Ideen für den Verkehr der Zukunft

Wie wir morgen unterwegs sein werden, wird am Lehrstuhl für Verkehrstechnik der TUM mit Hilfe von Supercomputern simuliert und berechnet. Die Szenarien werden durch ein einzigartiges Testfeld im Münchner Norden optimiert, außerdem bieten sie viele Lösungen für den Straßen- und öffentlichen Nahverkehr von Heute.

tempus
Im Münchner Norden wird der digitalisierte Verkehr der Zukunft erforscht. Die daraus gewonnenen Resultate
verbessern Simulationen und Modelle. Grafik: M. Markreiter, Lehrstuhl Verkehrstechnik/TUM

Wer in München auf den öffentlichen Personennahverkehr setzt, muss mit Enttäuschungen leben: Die App der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) informiert jetzt häufiger, dass Busse ausfallen. Dem Unternehmen fehlen im Spätsommer 2023 wenigstens 50 Fahrer:innen. Auf zehn Buslinien ist das Angebot bereits ausgedünnt. Und wie in München sind Fahrer:innen in Berlin, Frankfurt, Hamburg gefragt: „Wir verzeichnen einen extremen Fachkräftemangel im Verkehrsbereich“, stellt Dr. Klaus Bogenberger, Professor für Verkehrstechnik an der Technischen Universität München (TUM), fest. „An der Automatisierung von Verkehrsträgern führt kein Weg vorbei.“ Autonome Fahrzeuge können den Mangel beseitigen helfen und die Mobilität in den Städten moderner, ruhiger, sicherer machen.

Mit Zukunftsszenarien die Gegenwart verbessern

Mit Hilfe der Supercomputer des Leibniz-Rechenzentrums (LRZ) bereiten Bogenberger und sein Team diese Zukunft vor: Sie simulieren Szenarien, etwa mit Robo-Shuttles in München, auch wie sich Fußgänger:innen, Radler:innen und autonome Fahrzeuge auf der Straße begegnen, zudem wie potenzielle Passagiere selbstfahrende Shuttles annehmen und nutzen könnten. Ebenfalls spannend für die Theorie des Verkehrsablaufs – also Bogenbergers Fachgebiet – ist die Frage, wie der Verkehr flüssiger und sicherer wird: „Wir lösen Optimierungsprobleme – und dazu braucht es schnelle Algorithmen und Rechenverfahren, außerdem die Rechenpower von Supercomputern“, erläutert Bogenberger. „Man kann Verkehr und ganze Ballungsräume simulieren, doch ein wesentlicher Punkt ist, die dafür notwendigen Simulatoren immer realistischer und besser zu machen.“

Entwickeln Forschungsdisziplinen Modelle und Simulationen gewöhnlich dazu, um Systeme oder Prozesse zu verstehen und Prognosen abzuschätzen, verfahren sie am Lehrstuhl für Verkehrstechnik umgekehrt: Sie modellieren Zukunftsszenarien, überprüfen diese mit Hilfe von Experimenten im Straßenalltag. Und verbessern mit den Realitätsdaten wiederum die Modelle und Simulationen. Dass dabei noch aktuelle Probleme gelöst werden, ist praktisch: „Wie Robo-Autos genutzt werden, können wir nicht wissen, weil es bis auf wenige Testfahrzeuge noch keine gibt. Wir können nicht alles real ausprobieren, also brauchen wir Simulation und viele unterschiedliche Modelle“, sagt der Forscher. „Der Verkehrssektor fasziniert die Wissenschaft, weil er die ganze Gesellschaft betrifft, jede:r von uns ist täglich irgendwie mobil. Verkehr ist ein reales System, auf das Politik und Verwaltung Einfluss nehmen wollen.“

Zuletzt simulierte Bogenbergers Team das Ridepooling, den Transportservice auf Zuruf, bei dem sich mehrere Personen mit unterschiedlichen Zielen einen autonom fahrenden Kleinbus teilen. Die Szenarien variierten nach Flotten- und Fahrzeuggrößen, Passagierzahlen und gewünschten Strecken. Sie enthielten Fragen, die dem Traveling Salesman Problem ähneln, also einer Rechnung, die mit jeder Modifikation komplexer und größer wird. Die Simulationen zeigten auf, wie so ein Service mit mehreren tausend Fahrzeugen organisiert werden kann, welche Strecken in München stark frequentiert sind, wann die Shuttles Strom tanken sollten: „Wir rechnen sehr große Szenarien, mit vier oder sechs Personen pro Fahrzeug, mit Flotten von 3000, 5000 und mehr Autos, wenn 10, 20 oder gar 30 Prozent der Bevölkerung mitmachen“, so Bogenberger. Eine Erkenntnis: „Um genutzt zu werden, muss Ridepooling in hoher Qualität und rund um die Uhr angeboten werden, das aber ist ein komplexes Optimierungsproblem, das in Echtzeit gelöst werden muss, weil Kund:innen sofort einen Transport haben wollen.“ Noch eine Lehre: Sollen selbstfahrende und gesteuerte Fahrzeuge einmal neben einander auf einer Straße rollen, müsste der Verkehr durch ein Tempolimit von 30 Stundenkilometern beruhigt werden. Andernfalls wären die autonomen Shuttles überfordert. Inzwischen werden diese Ergebnisse noch durch Umfragen oder Tests abgesichert: „Wir unterstellen, dass jede:r auf Ridepooling rational reagiert“, begründet Bogenberger den Realitätscheck. „Aber was, wenn das Vertrauen in ein Auto ohne Fahrer:in fehlt?“

shuttle
EDGAR ist ein autonom fahrendes Shuttle und Forschungsprojekt,
für das der Lehrstuhl Fahrzeugtechnik einen Kleinbus umgebaut hat.
Foto: A. Heddergott/TUM

fleet
Mit der eigenen Open Source Software FleetPy wird die Nutzung
von autonomen Shuttles in München simuliert.
Grafik: TUM/Lehrstuhl Verkehrstechnik

