Darwin-Code: Warum wir in der Corona-Krise von tanzenden Bienen lernen sollten


Es ist gefährlich, einem Plan zu folgen, wenn es keinen Plan mehr gibt. Die Corona-Krise ist zu komplex geworden. Deshalb ist es besser, sich die Natur zum Vorbild zu nehmen und evolutionär bewährte Lösungsstrategien zu verwenden, schlägt unser Autor Marco Wehr vor.

Ein Essay von Marco Wehr

„Wenn Du Deinen Feind kennst und Dich selbst, brauchst Du das Ergebnis von 100 Schlachten nicht zu fürchten.“ Dieses Zitat des Strategen Sun Tsu stammt aus dem Buch Die Kunst des Krieges und ist 2500 Jahre alt. Es lässt sich auch im Umkehrschluss lesen und wird dadurch aktuell: Kennst Du weder Dich noch die Gefahr, ist die Situation beängstigend und gefährlich. Damit ist unsere Situation in der Corona-Krise gut umschrieben. Es gibt einige Dinge, die wir wissen. Es gibt viele Dinge, die unbekannt sind. Deshalb ist es schwierig, eine rationale Strategie zu entwerfen, die uns Planungssicherheit gibt. Das macht vielen Menschen Angst.

Beginnen wir mit den Inseln des Wissens. Sars-CoV-2 ist nicht das erste Virus, das die Menschheit in jüngerer Zeit heimgesucht hat. Wir haben Erfahrungen mit SARS, MERS, Ebola und verschiedensten Formen der Influenza. Alle diese Epidemien wurden und werden sorgfältig untersucht. Teilweise sind wirkungsvolle Medikamente gegen die Seuchen entwickelt worden und die lernfähigen Gesellschaften schmiedeten vorsorglich Pläne, um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein.

Genau diese Gesellschaften haben entschlossen reagiert, als sich die Seuche ankündigte und das Problem noch überschaubar war. Als Beispiel sei Taiwan genannt. Schon als erste Gerüchte lautbar wurden, dass es in Wuhan atypische, vermutlich ansteckende Lungenentzündungen gab, begannen die Taiwanesen sich unverzüglich auf den Ernstfall vorzubereiten. Als dann die ersten Infektionen auftauchten, setzten sie nicht nur auf klassische Quarantänestrategien. Sie entwickelten auch ein Trackingsystem auf der Basis von Mobilfunkdaten, das gewährleistet, dass die Quarantänevorschriften eingehalten werden.

Eine Seilbahnverordnung im Flachland, aber keine Vorsorge für Pandemien

In Europa lief das anders. Das theoretische Wissen, wie Epidemien sich ausbreiten und was man tun sollte, ist hier ebenfalls vorhanden. Aber es gab wenige praktische Konsequenzen: keine durchdachte Bevorratung und keine wirksame logistische Planung. Zudem hat es lange gedauert, bis verbindliche Verhaltensregeln artikuliert wurden. Das ist erstaunlich. In der Europäischen Union ist vieles akribisch geregelt. Das fängt mit den Mindestmaßen von Bananen an und endet beim Krümmungsradius von Salatgurken. Und eigentlich pocht die EU gerade auf die Einhaltung von Richtlinien, die die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger betreffen. Das kann mitunter sonderbare Formen annehmen. Ein Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern, ein Bundesland so flach wie ein Bügelbrett, muss genauso wie Tirol mit seinem majestätischen Großglocknermassiv eine Seilbahnverordnung erlassen.

Vor diesem Hintergrund ist die Frage erlaubt, ob die Beamten der Europäischen Union die richtigen Probleme in den Fokus nehmen. Die Existenz der Corona-Krise gibt auf diese Frage eine Antwort. Die momentane Pandemie ist in wichtigen Teilen die Folge vermeidbarer Unterlassungssünden. Viele Aspekte waren vorhersehbar. Deshalb ist Covid-19 definitiv kein „Schwarzer Schwan“. Ein Schwarzer Schwan ist nach Nassim Nicholas Thaleb, der den Begriff geprägt hat, ein äußerst seltenes, unkalkulierbares Ereignis. Epidemien sind nicht äußerst selten.

