Ein Interview von Wolfgang Kerler
Vielleicht werden wir als die Vorfahren der wirklich modernen Menschen in die Geschichte eingehen. Als eine Spezies, deren Exemplare selten perfekt ausfielen. Einige konnten schnell laufen, andere gut rechnen, manche wurden steinalt, viele starben frühzeitig. Das könnten Supermenschen des 22. Jahrhunderts in historischen Dokumentationen über ihre Urahnen erfahren – und sich darüber wundern. Wären sie doch alle schlau, sportlich, gesund und gentechnisch optimiert.
Klingt wie Science-Fiction. Doch seit der chinesische Forscher He Jiankui im November 2018 verkündete, die ersten CRISRP-Babys erschaffen zu haben, scheint eine solche Zukunft durchaus plausibel. Er gab an, bei den Embryos der beiden Mädchen das Gen CCR5 verändert zu haben, um sie immun gegen HIV zu machen. Schließlich gilt CCR5 als Einfallstor für das Virus. Dazu nutzte He Jiankui die oft „Genschere“ genannte Methode CRISPR/Cas. Da derartige Experimente an Menschen auch in China illegal sind, wurden er und drei seiner Kollegen inzwischen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt.
Sind Gene für Reichtum und Einkommen verantwortlich?
Auch die Ergebnisse von Genome-Wide Association Studies , kurz GWAS, sorgen immer wieder für spannende Schlagzeilen. Ein Beispiel gefällig? „Wissenschaftler finden 24 ‚goldene‘ Gene, die uns dabei helfen, reich zu werden“, schrieb die Sunday Times im Frühjahr 2019. Der Artikel handelte von der Forschung eins Teams um den schottischen Genforscher David Hill, das nach Genvarianten suchte, die mit wirtschaftlichem Erfolg in Verbindung stehen.
Dafür nutzten Hill und seine Kollegen die UK Biobank, die größte genetische Datenbank der Welt. Sie fanden darin die genetischen Daten von 286.000 Teilnehmern, die zusätzlich Angaben zu ihrem Haushaltseinkommen gemacht hatten. An 18 Millionen Stellen im Genom dieser Menschen suchten die Wissenschaftler nach Genvarianten, die besonders häufig bei hohem Einkommen vorkommen. An etwa 30 Stellen wurden sie fündig und konnten diese, nach eigenen Angaben, mit 7,4 Prozent der Einkommensunterschiede in Verbindung bringen. Das heißt im Umkehrschluss, dass sie für 92,6 Prozent der Differenzen keine Korrelationen im Genom entdeckten.
Die Debatte, die nach der Veröffentlichung der umstrittenen Studie begann, stellte schließlich ganz grundsätzlich den Sinn und Zweck von Genome-Wide Association Studies in Frage. Was bringt es, in den wachsenden Bergen menschlicher Gendaten nach Erklärungen für bestimmte Eigenschaften zu suchen? Können GWAS die genetischen Ursachen menschlicher „Schwächen“ lokalisieren, die bei zukünftigen Generationen „weggeCRISPRt“ werden können? Oder findet man nur nutzlose Korrelationen?
Das wollten auch wir wissen – und konnten dazu einen Experten aus der 1E9-Community befragen: Wolfgang Nellen. Der Professor für Genetik an der Universität Kassel ist inzwischen im Ruhestand, engagiert sich aber als Mitgründer beim Verein Science Bridge, der Schülern und Nicht-Wissenschaftlern genetische Experimente näherbringen will. Bei 1E9 ist Wolfgang Nellen als @serigala angemeldet. Er steht für weitere Fragen aus der Community gerne zur Verfügung!
1E9: Man bekommt langsam das Gefühl, unsere Gene erklären alles. Ob wir tanzen können oder nicht , ob wir Hunde mögen oder nicht , ob wir reich werden oder nicht. Das müsste dich als Genetiker doch freuen, oder?
Wolfgang Nellen: Ich finde es vor allem ungeheuer interessant, was alles aufs Genom geschoben wird. Sogar die Politik-Berichterstattung hat die DNA entdeckt. Ständig lese ich Sätze wie: „Das ist in der DNA der SPD“ oder in der DNA von Physikern, der Fridays-for-Future-Bewegung oder der Bratwurstverkäufer. Das zeigt, dass wir auch in den Medien eine Phase erleben, in der von einer starken genetischen Prädetermination ausgegangen wird. Es entsteht der Eindruck, wir müssten in unserem Leben gar nichts mehr tun, weil sowieso alles durch unsere Gene vorbestimmt ist.
