Von Wolfgang Kerler
Der Alltag ist durch die technologischen Innovationen der 2010er komfortabler geworden, keine Frage. Und Langeweile gibt es auch nicht mehr. Zumindest wenn man mobiles Internet und ein Smartphone hat. Während einer günstigen Uber-Fahrt direkt ans Ziel können wir jetzt bei Amazon Fresh den Einkauf im Supermarkt erledigen, der abends nach Hause geliefert wird. Im Anschluss ist es kinderleicht, die perfekten Filter-Selfies der Freunde und Influencer bei Instagram zu liken und gleich noch ein kleines, aus dem Autofenster gefilmtes Video als Story abzusetzen. Dann noch schnell den nächsten Traumurlaub buchen – zum Supersparpreis natürlich! – und ein liebevolles GIF in die Familien-WhatsApp-Gruppe schicken.
Zum Abschluss kurz in eine politische Grundsatzdiskussion auf Facebook oder Twitter eingreifen. Oder wir nutzen die Zeit, um bei OpenPetition einen Antrag zur Rettung der Welt unterstützen. Und schon ist die kurze Autofahrt perfekt genutzt. Wir haben Likes bekommen und verteilt – und zumindest das Gefühl, die Welt ein bisschen verbessert, mit lieben Menschen Kontakt gehalten und uns etwas Gutes getan zu haben. Dabei haben wir sogar noch Geld gespart!
Währenddessen haben wir natürlich eine Spotify-Playlist gehört, die genau auf unsere Hörgewohnheiten abgestimmt ist. Und zwischendurch machte uns eine Push-Nachricht von Spiegel Online auf ein Gewaltverbrechen am anderen Ende der Welt aufmerksam. Beim Aussteigen rät uns Siri, die wir im Bluetooth-Kopfhörer vernehmen, morgen einen Regenschirm mitzunehmen.
Haben uns die Innovationen der 2010er wirklich weitergebracht?
Das alles – und noch viel mehr – ist heute selbstverständlich. War aber vor den 2010er-Jahren kaum vorstellbar. Science-Fiction geradezu. Und in dieser Ballung lesen sich die technischen Neuerungen des gerade vergangenen Jahrzehnts tatsächlich eindrucksvoll. Technologie, die vor allem im Silicon Valley erdacht wurde, hat unser alltägliches Leben innerhalb weniger Jahre nachhaltig verändert. Vieles ist, wie schon gesagt, einfacher und günstiger geworden.
Doch leider endet die Bilanz der 2010er-Jahre damit nicht. Die vermeintliche Erfolgsstory hat nämlich einen ziemlich schalen Beigeschmack. Denn die meisten der genannten technischen Errungenschaften haben nicht nur keine echten Probleme gelöst – wir kamen schließlich auch schon vorher von A nach B, konnten Musik hören, uns über das Weltgeschehen informieren und mit Freunden in Kontakt bleiben. Schlimmer noch, der wahre Preis, den wir für das Mehr an Komfort und Entertainment bezahlt haben, waren teils gravierende neue Probleme.
Für viele der neuen Annehmlichkeiten bezahlen wir mit der Aufgabe unserer Privatsphäre – und erlauben Daten- und Werbekonzernen umfassende Profile über uns anzulegen, während Geheimdienste das Netz ausspähen. Wir – oder besser gesagt: unsere Aufmerksamkeit und unsere Kaufkraft – wurden zum Produkt, das von Internet- und Medienunternehmen gebündelt, verpackt, vermarktet und vermittelt wird.
Politische Grabenkämpfe in den sozialen Netzwerken, die von der vermeintlichen Logik der Algorithmen aufgeblasen wurden, entzweiten die Gesellschaft. Desinformationskampagnen und auf ganz bestimmte Zielgruppen zugeschnittene Werbung, insbesondere auf Facebook, spielten Populisten in die Hände. Und die Gig Economy sowie die Sharing Economy entpuppten sich in vielen Fällen nicht als soziale Errungenschaften, sondern als ein neue, teils brutale Niedriglohn- und Ausbeutungsmaschinerie – oder als Plattform, um ohnehin schon knappen Wohnraum gewinnbringend an Touristen zu vermieten. Und jetzt stehen auch noch überall E-Scooter herum…
Investoren ohne gesellschaftliches Gespür, überforderte Politik
Okay, verglichen mit dem Rest der Liste sind E-Scooter eine ziemlich kleine Sorge. Aber sie sind das perfekte i-Tüpfelchen für ein Jahrzehnt, in dem Tech-Firmen und ihre Geldgeber nach einer Logik vorgingen, die eine Ursache für die vielen neuen Probleme sein dürfte: Investoren pumpten Milliarden in Geschäftsideen, damit diese schnell skalieren. Selbst wenn die Ideen schon auf den ersten Blick gesellschaftlich ziemlich überflüssig oder gar heftig umstritten waren. Hauptsache die Sache war irgendwie disruptiv und bediente den neuesten Hype aus dem Silicon Valley. Die Folgen? Würden schon nicht zu dramatisch ausfallen.