Einzigartiges Testfeld im Norden Münchens

Neue Mobilitätsangebote wie etwa das Ridepooling, sind Inhalt der Projekte Minga (Münchens automatisierter Nahverkehr mit Ridepooling, Solobus und Bus-Platoons) und TEMPUS sowie des MCube-Clusters für die Zukunft der Mobilität in München, an denen unter anderem die MVG sowie die Stadtwerke München, außerdem auch Unternehmen beteiligt sind und die jeweils vom Bundesministerium für Digitales und Verkehr (BMDV) gefördert werden. Getestet werden dabei auch Busse, die autonom fahren oder automatisiert einem von Menschenhand gesteuerten folgen. Für TEMPUS, das Testfeld für automatisierte und vernetzte Mobilität in München und Umgebung, sind im Norden Münchens zwischen den Autobahnen 9 und 99 sowie dem Olympiazentrum und Unterschleißheim immer wieder autonome Autos von BMW und automatisierte Busse von Ebusco unterwegs. Wie Kameras, Drohnen und Kontaktschleifen im Testfeld Straßen und Verkehr kontrollieren, wurde auf der Internationalen Autoausstellung IAA Mobility 2023 gezeigt. Ausgewählte Autos und Fahrer:innen empfangen während des Feldversuchs über 4G- und 5G-Netze Echtzeitdaten zu Staus und Unfällen, Ampeln regelten damit den Verkehrsfluss: „Ein solches Testfeld aus allen Straßenkategorien ist weltweit bisher einzigartig, es geht nicht nur um automatisierten Verkehr in der Stadt, die Vorbereitung der Infrastruktur und neue Transportkonzepte“, so Bogenberger. „Weiteres Ziel ist die Standardisierung der Datenflüsse.“ Informationen von smarten Ampeln, Kameras, aus Testfahrzeugen und aus Service-Apps fließen zusammen, sollen automatisiert harmonisiert und damit nutzbar werden. Dann könnten aus diesen Informationen digitale Zwillinge von Mobilitätsdiensten oder von Straßenzügen konstruiert werden, mit denen Leitstellen wiederum das Geschehen auf Schiene und Straße intelligenter managen könnten.

Frei verfügbare Daten gefragt

Noch ist das eine Zukunftsvision – für die sowohl simulierte Szenarien wie auch reale Experimente Grundlagen liefern: „Jeder Gerätehersteller, Mobilfunkanbieter oder Fahrzeughersteller speichert Bewegungsdaten weltweit. Das große Dilemma der Forschung ist, dass sie zu diesen Daten keinerlei Zugang haben“, klagt Bogenberger. Daher setzen sie am Lehrstuhl auf Kooperationen mit Unternehmen, kaufen Daten zu – oder erheben sie selbst. Maßnahmen wie das 9-Euro- oder 49-Euro-Ticket werfen nicht nur spezielle Forschungsfragen auf, sie bringen meist noch technische Möglichkeiten, um Daten zu erheben, mit denen die Zukunftsszenarien detaillierter, realistischer, besser werden. So sammeln die Verkehrstechniker:innen mit einer App seit 2022 laufend die Bewegungsdaten von mehr als 1000 Teilnehmenden, die gelegentlich noch zu Tickets und Fahrverhalten befragt werden. „Daraus leiten wir sehr viele Erkenntnisse zum Mobilitätsverhalten der Münchner ab“, sagt Bogenberger.

Natürlich werden diese und andere Datensätze längst auch mit den Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) ausgewertet. „Der Verkehr produziert laufend wiederkehrende Muster, etwa Staus im Pendel- oder Ferienverkehr. KI kann diese wiederkehrenden Effekte aufzeigen“, berichtet Bogenberger. „Aber neuronale Netze mit den Ergebnissen aus unseren Zukunftsszenarien oder den Simulationsdaten von großen Flotten zu trainieren, macht noch keinen Sinn. Dafür brauchen wir ein paar empirische Experimente sowie Datenanreicherungen mehr, heute würde die KI Quatsch lernen.“ Verkehrstechnik geht eben vom künftigen Ideal aus, um Fragen der Gegenwart zu klären und zu lösen. Und das soll laut Bogenberger auch so sein: „Aufgabe der Wissenschaft ist es doch, frühzeitig Lösungen zu entwickeln und anzubieten, die Politik oder Gesellschaft annehmen oder ablehnen können.“ (vs)

KB

Prof. Klaus Bogenberger, Lehrstuhl Verkehrstechnik, TUM. Foto: A. Heddergott/TUM

Mehr zum Thema:
Minga: Minga: München will autonome Verkehrsmittel erproben
Fahrrad: Die Corona-Krise könnte die Fahrrad-Wende bringen
Mobilität der Zukunft: Mobilität der Zukunft: Ideen für eine fahrradfreundlichere Stadt
Mobilität der Zukunft: Wir brauchen keine neuen Mobilitätsangebote in den Städten. Wir brauchen Co-Kreation und Reallabore

1 „Gefällt mir“