Eine Krise nach der anderen: Da ist die Verlockung groß, den Kopf in den Sand zu stecken und auf bessere Zeiten zu hoffen. Helfen wird das nicht. Und es gibt ohnehin bessere Wege, mit dem alltäglichen Chaos umzugehen, ohne zu verzweifeln. Das neue Buch Komplexe neue Welt – und wie wir lernen, damit klarzukommen von Marco Wehr weist sie uns auf.
Eine Leseempfehlung von Thomas Lange
Kluge Menschen wissen, dass sie nicht alles wissen.
Der amerikanische Philosoph Robert Fogelin scherzte einmal, die Welt der Skeptiker teile sich darüber hinaus in Ostküsten- und Westküsten-Skeptiker auf: „Die Ostküsten-Skeptiker erkennen, dass ihr Wissen Grenzen hat und das verstört sie zutiefst. Westküsten-Skeptiker erkennen genau dasselbe, empfinden es jedoch als Befreiung.“
Der Physiker, Philosoph und Profitänzer Marco Wehr hat mit Komplexe neue Welt – und wie wir lernen, damit klarzukommen nun ein fulminantes neues Buch vorgelegt, das Ostküsten- und Westküsten-Skeptiker gleichermaßen begeistern dürfte: Es ist ein intellektuelles Stimulans erster Güte.
Marco Wehr hält angesichts der gefühlt immer komplexer werdenden Welt zwei Nachrichten für uns bereit. Eine gute und eine schlechte. Die schlechte: Wir wissen im Zweifel sogar noch weniger, als wir glauben wissen zu können. Die gute: Das ist kein Grund, den Kopf in den Sand zu stecken. Mit der Unberechenbarkeit der Welt lässt sich leben – sofern wir unsere Sicht auf die Dinge womöglich etwas verändern. Und zwar sowohl was den Umgang mit den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit betrifft als auch mit jedermanns eigenem Leben in diesem Chaos.
Natürliche und menschgemachte Komplexitätsfallen
Marco Wehr unterscheidet zwei Arten von Komplexitätsfallen: natürliche – wie etwa Vulkanausbrüche, Erbeben oder Extremwetterereignisse – und menschgemachte. Zu den menschgemachten Komplexitätsfallen zählen allen voran die modernen sozio-technischen Systeme und unsere global vernetzte Ökonomie.
Beide Sphären sind auch noch über unzählige Wechselwirkungen miteinander verbunden. Und so können dann richtige „Komplexitätsmonster“ entstehen. Am Beispiel der Corona-Pandemie haben wir das eindrücklich erlebt. Oder stellen wir uns vor, was im Fall des Ausbruchs eines Supervulkans mit dem Luft- und Seeverkehr (und damit dem globalen Handel), unserer modernen Kommunikationsinfrastruktur und der Energieversorgung passieren würde. Bei der Bewältigung von Komplexität leiden wir nicht etwa an einem Mangel an Informationen, sondern – im Gegenteil – an einem Überfluss.
Auf die Grenzen der Modellierbarkeit und Berechenbarkeit komplexer Systeme weist uns unter anderem die Chaostheorie hin. Danach können selbst „allerkleinste Effekte, die man in der wissenschaftlichen Untersuchung nicht beachtet, dazu führen, dass sich das in Frage stehende System grundlegend anders entwickelt, als erwartet“. So haben es Henri Poincaré und James Clerck Maxwell, zwei Wegbereiter dieser Forschung, im 19. Jahrhundert formuliert.
Und Marco Wehr warnt: „Die Vielfalt der Erscheinungen und die prinzipielle Beschränktheit der Beobachter [also unsere Beschränktheit] stehen in einem diametralen Spannungsverhältnis zueinander.“ Dass der menschlichen Erkenntnis fundamentale Grenzen gesetzt sind, daran ändern leider auch immer komplexere und vermeintlich „bessere“ Modelle nichts. „In der Auseinandersetzung mit natürlichen Komplexitätsfallen ist deshalb Vorsorge ein probateres Mittel als Voraussagbarkeit,“ so Marco Wehr.
In der Sphäre menschgemachter Komplexitätsfallen sind langfristige Prognoseversuche noch aussichtsloser. Wir werden als Menschen – im wahrsten Wortsinne – immer ein Stück weit unberechenbar bleiben. Das trifft auf jeden einzelnen von uns zu – man denke nur an die sprichwörtlichen „Abgründe“ der menschlichen Seele. Und erst recht auf das komplexe Zusammenspiel und die Interaktion unzähliger Individuen in modernen Gesellschaften.
Selbstbefreiung statt Selbstoptimierung
Besonders brenzlig wird es, wenn die zweifelhafte Annahme der Berechenbarkeit Unberechenbarkeit erst erzeugt. Eine gefährliche Selbstdynamik „agierender Algorithmen“, also mathematischer Modelle, die zum Problem werden können, sieht Marco Wehr unter anderem im Finanzsektor am Werk.
Und wie bleiben wir nun Herr der Lage inmitten all des Chaos?
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Jetzt Mitglied werden!Marco Wehr rät zu Gelassenheit. Und dazu, sich frei zu machen – frei vom Zwang, in allen Lebenssituationen immer nur das (vermeintlich) Beste erreichen zu wollen. Selbstbefreiung statt Selbstoptimierung also.
Was die Bewältigung unserer großen gesellschaftlichen Herausforderungen betrifft – allen voran des Klimawandels –, sollten wir auf einen „kollektiv kreativen Prozess“ setzen, der von Diskurs, sozialem Lernen und dem freien Austausch von Ideen lebt. Vor Ideologie und „intellektuellen Monokulturen“ sollten wir uns dagegen hüten.
Marco Wehrs vielleicht bedeutendste Botschaft findet sich dann – etwas versteckt – im Nachwort seines Buchs: „Meine Freunde und meine Familie,“ heißt es dort, „lehren mich täglich, dass man im Kampf mit dem Komplexen zusammenhalten muss. Alleine ist man verloren.“
Kluge Menschen wissen das.
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