Deshalb existiert ein Wissen, das wir zu unserem Nutzen hätten verwenden können. Es gab in Deutschland sogar eine ausgefeilte Simulationsstudie, die viele Aspekte der Covid-19-Pandemie vorwegnahm. Nur verschimmelten deren Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Handlungsanweisungen in den Aktenschränken der zuständigen Behörden. Deshalb waren wir im Vergleich zu den asiatischen Ländern nicht gewappnet. Wir haben es unterlassen, um mit Sun Tsu zu sprechen, vom Wissen über einen „Gegner“ einen Vorteil zu ziehen.

Die Versäumnisse müssen uns nachdenklich machen: Wir stellen fest, dass es in einem Hochindustrieland wie Deutschland nicht möglich ist, in kurzer Zeit eine ausreichende Menge von Papiermasken herzustellen oder wenigstens aufzutreiben. Vom leidigen Klopapier gar nicht zu reden. Zu allem Überfluss geht dann auch noch eine Basischemikalie wie Ethanol für die Herstellung von Desinfektionsmitteln aus, sodass ein Schnapsbrenner als Retter in der Not einspringen muss. Und zum Schluss kann man sich darüber wundern, dass sich Menschen wundern, wenn globale Lieferketten nicht funktionieren, weil der Verkehr zwischen den Ländern zum Erliegen kommt.

Vor diesem Hintergrund wäre es im Pandemiezentrum Europa angebracht, die Fehler umfassend zu analysieren und schnell zu lernen, wie man es besser macht. Das sehen nicht alle ein. Die asiatischen Länder, die viel smarter und effizienter reagiert haben, scheinen nur einigen als Beispiel zu taugen. Stattdessen werden bewährte Maßnahmen wie das konsequente Tragen von Gesichtsmasken oder die kluge Verwendung vernetzter, moderner Kommunikationsmittel zur Offenlegung von Infektionsketten langatmig diskutiert, während die Zeit läuft.

Unterm Strich müssen wir uns der Tatsache stellen, dass wir die Möglichkeit verpasst haben, den Anfängen zu wehren. Das Wissen war da. Aber wir waren nicht klug genug, es effizient zu nutzen.

Wir haben aus einem beherrschbaren Problem ein unberechenbares Komplexitätsmonster gemacht.

Deshalb sehen wir uns jetzt mit einem neuen Problem konfrontiert: Wir haben aus einem beherrschbaren Problem ein unberechenbares Komplexitätsmonster gemacht.

Damit kommen wir zum Bereich des Nichtwissens. Es ist beeindruckend, dass die verschiedensten über das Internet verbundenen internationalen Forschungsinstitute wie das Immunsystem eines globalen Superorganismus funktionieren. Das Virus wurde in Rekordzeit sequenziert. Weltweit werden an über 50 Laboratorien Impfstoffe entwickelt. Hunderte von Wirkstoffen werden auf den Intensivstationen erprobt. Und alle paar Tage kommen neue Nachweisverfahren auf den Markt. Trotzdem ist vieles unbekannt.

Sars-CoV-2 agiert noch immer wie ein Schattenkrieger: Menschen, die sich scheinbar bester Gesundheit erfreuen, sind hochinfektiös und vielleicht schon sieben Tage später auf der Intensivstation. Es wird heftig diskutiert, auf welchen Wegen mit welcher Wahrscheinlichkeit das Virus vom Kranken zum Gesunden überspringt. Und bildet sich nach einer Infektion wirklich eine verlässliche Immunität aus?

