Es ist gefährlich, einem Plan zu folgen, wenn es keinen Plan mehr gibt. Die Corona-Krise ist zu komplex geworden. Deshalb ist es besser, sich die Natur zum Vorbild zu nehmen und evolutionär bewährte Lösungsstrategien zu verwenden, schlägt unser Autor Marco Wehr vor.
Ein Essay von Marco Wehr
„Wenn Du Deinen Feind kennst und Dich selbst, brauchst Du das Ergebnis von 100 Schlachten nicht zu fürchten.“ Dieses Zitat des Strategen Sun Tsu stammt aus dem Buch Die Kunst des Krieges und ist 2500 Jahre alt. Es lässt sich auch im Umkehrschluss lesen und wird dadurch aktuell: Kennst Du weder Dich noch die Gefahr, ist die Situation beängstigend und gefährlich. Damit ist unsere Situation in der Corona-Krise gut umschrieben. Es gibt einige Dinge, die wir wissen. Es gibt viele Dinge, die unbekannt sind. Deshalb ist es schwierig, eine rationale Strategie zu entwerfen, die uns Planungssicherheit gibt. Das macht vielen Menschen Angst.
Beginnen wir mit den Inseln des Wissens. Sars-CoV-2 ist nicht das erste Virus, das die Menschheit in jüngerer Zeit heimgesucht hat. Wir haben Erfahrungen mit SARS, MERS, Ebola und verschiedensten Formen der Influenza. Alle diese Epidemien wurden und werden sorgfältig untersucht. Teilweise sind wirkungsvolle Medikamente gegen die Seuchen entwickelt worden und die lernfähigen Gesellschaften schmiedeten vorsorglich Pläne, um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein.
Genau diese Gesellschaften haben entschlossen reagiert, als sich die Seuche ankündigte und das Problem noch überschaubar war. Als Beispiel sei Taiwan genannt. Schon als erste Gerüchte lautbar wurden, dass es in Wuhan atypische, vermutlich ansteckende Lungenentzündungen gab, begannen die Taiwanesen sich unverzüglich auf den Ernstfall vorzubereiten. Als dann die ersten Infektionen auftauchten, setzten sie nicht nur auf klassische Quarantänestrategien. Sie entwickelten auch ein Trackingsystem auf der Basis von Mobilfunkdaten, das gewährleistet, dass die Quarantänevorschriften eingehalten werden.
Eine Seilbahnverordnung im Flachland, aber keine Vorsorge für Pandemien
In Europa lief das anders. Das theoretische Wissen, wie Epidemien sich ausbreiten und was man tun sollte, ist hier ebenfalls vorhanden. Aber es gab wenige praktische Konsequenzen: keine durchdachte Bevorratung und keine wirksame logistische Planung. Zudem hat es lange gedauert, bis verbindliche Verhaltensregeln artikuliert wurden. Das ist erstaunlich. In der Europäischen Union ist vieles akribisch geregelt. Das fängt mit den Mindestmaßen von Bananen an und endet beim Krümmungsradius von Salatgurken. Und eigentlich pocht die EU gerade auf die Einhaltung von Richtlinien, die die Gesundheit ihrer Bürgerinnen und Bürger betreffen. Das kann mitunter sonderbare Formen annehmen. Ein Beispiel: Mecklenburg-Vorpommern, ein Bundesland so flach wie ein Bügelbrett, muss genauso wie Tirol mit seinem majestätischen Großglocknermassiv eine Seilbahnverordnung erlassen.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage erlaubt, ob die Beamten der Europäischen Union die richtigen Probleme in den Fokus nehmen. Die Existenz der Corona-Krise gibt auf diese Frage eine Antwort. Die momentane Pandemie ist in wichtigen Teilen die Folge vermeidbarer Unterlassungssünden. Viele Aspekte waren vorhersehbar. Deshalb ist Covid-19 definitiv kein „Schwarzer Schwan“. Ein Schwarzer Schwan ist nach Nassim Nicholas Thaleb, der den Begriff geprägt hat, ein äußerst seltenes, unkalkulierbares Ereignis. Epidemien sind nicht äußerst selten.
Deshalb existiert ein Wissen, das wir zu unserem Nutzen hätten verwenden können. Es gab in Deutschland sogar eine ausgefeilte Simulationsstudie, die viele Aspekte der Covid-19-Pandemie vorwegnahm. Nur verschimmelten deren Ergebnisse und die daraus abgeleiteten Handlungsanweisungen in den Aktenschränken der zuständigen Behörden. Deshalb waren wir im Vergleich zu den asiatischen Ländern nicht gewappnet. Wir haben es unterlassen, um mit Sun Tsu zu sprechen, vom Wissen über einen „Gegner“ einen Vorteil zu ziehen.