Ich erinnere mich noch an ganz andere Zeiten. Hätte ich in meiner Anfangszeit als Dozent gesagt, dass bestimmte Dinge genetisch bedingt sind, wäre ich wahrscheinlich gesteinigt worden. In den 1960er und 70er Jahren war Genetik höchstens etwas für Erbsen oder Fliegen. Der Mensch galt als unbeschriebenes Blatt – und seine Umwelt wurde für alles verantwortlich gemacht, egal ob für Intelligenz oder soziale Eigenschaften.
Und was ist der heutige Stand der Wissenschaft? Bestimmen unsere Gene oder unsere Umwelt, wer und wie wir sind?
Wolfgang Nellen: Die Antwort lautet: beides. Wie hoch allerdings der Anteil der Genetik und der Anteil der Umwelt sind, ist sehr schwer zu sagen.
Genauere Erkenntnisse sollen auch die umfangreichen Genome-Wide Association Studies liefern. Die werden allerdings immer wieder kritisiert. Was hältst du von GWAS?
Wolfgang Nellen: Ich finde, GWAS sind eine tolle Methode. Man muss nur wissen, wo ihre Grenzen sind. Vor allem muss man sich immer im Klaren darüber sein, dass man über Korrelationen redet – und Korrelationen sind etwas anderes als Kausalitäten.
Ich erinnere an den Zusammenhang zwischen der Anzahl von Störchen und der Geburtenrate. Da findet man wunderbare Korrelationen, da es auf dem Land nicht nur mehr Störche, sondern – im Verhältnis zur Einwohnerzahl – auch mehr Babys gibt. Natürlich könnte man daraus schließen, dass der Storch die Kinder bringt. Es ist aber nicht richtig.
Das Problem an den GWAS ist, dass sie gerne populistisch überinterpretiert werden. Sie erlauben jedoch eine Hypothese, die experimentell überprüft werden kann.
Aus der kürzlich von David Hill und seinem Team veröffentlichten Studie geht also nicht hervor, dass bestimmte Genvarianten für Reichtum verantwortlich sind. Ist sie also ein Beispiel für eine überflüssige GWAS?
Wolfgang Nellen: So fürchterlich blöd finde ich diese Korrelation zwischen Einkommen und Genetik gar nicht. Zuerst habe ich auch gelacht und gedacht: Was soll der Quatsch? Beim genaueren Hinsehen fand ich das Ergebnis aber ganz interessant, wenn auch fast schon trivial. Die „Reichtumsgene“, die dort gefunden wurden, überschneiden sich mit den „Intelligenzgenen“, die andere GWAS ermittelt haben. Der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Einkommen ist statistisch gesehen nicht ganz unsinnig.
Du hast die Anführungszeichen um „Reichtumsgene“ und „Intelligenzgene“ nochmals betont. Warum?
Wolfgang Nellen: Weil wir eben auch hier nur von Korrelationen sprechen. Bestimmte Genvarianten kommen bei Menschen, die reich oder – nach unserer heutigen Definition – intelligent sind, häufiger vor. Diese Ergebnisse von GWAS-Studien sehe ich als Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen. Die sollten klären, was genau dahintersteckt und ob es tatsächlich einen kausalen Zusammenhang gibt.
Nehmen wir an, es wird ein kausaler Zusammenhang gefunden zwischen Genvarianten und Intelligenz. Dann müsste es doch möglich sein, Embryonen per CRISPR/Cas so zu optimieren, dass die Kinder intelligent und reich werden, oder? Dass CRISPR-Babys möglich sind, hat He Jiankui schließlich bewiesen.
Wolfgang Nellen: So schnell geht das nicht. Du wirst nicht einfach sagen können: Mein Kind wird später unglaublich reich, weil ich ihm das „Reichengen“ oder das „Intelligenzgen“ gegeben habe. Denn wir reden hier von einzelnen Genen, die im Bereich unter einem Prozent zu dem Merkmal „Reichtum“ oder „Intelligenz“ beitragen.