Trotz dieser aktuell offenen Fragen ist zumindest eine Sache seit Jahrhunderten klar: Quarantänemaßnahmen helfen. Doch diese tröstliche Gewissheit hat zwei Seiten. Auf einmal koppeln medizinische Problemlösungen mit gesellschaftlichen Bedürfnissen sowie betriebs- und volkswirtschaftlichen Funktionskreisen! Dabei ergeben sich schwer zu beantwortende Fragen: Was bedeutet es, wenn die Infektionszahlen runter gehen, die Wirtschaft aber kollabiert? Sind Millionen Tote in Deutschland ein denkbarer Preis dafür, dass wir in Zukunft noch Arbeit haben? Was passiert, wenn die Wirtschaft mit Geld geflutet wird? Kommt es zu einer galoppierenden Inflation und damit zur Enteignung? Was passiert mit dem Aktienmarkt? Und den angeblich sicheren Renten und Pensionen, die auch in Aktien investieren?

Ein Komplexitätsmonster, das sich nicht vom Feldherrenhügel erledigt

Wie kommen wir aus diesem Erkenntnisdilemma heraus? Als erstes müssen wir akzeptieren, dass diesem Komplexitätsmonster mit herkömmlichen analytischen Mitteln nicht beizukommen ist. Weder ist bekannt, welche Einflussgrößen in einem unübersichtlichen Wechselwirkungsgeflecht relevant sind, noch kann man auch nur ansatzweise sagen, in welcher rückbezüglichen Dynamik diese hypothetischen Größen stehen. Das Problem lässt sich nicht vom Feldherrenhügel erledigen.

Wenn man sich dieser Einsicht verschließt, zahlt man einen Preis. Das sieht man in unserem Nachbarland Frankreich. Dort gibt es eine Tradition, dem Zentralstaat die Verantwortung zu übertragen und der Schwarmintelligenz von Menschen, die sich in ihren Habitaten auskennen, zu mistrauen. Der Bürgermeister von Nizza wollte der Bevölkerung kostenlose Schutzmasken verteilen. Der französische Innenminister untersagte den Bürgern der Stadt persönlich, diese zu benutzen.

Wie man elastischer auf die Anforderungen unserer Zeit reagiert, kann man an anderer Stelle lernen. Götz Werner, der Gründervater der Drogeriemarktkette dm, hatte schon vor längerer Zeit den Mut, mit einem alten Managementdogma zu brechen. Nachdem seine Firma stürmisch gewachsen war und irgendwann aus zigtausend Filialen bestand, erkannte er, dass es keinen Sinn machte, diese Filialen zentral zu managen. Das Steuerungsproblem war zu komplex geworden und Werner wollte sich keiner Kontrollillusion hingeben. Deshalb entließ er seine Filialleiter in die Selbstverantwortung. Da die besonderen Begebenheiten vor Ort jeweils unterschiedlich waren, sollten sie selbst herausfinden, welche Strategie für sie die beste ist. Anfangs sträubten sich die Führungskräfte vor der Selbstverantwortung. Mittlerweile ist das Prinzip etabliert.

Diese Vorgehensweise erinnert an die Evolution, weil sich die verschiedenen Filialen an spezifische marktwirtschaftliche Nischen anpassen. Eine Adaptionsleistung, die mit zentraler Steuerung nicht zu leisten ist. Im Gegensatz dazu noch einmal Frankreich: Im französischen Departement Lozère gibt es bis jetzt keinen Covid-19-Toten zu beweinen. In Paris sind über 4.000 Menschen gestorben. Trotzdem werden in Lozère strikt dieselben Gesetze angewandt wie in Paris. Macht das Sinn?

In einem Experiment ist es gängige Praxis, möglichst wenige Größen zu variieren, während man die anderen konstant hält.

Vor diesem Hintergrund können wir es in Deutschland als Chance ansehen, dass wir 16 Bundesländer haben, die nicht nur unterschiedliche Problemlagen haben, sondern sich auch in ihrer Herangehensweise unterscheiden. Das ist aber nur dann ein Vorteil, wenn die Länder nicht in Konkurrenz, sondern in Kooperation arbeiten! Es geht es nicht darum, ob Markus Söder oder Armin Laschet mit ihren Vorgehensweisen „Recht haben“. Die Epidemie ist keine Bühne, um einen Hahnenkampf zu inszenieren und dabei auf die Popularitätswerte zu schielen.