Die Versäumnisse müssen uns nachdenklich machen: Wir stellen fest, dass es in einem Hochindustrieland wie Deutschland nicht möglich ist, in kurzer Zeit eine ausreichende Menge von Papiermasken herzustellen oder wenigstens aufzutreiben. Vom leidigen Klopapier gar nicht zu reden. Zu allem Überfluss geht dann auch noch eine Basischemikalie wie Ethanol für die Herstellung von Desinfektionsmitteln aus, sodass ein Schnapsbrenner als Retter in der Not einspringen muss. Und zum Schluss kann man sich darüber wundern, dass sich Menschen wundern, wenn globale Lieferketten nicht funktionieren, weil der Verkehr zwischen den Ländern zum Erliegen kommt.
Vor diesem Hintergrund wäre es im Pandemiezentrum Europa angebracht, die Fehler umfassend zu analysieren und schnell zu lernen, wie man es besser macht. Das sehen nicht alle ein. Die asiatischen Länder, die viel smarter und effizienter reagiert haben, scheinen nur einigen als Beispiel zu taugen. Stattdessen werden bewährte Maßnahmen wie das konsequente Tragen von Gesichtsmasken oder die kluge Verwendung vernetzter, moderner Kommunikationsmittel zur Offenlegung von Infektionsketten langatmig diskutiert, während die Zeit läuft.
Unterm Strich müssen wir uns der Tatsache stellen, dass wir die Möglichkeit verpasst haben, den Anfängen zu wehren. Das Wissen war da. Aber wir waren nicht klug genug, es effizient zu nutzen.
Wir haben aus einem beherrschbaren Problem ein unberechenbares Komplexitätsmonster gemacht.
Deshalb sehen wir uns jetzt mit einem neuen Problem konfrontiert: Wir haben aus einem beherrschbaren Problem ein unberechenbares Komplexitätsmonster gemacht.
Damit kommen wir zum Bereich des Nichtwissens. Es ist beeindruckend, dass die verschiedensten über das Internet verbundenen internationalen Forschungsinstitute wie das Immunsystem eines globalen Superorganismus funktionieren. Das Virus wurde in Rekordzeit sequenziert. Weltweit werden an über 50 Laboratorien Impfstoffe entwickelt. Hunderte von Wirkstoffen werden auf den Intensivstationen erprobt. Und alle paar Tage kommen neue Nachweisverfahren auf den Markt. Trotzdem ist vieles unbekannt.
Sars-CoV-2 agiert noch immer wie ein Schattenkrieger: Menschen, die sich scheinbar bester Gesundheit erfreuen, sind hochinfektiös und vielleicht schon sieben Tage später auf der Intensivstation. Es wird heftig diskutiert, auf welchen Wegen mit welcher Wahrscheinlichkeit das Virus vom Kranken zum Gesunden überspringt. Und bildet sich nach einer Infektion wirklich eine verlässliche Immunität aus?
Trotz dieser aktuell offenen Fragen ist zumindest eine Sache seit Jahrhunderten klar: Quarantänemaßnahmen helfen. Doch diese tröstliche Gewissheit hat zwei Seiten. Auf einmal koppeln medizinische Problemlösungen mit gesellschaftlichen Bedürfnissen sowie betriebs- und volkswirtschaftlichen Funktionskreisen! Dabei ergeben sich schwer zu beantwortende Fragen: Was bedeutet es, wenn die Infektionszahlen runter gehen, die Wirtschaft aber kollabiert? Sind Millionen Tote in Deutschland ein denkbarer Preis dafür, dass wir in Zukunft noch Arbeit haben? Was passiert, wenn die Wirtschaft mit Geld geflutet wird? Kommt es zu einer galoppierenden Inflation und damit zur Enteignung? Was passiert mit dem Aktienmarkt? Und den angeblich sicheren Renten und Pensionen, die auch in Aktien investieren?
Ein Komplexitätsmonster, das sich nicht vom Feldherrenhügel erledigt
Wie kommen wir aus diesem Erkenntnisdilemma heraus? Als erstes müssen wir akzeptieren, dass diesem Komplexitätsmonster mit herkömmlichen analytischen Mitteln nicht beizukommen ist. Weder ist bekannt, welche Einflussgrößen in einem unübersichtlichen Wechselwirkungsgeflecht relevant sind, noch kann man auch nur ansatzweise sagen, in welcher rückbezüglichen Dynamik diese hypothetischen Größen stehen. Das Problem lässt sich nicht vom Feldherrenhügel erledigen.
Wenn man sich dieser Einsicht verschließt, zahlt man einen Preis. Das sieht man in unserem Nachbarland Frankreich. Dort gibt es eine Tradition, dem Zentralstaat die Verantwortung zu übertragen und der Schwarmintelligenz von Menschen, die sich in ihren Habitaten auskennen, zu mistrauen. Der Bürgermeister von Nizza wollte der Bevölkerung kostenlose Schutzmasken verteilen. Der französische Innenminister untersagte den Bürgern der Stadt persönlich, diese zu benutzen.
