Grippe-Impfstoffe zu entwickeln, mit denen die 20 häufigsten Varianten der Grippe, also Influenza abgedeckt werden. Mit einer Spritze impft man dann quasi 20 verschiedene Impfstoffe. Auch an einer Kombinations-Impfung gegen Grippe und Corona wird gearbeitet.

Und dann ist da noch ein dritter Vorteil der Technologie, den ich richtig toll finde: Es wird jetzt damit angefangen, kompakte Anlagen zu bauen, mit denen mRNA-Impfstoffe weitgehend automatisiert produziert werden können – und damit auch in Ländern, in denen es nicht genug technisch und wissenschaftlich ausgebildetes Personal gibt, um konventionelle Impfstoffe sicher herzustellen. Denn einen Nachteil haben mRNA-Impfstoffe bisher: Sie sind nicht wahnsinnig lange haltbar und relativ schwer zu transportieren. Deshalb wäre es hilfreich, sie vor Ort zu produzieren.

Über COVID-19 und Influenza haben wir schon gesprochen. Welche anderen Impfstoffe wären mit mRNA denkbar? Und welche sind vielleicht sogar schon auf dem Markt?

Wolfgang Nellen: Auf dem Markt gibt es erstaunlicherweise noch nichts. Aber einige Impfstoffe stehen kurz vor der Zulassung und unheimlich viele befinden sich in der Pipeline der Hersteller, man muss nur auf die Webseiten von BioNTech oder Moderna gehen. Das reicht von Malaria über HIV/Aids bis zu interessanten Ansätzen wie der Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen. Es wird praktisch an jedem Erreger gearbeitet.

BioNTech hat zuletzt auch Fortschritte im Kampf gegen Krebs vermeldet, auch mit mRNA. Wie könnte die Technologie dabei helfen? Geht es um eine Therapie oder auch um einen Impfstoff?

Wolfgang Nellen: Tatsächlich ist das Ziel ein Impfstoff, der dann vermutlich in Kombination mit anderen Therapien eingesetzt wird. Was hier versucht wird, nicht nur von BioNTech, ist eine wirklich ambitionierte Geschichte.

Es ist so, dass sehr viele Krebszellen vom Immunsystem erkannt und unschädlich gemacht werden. Wäre das nicht so, hätten wir viel, viel mehr Erkrankungen. Die Immunabwehr gegen Krebs funktioniert also in vielen Fällen. Problematisch sind die Krebsarten, die dem Immunsystem entgehen, weil sie sich tarnen, sich unsichtbar machen und vom System nicht erkannt werden. Ein möglicher mRNA-Impfstoff soll deswegen bei der Erkennung helfen. Das heißt, es gibt bestimmte Oberflächenstrukturen von Krebszellen, die zur Grundlage für Impfungen werden könnten, wie die Spike-Proteine bei COVID-19.

Das Problem ist nur: Diese Oberflächenstrukturen sind individuell. Man braucht also eine mehr oder weniger personalisierte Medizin. Ich glaube daher, dass es noch einige Zeit dauern wird und dass es nicht für alle Krebsarten funktionieren wird, sondern nur für einige wenige. Aber wenn man dabei Erfolge erzielt: prima! Dann kann man weiterforschen. Es lohnt sich auf jeden Fall, diesen Ansatz weiterzuverfolgen.

Dein Spezialgebiet ist die als „Genschere“ bekannte CRISPR-Cas-Methode. Bevor wir klären, wie sich die mit mRNA-Technologie kombinieren lässt, zur Auffrischung: Worum handelt es sich bei CRISPR?

Wolfgang Nellen: Auch um ein Immunsystem, aber eines, das vollkommen anders aufgebaut ist als das menschliche, das aus einem Repertoire an Antikörpern gegen alle möglichen Erreger besteht. Bakterien machen das anders. Wenn sie infiziert sind, schneiden sie ein kleines Stück DNA des Virus heraus und bauen es in ihre eigene DNA ein. Dieser Abschnitt wird CRISPR genannt. Per RNA wird er dann wie ein Fahndungsfoto an Enzyme, die Cas-Proteine, weitergegeben, die wie eine Patrouille in der Zelle nach Eindringlingen suchen, die dem Fahndungsfoto ähneln. Wird ein Eindringling in Form eines Virus gefunden, wird seine DNA vom Cas-Protein zerschnitten und eine Infektion verhindert. Suchen, finden, zerschneiden.