Es geht vielmehr um einen komplexen Lernprozess, der darin besteht, Ergebnisse zu vergleichen und mit den spezifischen Entstehungsbedingungen in Beziehung zu setzen. Damit dieser wechselseitige Lernprozess funktionieren kann, ist es aber notwendig, die Daten schnellstmöglich in normierter Weise zu dokumentieren, um sie über digitale Vernetzung allen Beteiligten zugänglich zu machen!

Darüber hinaus wäre es wichtig, dass sich politische Entscheidungsträger an wissenschaftlicher Vorgehensweise orientieren: In einem Experiment ist es gängige Praxis, möglichst wenige Größen zu variieren, während man die anderen konstant hält. Nur so lässt sich feststellen, wie das System auf Änderungen reagiert. Übertragen auf die momentane Situation wäre es sinnvoll, das Wirtschaftsgeschehen vorerst nur in wohldefinierten Bereichen wieder anfahren zu lassen und dabei die epidemiologische Entwicklung im Blick zu behalten. So kann man bei Bedarf gegensteuern oder auch mehr Leine zu geben.

Baut man in dieses System eine weitere Feedback-Schleife ein, entwickelt sich eine evolutionär-systemische Intelligenz höherer Ordnung.

Es wäre dann die Aufgabe der Bundesregierung und ihrer beratenden Institute, die Daten aus den Bundesländern zu sammeln, auszuwerten, zu interpretieren und Handlungsempfehlungen wieder ins System zurückzuspeisen. Das ist etwas anderes als zentralistische Direktiven à la France. In der Natur gibt es für diese Strategie eindrückliche Beispiele.

Orientierung an einer evolutionär bewährten Strategie

Es ist nicht die Königin, die den Bienen vorschreibt, wo sie die Blumen zu suchen haben, wenn der Nektar knapp wird. Es bleibt den Bienen selbst überlassen, auf den verschiedensten Wegen Futter zu finden. Für die Gemeinschaft entscheidend ist dann die komplexe Kommunikation. Mit dem „Bienentanz“ können sie den anderen nicht nur von ihrem Erfolg „erzählen“, sondern auch an ihm teilhaben zu lassen. In vergleichbarer Weise funktioniert unser Immunsystem, das eine Vielzahl von Antikörpern bereithält, die auf verschiedenste Antigene spezifiziert sind. Bindet dann ein spezieller Antikörper mit den Antigenen eines Eindringlings, gibt es eine Rückmeldung, die dazu führt, dass die Produktion genau dieses Antikörpers drastisch hochgefahren wird, um die Infektion in den Griff zu bekommen.

In der momentanen Situation könnte es geboten sein, sich an diesen evolutionär bewährten Strategien zu orientieren. Unterm Strich haben wir wohl auch keine andere Wahl, als mit kollektivem Tasten und elaborierten Kommunikationsstrategien einen gemeinsamen Lernprozess in Gang zu setzen, mit dessen Hilfe wir die Grenzen des Möglichen ausloten, um auf diese Weise aus der Krise zu kommen.

Marco Wehr ist Physiker und Philosoph. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Voraussagbarkeit sowie die Beziehung von Gehirn und Körper. Er hat mehrere Bücher verfasst und schreibt für FAZ, NZZ und ZEIT. Seine Schriften wurden mehrfach ausgezeichnet.

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Das ASSISIbf-Projekt könnte hier sehr interessant sein… Bisher wird die Bienenintelligenz ja vorrangig zur Verfolgung menschlicher „Pollensammler“ eingesetzt.

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Hatte zunächst die Befürchtung einen etwas esoterisch anmutenden Text zu lesen (jeder liebt Bienen :wink: ) bin nun aber umso mehr begeistert.

Die angesprochenen Konzepte, die nun hilfreich wären sind Klassiker des Denkens und Planens in (adaptiven) Systemen und hochgradig relevant für den Umgang mit Komplexität und Unsicherheit, auch über die Krise hinaus.
Wir schafft man es immer größer werdende Systeme wie Städte, Unternehmen, aber auch Infrastruktursysteme wie Energienetze gegeben der von aussen wirkenden, dynamischeren Störungen weiterhin stabil und effizient zu betreiben?