Man hat sehr viele Gene gefunden, die etwa mit dem, was wir als Intelligenz definieren, zusammenhängen könnten. Eine der gängigen Studien spricht von 300, eine andere sogar von 1000 Genen. Ein einzelnes Gen hat vielleicht einen Anteil von 0,1 Prozent an der Intelligenz. Ein Gen zu „optimieren“ würde daher kaum etwas bringen. Vielleicht kommt bei zehn Genen mehr heraus. Aber vielleicht müssen all diese Gene auch in einer ganz bestimmten Kombination vorhanden sein.
Wir sind noch ziemlich weit davon entfernt, diese Netzwerke genau zu durchschauen und den Beitrag einzelner Gene zu identifizieren. Aber ich denke, dass langfristig gewisse „Optimierungen“ möglich sein könnten. Weitere Versuche wird es auf jeden Fall geben.
Der Wissenschaftler, der die ersten „optimierten“ CRISPR-Babys erschaffen hat, sitzt allerdings erst einmal im Gefängnis.
Wolfgang Nellen: Ja. Aber die Kinder werden von nun an permanent überwacht und bis auf Mark und Knochen analysiert, da bin ich sicher. Sollte das Experiment erfolgreich gewesen sein, wird man das in fünf, sechs Jahren wissen. Vielleicht sogar früher. Das könnte auch deshalb zu einem Boom der Optimierungsversuche geben, weil es für He Jiankui möglicherweise gar nicht um HIV-Resistenz ging.
Wie kommst du darauf?
Wolfgang Nellen: Ich mag da ein bisschen ein Aluhutträger sein. Aber ich habe meine Zweifel daran, dass es He Jiankui primär um HIV ging. Schließlich gibt es eine Therapie für HIV.
Ich glaube, dass er eigentlich versucht haben könnte, das Gedächtnis der beiden Mädchen zu optimieren. Das betroffene Gen CCR5 hat nämlich die komplizierte Eigenschaft vieler Gene: Es ist multifunktionell. CCR5 ist zum einen das Einfallstor für HIV oder auch das Pockenvirus. Doch die Mutation von CCR5 sorgt bei Menschen auch für eine bessere Regeneration der Nerven nach einem Schlaganfall. Und in Versuchen mit Mäusen stellte man fest, dass sie durch eine Mutation im CCR5 Gen ein besseres Gedächtnis bekommen.
Unabhängig davon, worum es He Jiankui eigentlich ging: Sein Vorgehen wurde selbst in China als unethisch kritisiert. Könnte das nicht weitere Optimierungsversuche verhindern?
Wolfgang Nellen: Ob weitere Forschung als ethisch vertretbar angesehen wird oder nicht, da ich hänge ich mich mal ein bisschen aus dem Fenster, wird davon abhängen, ob He Jiankuis Experiment einigermaßen funktioniert hat. Wenn das Gedächtnis der Mädchen auch nur geringfügig verbessert wurde, ist ein Optimierungs-Boom kaum zu verhindern.
Wann könnte also das Zeitalter der genetisch optimierten Menschen beginnen? Bei CRISPR und ähnlichen Methoden gibt es schließlich laufend Fortschritte. Und GWAS liefert dauernd neue potenzielle Zielgene, die man „optimieren“ könnte.
Wolfgang Nellen: Ich glaube, das Zeitalter, in dem Optimierungen versucht werden, hat bereits angefangen. Ob dabei wirklich Erfolge erzielt werden, wird man wohl erst in 30 oder 40 Jahren wissen – vielleicht aber auch schon früher.
Wer sich intensiver mit der Frage beschäftigen will, wie Gentechnik die Zukunft unserer Spezies verändern wird, kann sich zu einem kostenfreien Szenario-Workshop anmelden, der am 5. Februar 2020 im Museum für Naturkunde stattfindet. Zu dem Gedankenexperiment laden das Forschungsprojekt „Zukunft Mensch“ und das Projekt CRISPR-Whisper der Science Bridge ein. Wolfgang Nellen wird auch dabei sein. Außerdem hält er am 21. März 2020 einen Vortrag mit dem Titel „CRISRPCas – Die Genschere erklärt“ im Mikrotarium Berlin, zu dem ihr euch ebenfalls schon jetzt kostenfrei anmelden könnt.
Alle Mitglieder der 1E9-Community können Wolfgang Nellen alias @serigala gerne weitere Fragen zu Gentechnik, CRISPR und GWAS stellen!
Titelbild: Andrew Brookes / Getty Images