Wie man elastischer auf die Anforderungen unserer Zeit reagiert, kann man an anderer Stelle lernen. Götz Werner, der Gründervater der Drogeriemarktkette dm, hatte schon vor längerer Zeit den Mut, mit einem alten Managementdogma zu brechen. Nachdem seine Firma stürmisch gewachsen war und irgendwann aus zigtausend Filialen bestand, erkannte er, dass es keinen Sinn machte, diese Filialen zentral zu managen. Das Steuerungsproblem war zu komplex geworden und Werner wollte sich keiner Kontrollillusion hingeben. Deshalb entließ er seine Filialleiter in die Selbstverantwortung. Da die besonderen Begebenheiten vor Ort jeweils unterschiedlich waren, sollten sie selbst herausfinden, welche Strategie für sie die beste ist. Anfangs sträubten sich die Führungskräfte vor der Selbstverantwortung. Mittlerweile ist das Prinzip etabliert.
Diese Vorgehensweise erinnert an die Evolution, weil sich die verschiedenen Filialen an spezifische marktwirtschaftliche Nischen anpassen. Eine Adaptionsleistung, die mit zentraler Steuerung nicht zu leisten ist. Im Gegensatz dazu noch einmal Frankreich: Im französischen Departement Lozère gibt es bis jetzt keinen Covid-19-Toten zu beweinen. In Paris sind über 4.000 Menschen gestorben. Trotzdem werden in Lozère strikt dieselben Gesetze angewandt wie in Paris. Macht das Sinn?
In einem Experiment ist es gängige Praxis, möglichst wenige Größen zu variieren, während man die anderen konstant hält.
Vor diesem Hintergrund können wir es in Deutschland als Chance ansehen, dass wir 16 Bundesländer haben, die nicht nur unterschiedliche Problemlagen haben, sondern sich auch in ihrer Herangehensweise unterscheiden. Das ist aber nur dann ein Vorteil, wenn die Länder nicht in Konkurrenz, sondern in Kooperation arbeiten! Es geht es nicht darum, ob Markus Söder oder Armin Laschet mit ihren Vorgehensweisen „Recht haben“. Die Epidemie ist keine Bühne, um einen Hahnenkampf zu inszenieren und dabei auf die Popularitätswerte zu schielen.
Es geht vielmehr um einen komplexen Lernprozess, der darin besteht, Ergebnisse zu vergleichen und mit den spezifischen Entstehungsbedingungen in Beziehung zu setzen. Damit dieser wechselseitige Lernprozess funktionieren kann, ist es aber notwendig, die Daten schnellstmöglich in normierter Weise zu dokumentieren, um sie über digitale Vernetzung allen Beteiligten zugänglich zu machen!
Darüber hinaus wäre es wichtig, dass sich politische Entscheidungsträger an wissenschaftlicher Vorgehensweise orientieren: In einem Experiment ist es gängige Praxis, möglichst wenige Größen zu variieren, während man die anderen konstant hält. Nur so lässt sich feststellen, wie das System auf Änderungen reagiert. Übertragen auf die momentane Situation wäre es sinnvoll, das Wirtschaftsgeschehen vorerst nur in wohldefinierten Bereichen wieder anfahren zu lassen und dabei die epidemiologische Entwicklung im Blick zu behalten. So kann man bei Bedarf gegensteuern oder auch mehr Leine zu geben.
Baut man in dieses System eine weitere Feedback-Schleife ein, entwickelt sich eine evolutionär-systemische Intelligenz höherer Ordnung.
Es wäre dann die Aufgabe der Bundesregierung und ihrer beratenden Institute, die Daten aus den Bundesländern zu sammeln, auszuwerten, zu interpretieren und Handlungsempfehlungen wieder ins System zurückzuspeisen. Das ist etwas anderes als zentralistische Direktiven à la France. In der Natur gibt es für diese Strategie eindrückliche Beispiele.
Orientierung an einer evolutionär bewährten Strategie
Es ist nicht die Königin, die den Bienen vorschreibt, wo sie die Blumen zu suchen haben, wenn der Nektar knapp wird. Es bleibt den Bienen selbst überlassen, auf den verschiedensten Wegen Futter zu finden. Für die Gemeinschaft entscheidend ist dann die komplexe Kommunikation. Mit dem „Bienentanz“ können sie den anderen nicht nur von ihrem Erfolg „erzählen“, sondern auch an ihm teilhaben zu lassen. In vergleichbarer Weise funktioniert unser Immunsystem, das eine Vielzahl von Antikörpern bereithält, die auf verschiedenste Antigene spezifiziert sind. Bindet dann ein spezieller Antikörper mit den Antigenen eines Eindringlings, gibt es eine Rückmeldung, die dazu führt, dass die Produktion genau dieses Antikörpers drastisch hochgefahren wird, um die Infektion in den Griff zu bekommen.
In der momentanen Situation könnte es geboten sein, sich an diesen evolutionär bewährten Strategien zu orientieren. Unterm Strich haben wir wohl auch keine andere Wahl, als mit kollektivem Tasten und elaborierten Kommunikationsstrategien einen gemeinsamen Lernprozess in Gang zu setzen, mit dessen Hilfe wir die Grenzen des Möglichen ausloten, um auf diese Weise aus der Krise zu kommen.
Marco Wehr ist Physiker und Philosoph. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Voraussagbarkeit sowie die Beziehung von Gehirn und Körper. Er hat mehrere Bücher verfasst und schreibt für FAZ, NZZ und ZEIT. Seine Schriften wurden mehrfach ausgezeichnet.