Dabei spielt Dezentralisierung und Kooperation eine Schlüsselrolle, auch zB in der Interaktion aus biologischen / menschlichen und physischen Systemen mit digitalen und Informations-Systemen.
Finde in dem Kontext das von @MaxHaarich geteilte Projekt auch spannend: ASSISIbf-Projekt

Das Problem mit wissenschaftlichen Experimentieren und der Tatsache, dass wir

haben birgt einiges an Gefahr. Zu Beobachten was beim variieren nur einer Variable passiert und das als „Wissen“ zu deklarieren bringt die Frage hervor in welchem „Bereich“ an Bedingungen genau um dieses spezielle Setup die Beobachtungen gültig und robust sind.

Komplexität scheint sich u.a. genau darin zu manifestieren, dass solche Systeme nicht lineares Verhalten aufzeigen sondern nichtlineares mit Wechselwirkungen und Rückkopplungsschleifen über mehrere örtliche und zeitliche Größenordnungen…
Von Beherrschbarkeit sprechen wir zumeist im Kontext von Linearität - also gerade Nicht-Komplexität.

Um nun über Stabilität und Kollaps, bzw tipping points sinnvoll sprechen zu können braucht es mM mehr als wir zu leisten im Moment und in der kürze der Zeit fähig sind.
Ein ganz einfaches Beispiel zu den Herausforderungen und Wirkmechanismen findet man ebenfalls in der Biologie und Forschungsdebatte zu Wettbewerb und Kollaps, bzw Wiederentstehen von Ökosystemen:

Insbesondere beim schrittweise Planen eines Hochfahrens der Wirtschaft wären Betrachtungen und Modelle der vernetzten Wertschöpfungs- und zulieferketten hilfreich, um zumindest auch elementare Effekte zu simulieren und nicht auf reale „Fehlermoden“ angewiesen sein zu müssen, um zu lernen.

Das ist ja schon lange ein Wunsch großer Softwarefirmen, solche Netzwerkinformation zu haben. Vielleicht schaffen es ja nun Staaten so vorzugehen. Ich zweifle jedoch an den technischen Fähigkeiten dies zu tun…

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@justherb „Komplexität ist ne Bitch.“ (Niklas Luhmann)

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@MaxHaarich&@justherb

Danke für Eure Kommentare! Ja, da bin ich derselben Meinung: Komplexität ist ne Bitch. Und eigentlich ist es sogar noch schlimmer, da bis heute stringente Definitionen für Begriffe des Informationszeitalters fehlen. Dazu zählen gerade die Schlüsselbegriffe “Information“ und eben auch “Komplexität“. Diese sind nur in eng umgrenzten Bereichen sorgfältig gefasst, ohne allgemeinen Ansprüchen zu genügen.
Also Information in der Shannonschen Informationstheorie und Komplexität im Rahmen der Kolmogorow-Komplexität.

Was nun Nicht-Linearität und Tipping-Points angeht, so ist die Situation schwierig. Da das System hochgradig rückgekoppelt ist, wie Herbert richtig anmerkt, ist das System nicht-linear. Mehr weiß man allerdings nicht. Jedes chaotische System ist nicht-linear aber nicht jedes nicht-lineare System verhält sich chaotisch. Und selbst wenn wir wüssten,dass das System chaotisch ist, müssten wir noch sehr viel mehr wissen, um wenigstens eine Ahnung seiner zeitlichen Dynamik zu haben und so überhaupt über die Bifurkatiobspunkte (Tipping Points) spekulieren zu können. De facto wissen wir aber so gut wie gar nichts. Wir kennen weder die Zustandsgrößen des Systems, das wir beschreiben wollen, noch die Interdependenzen und die damit verbundene Parametrisierung. Von Fragen der Lösbarkeit eines solch spekulativen Systems möchte ich hier gar nicht reden. Deshalb wird es mit Simulationen auch schwierig bis aussichtslos. Was bleibt? Die Japaner sagen:“ Wenn Du es eilig hast, gehe langsam“. Ich vermute, dass operantes Lernen in einem kooperativ-kommunizierenden Verbund die einzige Möglichkeit ist, die uns bleibt. Und da ist es wichtig, nur wenige Variablen zu variieren, um die Folgeerscheinungen zu studieren, selbst, wenn nicht zwangsweise einfache Ursache-Wirkungs-Mechanismen destillierbar sein werden. Wie im Artikel gesagt, handelt es sich um ein evolutionäres Prinzip. Durch genetische Variabilität und anschließende Selektion passen sich Populationen von Lebewesen auch neuen Nischen an, ohne die Wechselwirkungsdynamik zwischen ihnen und dem Habitat zu kennen.

