Was sind ein paar Jahrzehnte Forschung an immer schlaueren Algorithmen gegen vier Milliarden Jahre Evolution? Das australische Start-up Cortical Labs züchtet Gehirnzellen, die mit Computerchips verwachsen – und ist überzeugt, dass Synthetische Biologische Intelligenz der Künstlichen Intelligenz überlegen sein kann. Pong spielen können die Neuronen der Firma schon. Als nächstes sollen sie ins Metaverse ziehen.
Von Wolfgang Kerler
Während sich die Welt angesichts des Riesenerfolgs von ChatGPT, DALL-E 2 oder Stable Diffusion auf die Machtübernahme der Künstlichen Intelligenz vorbereitet, gibt sich Andy Kitchen eher unbeeindruckt. Für ihn sind die Computerprogramme, die als KI bezeichnet werden, nichts anderes als „statistische Datenbanken“, die „mathematische Optimierungen“ vornehmen. „Und, klar, eine wirklich gute statistische Datenbank, die Informationen zusammenführen kann, ist äußerst nützlich“, sagt er im Gespräch mit 1E9. „Aber sie ist keine Intelligenz im eigentlichen Sinne.“
Andy Kitchen ist Entwickler und Forscher, der sich mit Künstlicher Intelligenz, mit maschinellem Lernen, aber auch mit Neurowissenschaft beschäftigt – und er hat das australische Start-up Cortical Labs mitgegründet, das im vergangenen Jahr weltweit für Furore sorgte. Der Firma gelang es, in einer Petrischale lebende Gehirnzellen zu züchten und diesen beizubringen, das Video Game Pong zu spielen. Die vermeintliche Spielerei sollte die Grundannahme von Cortical Labs untermauern: Wer Maschinen wolle, die wirklich intelligent sind und tatsächlich lernen können, komme an der Biologie nicht vorbei.
„Wenn wir heute von maschinellem Lernen sprechen, verwenden wir zwar das Wort Lernen, aber das ist kein Lernen, sondern mathematische Optimierung“, erklärt Andy Kitchen. „Ein Computer verfügt über Logik, Daten und Programme, aber sie sind alle voneinander getrennt, sie sind nicht integriert, während das Wissen in einem natürlichen neuronalen Netz vollständig in der Substanz verankert ist.“
Lernen im Gehirn sei untrennbar mit Berechnungen, Wahrnehmungen, Erfahrungen verbunden. Datenbanken löschen oder aktualisieren, neue Software aufspielen, alte Backups wiederherstellen: Mit Computern funktioniere das, mit dem Gehirn nicht. Denn dort finde das Lernen in Form von tatsächlichen Veränderungen auf atomarer Ebene statt. „Das System verändert sich selbst, wenn es mit neuen Informationen konfrontiert wird“, sagt Andy Kitchen. „Ein Computerchip dagegen verändert sich nie, selbst wenn du dasselbe Programm eine Million Mal laufen lässt.“
Deswegen, meint er, werde Künstliche Intelligenz, die mit künstlichen neuronalen Netzen funktioniert, zwar für einige Zeit das Feld dominieren. „Doch wenn es dann nicht mehr darum geht, vorhandene Informationen neu anzuordnen, sondern wirklich neue Wege zu gehen, werden sich die Vorteile von biologischen neuralen Systemen zeigen.“ Von digital-biologischen Computern, die tatsächlich intelligent sind – also auch verstehen, was sie tun – ist Cortical Labs momentan allerdings noch ein gutes Stück entfernt.
Ähnlichkeiten zu Neuralink – und Unterschiede
Im Moment spielen die gezüchteten Gehirnzellen noch Pong – und auf der diesjährigen DLD-Konferenz in München erklärte Andy Kitchen Kitchen, wie sie dazu gebracht wurden. Angesiedelt auf einem Chip breiteten sich in einer Variante menschliche, in einer anderen Variante die Gehirnzellen von Mäusen über das darauf befindliche Gatter aus Mikroelektroden aus. Sie überwucherten es regelrecht. Mit den Elektroden ließen sich die biologischen Neuronen nicht nur stimulieren, auch ihre Aktivitäten konnten damit ausgelesen werden.
Das klinge zwar ähnlich wie die Funktionsweise von Gehirn-Computer-Schnittstellen, wie sie beispielsweise das Elon-Musk-Start-up Neuralink entwickelt. Doch bestehe zwischen beiden Systemen ein großer Unterschied. Bei Neuralink werde das Interface in einen bestehenden Organismus eingeführt. „Im Fall unserer Arbeit handelt es sich um eine SBI, eine Synthetische Biologische Intelligenz. Wir lassen die Neuronen im Interface wachsen. Wir haben die komplette Kontrolle, komplette Reproduzierbarkeit und eine sehr große Bandbreite.“
Diese Bandbreite für die Übertragung von Informationen aus den Gehirnzellen und in die Gehirnzellen brauchte es für den Schritt, in dem die „Magie“ passierte, wie Andy Kitchen es formulierte: die Zellen wurden darauf trainiert, Pong zu spielen. Zumindest die Ein-Spieler-Variante davon.