In der Forschung oder Medizin wird die CRISPR-Cas-Methode gezielt genutzt, um in jedem beliebigen Organismus die DNA an einem bestimmten Abschnitt zu schneiden. Diese wird dabei nicht vollständig zerstört, da in der Zelle ein Reparatur-Mechanismus einsetzt, um das entstandene Loch zu schließen. Dabei kommt es zu Mutationen, die meistens dazu führen, dass ein Gen ausgeschaltet wird. Das wird inzwischen in vielen Bereichen genutzt, in der Landwirtschaft, zum Beispiel, um Pflanzen zu optimieren.

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So, und jetzt kombinieren wir mRNA und CRISPR: Was lässt sich damit anstellen?

Wolfgang Nellen: Ein Beispiel dafür finde ich ziemlich genial: Um eine Virusinfektion der Lunge zu behandeln, hatten Forscher den Einfall, die mRNA der benötigten Cas-Proteine – also der Patrouille – und ein entsprechendes „Fahndungsfoto“ des Virus direkt in die Lunge zu bringen. Dafür wurde die mRNA zuerst basierend auf der Erfindung von Karikó und Weissmann modifiziert und dann in die winzigen Fett-Tröpfchen verpackt. Die wurden aber nicht per Spritze injiziert, sondern in ein Aerosol für einen Inhalator verwandelt.

Atmet der Patient dann tief ein, holt er sich die Tröpfchen bis in die Lunge und sie dringen in die Zellen ein, die vom Virus infiziert sind. Dort wird die mRNA ausgepackt und das Cas-Protein produziert, was sich dann das Fahndungsfoto schnappt, um das Virus zu zerstören. An Menschen wurde das noch nicht getestet, hat aber im Tierversuch mit Hamstern hervorragend funktioniert. Die Viruslast in den Lungen ist dramatisch gesunken und die Tiere waren anschließend praktisch symptomfrei.

Ohne die mRNA-Technologie wäre das nicht möglich gewesen, weil es nicht einfach ist ein fertiges Cas-Protein inklusive der Information zum Virus, das bekämpft werden soll, in eine Zelle zu bringen. Mir ist nicht bekannt, dass das schon versucht wurde oder gelungen ist. Doch mit der Kombination der beiden Technologien kann man den infizierten Zellen die Bauanleitung für die nötige Genschere geben und sie produzieren sie selbst.

Zum Schluss noch der Ausblick auf 2024: Wer sollte da unbedingt den Medizin-Nobelpreis bekommen und wofür?

Wolfgang Nellen: Vor vielen Jahren war ich selbst ein bisschen involviert in die Auswahl der Preisträger, musste Gutachten verfassen und solche Dinge. Aber ich habe schon damals nicht verstanden, wie das Komitee tickt und was die Entscheidungen beeinflusst. Ich weiß also wirklich nicht, wer den Preis bekommen könnte.

Aber es gibt natürlich ein paar Durchbrüche, die ich persönlich toll finde. Dazu gehört eine erfolgreiche CRISPR-Therapie gegen Blutkrankheiten. Auch die Versuche, ganze Genome zu synthetisieren, finde ich zukunftsweisend. Das Hefe-Genom, zum Beispiel, ist zu 50 Prozent fertig. Ob das allerdings schon ausreicht für einen Nobelpreis? Ich traue mich wirklich nicht, eine Vorhersage zu machen.

Vielleicht noch eine generelle Anmerkung: Im Grunde kriegen die Nobelpreise immer mehr symbolischen Charakter, da zwei oder drei Personen ausgezeichnet werden, obwohl in Wirklichkeit 200 Leute auf der Bühne stehen müssten, ohne die es die Durchbrüche nicht gegeben hätte. Trotzdem finde ich es gut, einzelne Personen symbolisch auszuzeichnen – und gerade Katalin Karikó und Drew Weissmann sind wirklich eine hervorragende Wahl.

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"Mir gefällt, wie in diesem Artikel ein komplexer Sachverhalt einfach und klar verständlich erklärt wird. Hervorragende Zusmmenarbeit zwischen dem Autor und dem Wissenschaftler, der auf Standesdünkel bewußt verzichtet."

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"Klasse in der fachlichen Beschreibung der Methoden, jedoch in einfacher Sparche! Seit heute weiß ich viel mehr, als dass ich in komplizierten Artikeln jemals erfahren könnte. Sehr gute Arbeit!"

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"Es ist eine sehr anschaulicher und verständlicher Bericht. Gratulation!"

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