Davon unabhängig ist noch ein Punkt wichtig, auf den Herbert hingewiesen hat. Es ist wichtig zu dezentralisieren. Und ich würde hinzufügen: zu modularisieren. Die Untereinheiten sollten funtionstüchtig bleiben, auch wenn im globalen Verbund Probleme auftauchen.

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Ja, das ist ein guter Punkt. „Intelligenz“ abgebildet in Form eine Modells von dem was passiert ist eine Möglichkeit, um vielleicht klassisch solche Situationen wie gewünscht zu beeinflussen;
Intelligenz, die in einem verteilten System entstehen kann, ohne dass sie ein oder mehrere Teilnehmer einspielen, also irgendwie „emergent“ ist, im Sinne „das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“, ist natürlich eine weitere Möglichkeit, die in der Natur
einfach funktioniert… Hoffen wir, dass wir die richtigen Wechselwirkungen und Informationsaustauschmechanismen finden :slight_smile:

Kennst du vielleicht Literatur dazu, die Intelligenz wie sie in verteilten Systemen entstehen kann versucht zu verstehen oder erst zu beschreiben? Termiten sind da faszinierend mit ihren Bauten. Aber auch menschliche Dinge, wie das Internet selbst, oder im Mensch-Maschine Komplex, der Schach- oder Go-spieler, der mit einem Computer kooperiert…

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@justherb

Lieber Herbert, ich komme zwar ursprünglich aus der Chaostheorie und habe mich lange wissenschaftstheoretisch mit dieser beschäftigt, habe aber über die evolutionären Lösungsstrategien in komplexen Systemen erst kürzlich im Zusammenhang mit der Corona-Krise begonnen nachzudenken. Mir ist wie Dir schnell klar geworden, dass lineare ex-cathedra-Ansätze nicht funktionieren. Inspiriert bin ich durch die Evolutionstheorie und Kriegskunst, würde aber jetzt nicht direkt ein konkretes Buch benennen können. Ich habe gerade allerdings mal die “Logik des Misslingens - Strategisches Denken in komplexen Situationen“ von Dietrich Dörner aus meinem Bücherschrank geholt. Ich habe es vor 25 Jahren gelesen und wollte jetzt noch einmal gucken, ob es weiterhilft. Sollte das so sein oder sollte ich noch anderweitig fündig werden, melde ich mich.

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Ja, das muss man wirklich hoffen! Emergenz in der Natur bedeutet eine Art der Kommunikation ohne Diskussion.
Die Emergenz der Ameisen heißt z.B., dass die Einzelteile nicht intelligent (schon gleich nicht intelligibel) sind, aber als Schwarm funktionieren. Der Schwarm als eine Art Metaebene handelt jedoch intelligent. Dass die Ameise zum Beispiel ihre Rolle in der Gesellschaft als Sammlerin oder Verteidigerin einnimmt sagt ihr nicht ihr Wille, sondern chemische Stoffe. Wenn sie zu wenige Verteidigerinnen um sich herum „riecht“, wird sie selbst zu einer. Das machen alle bis das gewohnte Gleichgewicht der „Berufsgruppen“ wieder hergestellt ist.