„Wir haben die einschichtige Neuronenkultur in einen sensorischen Bereich und zwei motorische Regionen eingeteilt und dann mit dem Pong-Spiel verbunden“, erklärt Andy Kitchen. Das heißt, über einen Bereich des Elektrodengatters konnten die Zellen anhand von elektrischen Impulsen nachverfolgen, wo im Spiel sich der Ball befindet. Über zwei andere Bereiche konnten die Neuronen durch eigenes Feuern signalisieren, ob sich der Balken, mit dem der Ball wieder zurückgestoßen werden soll, nach oben oder unten bewegen soll.
Gehirnzellen mögen keine Überraschungen
Um die Neuronen zu trainieren, folgte das Team von Cortical Labs dann dem in den Neurowissenschaften populären – wenn auch nicht gänzlich unumstrittenen – Prinzip der freien Energie, das der Brite Karl Friston postulierte. Es besagt, vereinfacht formuliert, dass Gehirne Überraschungen so gut wie möglich vermeiden wollen. Das machte sich Cortical Labs zunutze.
„Im Wesentlichen bestrafen wir das Verhalten des Neuronensystems, indem wir es mit einer zufälligen Sequenz stimulieren, wenn es etwas tut, was wir nicht wollen, zum Beispiel den Ball verfehlen“, sagt Andy Kitchen. Träfen die Gehirnzellen dagegen den Ball, würden sie mit einer strukturierten, also nicht überraschenden Sequenz stimuliert und belohnt. „Wir haben das System nicht wie einen Algorithmus konstruiert und ihm gesagt, wenn das passiert, tue das. Es hat sich selbst organisiert – auf Basis seiner Erfahrungen.“
Ein echter Erfolg, der auch in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publiziert wurde. Aber, wie geht es jetzt weiter für Cortical Labs? „Könnten wir einfach alles verhundertfachen – Hundert mal mehr Neuronen, Hundert mal mehr Bandbreite, um Informationen zu übertragen, dazu bessere Kodierungsverfahren –, würden wir dann etwas erschaffen, was die Intelligenz eines Tieres hätte?“, fragt Andy Kitchen selbst. „Ich denke schon.“ Doch die nächsten Schritte, die sich das Start-up vorgenommen hat, sind bescheidener.
Werde Mitglied von 1E9!
Hier geht’s um Technologien und Ideen, mit denen wir die Welt besser machen können. Du unterstützt konstruktiven Journalismus statt Streit und Probleme! Als 1E9-Mitglied bekommst du frühen Zugriff auf unsere Inhalte, exklusive Newsletter, Workshops und Events. Vor allem aber wirst du Teil einer Community von Zukunftsoptimisten, die viel voneinander lernen.
Jetzt Mitglied werden!Zunächst kriegen andere Firmen oder Forschungseinrichtungen Zugriff auf die von Cortical Labs gezüchteten Gehirnzellen. „Wet ware as a service“, nennt Andy Kitchen das Geschäftsmodell. Damit könnten neue Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns gewonnen werden, die längst nicht vollständig erforscht ist. Nicht nur könnten Krankheitsbilder wie Epilepsie, Schizophrenie oder Depressionen erforscht werden, sondern auch die Wirkung möglicher Medikamente erprobt werden – ohne Tierversuche.
„Wir haben vorläufige Daten aus einer Kooperation, bei der wir Neuronen hatten, die eine Art Epilepsie haben und nicht lernten, bis wir Antiepileptika verabreichten“, erklärt der Firmengründer. Erst mit den Medikamenten lernten die Zellen, Pong zu meistern. „Wir können also nicht nur die Wirkung von Medikamenten auf die Gehirnaktivität testen, sondern auf die Kognition selbst.“
Eine Cyberpunk-Kuh im Metaverse?
Auch die Entwicklung der Synthetischen Biologischen Intelligenz will Cortical Labs weiter vorantreiben – und das auch weiterhin mit öffentlichkeitswirksamen Konzepten. „Wir wollen das erste im Metaverse einheimische Wesen erschaffen“, sagt Andy Kitchen. Mit den Pong-spielenden Neuronen konnte niemand außer dem Cortical-Labs-Team interagieren. Mit Gehirnzellen, die über die Elektroden, auf denen sie wachsen, eine digitale Existenz im Metaverse führen könnten, könnten dagegen viele User Kontakt aufnehmen.
Wie dieses Metaverse-Wesen aussehen soll? „Das wissen wir noch nicht. Aber ich fände eine schwebende Cyberpunk-Kuh ziemlich cool, der man Bälle zuwerfen könnte“, meint Andy Kitchen. „Wir machen wirklich viel Wissenschaft, aber wir müssen die Menschen auch dafür begeistern. Ich glaube eine Cyberpunk-Kuh im Metaverse könnte das schaffen.“
Titelbild: Cortical Labs
Hat dir der Artikel gefallen? Dann freuen wir uns über deine Unterstützung! Werde Mitglied bei 1E9 oder folge uns bei Twitter, Facebook, Instagram oder LinkedIn und verbreite unsere Inhalte weiter. Danke!
Sprich mit Job, dem Bot!
War der Artikel hilfreich für dich? Hast du noch Fragen oder Anmerkungen? Ich freue mich, wenn du mir Feedback gibst!