Das wird den umsichtigen Investoren, die es natürlich auch gab, nicht gerecht. Doch bezeichnenderweise finden sich auf der Liste der Start-ups, die die größten Wagniskapitalrunden des Jahrzehnts verbuchen konnten, besonders kontroverse Firmen: Uber, das beispielhaft das ausbeuterische Potential der Gig Economy demonstrierte. WeWork, das seinen Börsengang abblasen musste, weil sich hinter den Buzzwords des Firmengründers doch nur ein altes, wenig profitables Geschäftsmodell verbarg. Oder Ant Financial, das zu Alibaba gehört und hinter Alipay steht, also dem chinesischen Dienstleister für mobiles Zahlen. Alibaba gehört zu den Vorreitern des Social-Credit-Systems in China. Ach ja, Facebook konnte seinen Börsenwert in den 2010ern übrigens mehr als vervierzigfachen.
Selbst als die Debatte über Technologie schon ins Dystopische kippte, fütterten Geldgeber ausgerechnet die Einhörner und Konzerne, deren gesellschaftlicher Nutzen oder Geschäftsmodell wie bei Uber oder WeWork zweifelhaft waren. Gleichzeitig scheiterten idealistische Projekte wie das Münchner Start-up Sono Motors, das ein Solarauto bauen möchte, bei der Suche nach Investoren, denen es nicht nur um Profitmaximierung ging. Und die Politik? Die war überfordert mit der neuen Tech-Welt.
Nach der Finanzkrise und der Schuldenkrise musste sich die Politik erstmal sortieren. Dann versuchte sie – wenn sie nicht gerade mit sich selbst oder der polarisierten Debatte über Migration beschäftigt war – den Scherbenhaufen zusammenzukehren, den der neue Überwachungskapitalismus angerichtet hat. Von Fake News und dem beliebigen Weiterverkauf von Daten über politische Manipulation bis zum Missbrauch von Marktmacht. Zeit für Zukunftsvisionen oder die Rettung des Klimas blieb da leider wenig. Schließlich mussten auch für die E-Scooter noch Regeln erdacht werden, die Versteigerung der 5G-Frequenzen irgendwie über die Bühne gebracht werden und irgendwie der Glasfaserausbau beschleunigt werden…
Zeit für bessere Technologie!
Da ich in 10 Jahren nicht schon wieder einen so deprimierenden Rückblick auf ein Tech-Jahrzehnt schreiben möchte, wünsche ich mir für die 2020er Besserung! Die Politik sollte Rahmenbedingungen schaffen, die das knallharte Vermarkten unserer Aufmerksamkeit und unserer persönlichen Daten – ohne Rücksicht auf Verluste – unterbindet. Die ersten technischen Lösungen dafür sind, wie etwa der Brave Browser oder die Suchmaschine DuckDuckGo zeigen, bereits vorhanden. Dann könnten wir die Auswüchse der Dauerüberwachung endlich hinter uns lassen.
Die Spielregeln für den Einsatz von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz sollten frühzeitig festgelegt werden, damit wir mit KI in den 2020ern nicht das erleben, was uns in den 2010er mit sozialen Netzwerken widerfahren ist. Mit Ethikbeiräten und Selbstverpflichtungen sollte die Gesellschaft die Technologie-Konzerne beim Thema KI daher nicht davonkommen lassen. Dem vielen Gerede über New Work sollten außerdem anständige Arbeitsbedingungen für die Massen an Menschen folgen, die im Auftrag von Tech-Unternehmen in Call Centern, Lagerhallen, Clickwork-Buden, Fahr- und Lieferdiensten schuften. Die profitieren nämlich nicht von den 24/7-Fitness-Centern und dem biologischen Gratis-Lunch, über das sich die händeringend gesuchten Entwickler freuen dürfen. Gerne darf das Internet vom Staat dafür eingesetzt werden, den Bürgern bessere Dienstleistungen anzubieten – und sie besser in den demokratischen Prozess einzubinden.
Und die Lieblinge der Investoren sollten Start-ups werden, die die Welt retten wollen – und trotzdem Geld verdienen werden. Weil sie technologische Lösungen finden, mit denen wir mehr saubere Energie erzeugen können, gleichzeitig weniger Energie verbrauchen und vor allem weniger CO2 ausstoßen. Die Voraussetzung dafür ist natürlich, dass es sich für Unternehmen finanziell lohnt, CO2 einzusparen. Ach ja, was ich anfangs vergessen hatte: Das Uber-Auto war natürlich – ganz im Stil der 2010er – ein SUV.
Titelbild: Jamielawton / Getty Images