Menschen handeln nicht unbedingt gerne so unmündig, nicht nur bei der Berufswahl. Die Art der Kommunikation und des Informationsaustauschs müsste so abgestimmt werden, dass die Rechte der intelligenten „Einzelteile“, die noch dazu einen eigenen Willen haben, nicht zu kurz kommen.

Das mit dem eigenen Willen ist aber so eine Sache. Der Will kann Grund für ein wenig kooperatives Handeln sein. Man will vor allem für sich und am liebsten mehr als die anderen… Angesichts unserer globalisierten Population in der Grösse eines Mega-Schwarms, und ebenso großer Probleme, bräuchten wir aber eine Art Metaebene die, wie Emergenz, zum Wohle aller wirkt und Kooperation fördert. Diese Art der Kommunikation braucht in meinen Augen zwei Komponenten: Technologisch/ethisch optimierten Datenaustausch als Instrument und Empathie als Intension.

Andreas Weber schlägt als eine mir sehr sympathische Lösung das Prinzip „Indigenialität“ vor. „Indigenialiät heißt, sich als aktiven Teil eines sinnvollen Ganzen zu verstehen und so zu handeln, dass die eigene Lebensqualität die des Ganzen steigert.“

Kann seine Bücher empfehlen :wink:

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Zwei Gedanken zum sehr guten Artikel:

  • gut in Deutschland zu leben, besser in Taiwan, aber da war ich letztes Jahr im Urlaub. Die 4G Abdeckung war sensationell, genauso wie Landsleute, Landschaft, Sonnenaufgang, Essen und Tee. Selbst das Craftbeer war lecker.
  • und Feedbackschleifen (der Reglungstechniker [eine Art DataScientist] weiss, das eine Regelung etwas anderes ist als eine Steuerung) verbessern in puncto Genauigkeit und Zeit die Ergebnisse, wenn man die Parameter ‚gscheit‘ einstellt.
    Im nicht deterministischen Kontext heißen heute diese Konstrukte RNNs und deren Derivate.
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Es gibt in der Natur etwas erstaunlich Smartes: Einzeller sind die ältesten Lebensformen überhaupt. Physarium Polycephalum/Schleimpilz ist eine immer noch sehr erfolgreiche Lebensform - weder Tier, noch Pflanze noch Pilz. Sie können sich an Umgebungen anpassen und fortbewegen. Sie besitzen Fähigkeiten wie das Erlernen, wie man am besten durch ein Labyrinth kommt und können Gelerntes an Artgenossen kommunizieren, indem sie sich mit ihnen vernetzen, also zusammenwachsen. Dabei haben sie kein Gehirn. Es gibt Experimente sie mit Robotern zu kombinieren.

Die Tatsache, dass diese Spezies mindestens 100 Millionen Jahre alt ist (man liest auch 700 Millionen oder 1 Milliarde) und Probleme lösen kann, finde ich crazy beeindruckend…auf jeden Fall das evolutionäre Vorbild wie man am längsten überlebt :muscle:.!!

Hier erläutert die Wissenschaftlerin zur Intelligenz, ab Min 8:30

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ja, die Doku ist die ausführlichere Version :slight_smile:
Eindrücklich auch die Musik des Blob, komponiert aus seinen Aktivitäten! Die Ideen für die Informatik ab 44:30 :slight_smile:

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Die Dokumentation ist beeindruckend! Was mich beschäftigt, ist das Experiment, in welchem der Blob die optimierte Struktur des japanischen Eisenbahnnetzes nachbildet. In dem Zusammenhang kamen mir zwei Fragen. Die eine ließe sich wahrscheinlich einfach prüfen, die andere wäre aufwendiger aber theoretisch sehr interessant.

  1. Zuerst würde mich interessieren, ob der “Blob“ wenn man die Futterstücke auf die Knotenpunkte legt, jedesmal dasselbe Netz produziert. Und würde das auch für die verschiedenen “Stämme“ gelten?
  2. Dann habe ich mir überlegt, dass der Blob vermutlich so etwas ist wie ein biologischer Parallelcomputer. Aus der theoretischen Informatik weiß man, dass etwa NP-vollständige Probleme weder für serielle noch für parallele Computer mit vertretbarem Zeitaufwand berechenbar sind, wenn sie eine bestimmte Komplexität überschreiten. Trotzdem wälze ich die ganze Zeit die Frage in meinem Kopf herum, ob man ein experimentelles Szenario erdenken könnte, um zu prüfen, ob der Blob in der Lage wäre, auf das Problem des Handlungsreisenden und verwandter Fragestellungen losgelassen zu werden? Mein Gefühl sagt mir, dass es wahrscheinlich nicht funktioniert. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.
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Zur ersten Frage würde ich sagen:
Wie die Versuchsaufbauten und Kontrolltests in Japan waren weiß ich nicht. Aber es wird ja erläutert in beiden Filmen, dass sich der Blob effizient verhält. Weil er wenig Flüssigkeit verlieren will muss er die kürzesten Strecken finden um seinen Organismus zu ernähren. Und das macht er in dem er erst mal die Venen wachsen lässt und mit Chemotaxis die Futterpunkte ansteuert. Wenn die gefunden sind nutzt er nur noch die effizientesten Strecken als Verbindungen und zieht den Rest zurück. Das machen die verschiedenen Exemplare bzw. Wesen (er ist ja kein Zellstamm, sondern nur eine Zelle, aber ein ganzes Lebewesen) auch in den Labyrinth Tests so. Da die Knotenpunkte der Stadt mit Futterpunkten belegt sind kann man folgern, dass er immer die kürzesten Strecken verbindet. Das ist sein Gesetz und demnach müsste das Netz immer das gleiche sein und nicht zufällig mal anders kreativ.
Dass er das wirklich kann belegt das Jugendforscht Experiment, indem unser Einzeller-Freund in Bremen den effizientesten Brückenübergang über die Weser gefunden hätte. Da wo die Stadtplaner sich eine Brücke wünschen, der Mensch aber nicht effizient geplant hat. Vllt. ist das der Vorteil vom Blob, dass er mit einer Methode nicht falsch planen kann:
Ab Minute 5:00.

Zur zweiten Frage: Da steigt besser ein Informatik Brain ein, das bin ich nicht…Aber ob man das Problem des Handlungsreisenden mit dem „Blob Gesetz“ lösen kann? Er verbindet jedenfalls die effizient kürzesten Strecken von Anfang bis Ende. Einfaches aber wirkungsvolles Prinzip auch für komplexe Aufgaben. Er rechnet nicht lang rum, wenn er Hunger hat :wink:

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Vielen Dank für die Antwort! Ich glaube das Problem des Handlungsreisenden ist nicht optimal “Blob-kompatibel“. Ich werde mich nochmal ein bisschen in die Lektüre vertiefen und sollte ich ein NP-vollständiges Problem finden, auf das man den Blob loslassen könnte, melde ich mich. Vielleicht hätte der japanische Professor ja Lust, es zu testen. Wäre der Blob erfolgreich, wäre er auf alle Fälle ein Anwärter für die Fielsmedaille;-) Wie gesagt, ich bin ein bisschen skeptisch, bleibe aber aus Prinzip ergebnisoffen.

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GO FOR IT! :+1:

Uni Hokkaido.
Oder vllt. schaust Du nach Papers vom CNRS Toulouse/ Unconventional Computing Lab Bristol oder Allen Discovery Center Boston für Inspiration. :rocket:

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Danke! Ich brüte mal;-)

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Hier ist ein weiteres Paper in diese Richtung mit etwas mathematischen Begleitwerk und pseudocode - Es geht ums traveling salesman Problem:
https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsos.180396#d9786362e1953s

In der Repräsentation der Lichtstimuli scheint mir teilweise der Lösungsraum vorgegeben. Aber interessant wie man mit Repräsentation (experimental setup) und biologischem Zeug zu solchen Lösungen von Rechenproblemen kommt.

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Das geht genau in die Richtung! Herzlichen Dank:-)

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