Im Jahre 1982 ist Blade Runner in den Kinos gestartet. Zu dieser Zeit spielte er 37 Jahre in der Zukunft – nämlich im November 2019. Nun ist die Zukunft des Science-Fiction-Films also Gegenwart. Was bedeutet das für den Kultstreifen und welche futuristischen Vorhersagen aus Blade Runner sind wahr geworden?
Von Michael Förtsch
Der Lauf der Zeit hat die Zukunft eingeholt. Seit Schlagmitternacht am 31. Oktober 2019 spielt der Science-Fiction-Kultstreifen Blade Runner im Hier und Jetzt. Denn die Geschichte des LAPD-Polizisten Rick Deckard, der genetisch erzeugte Bioroboter jagt, war von Regisseur Ridley Scott und den Drehbuchschreibern Hampton Fancher und David Webb Peoples im damals noch weit entfernten Los Angeles des November 2019 platziert worden. Und damit noch ein ganzes Stück weiter in der Zeit voraus als der Philip-K-Dick-Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? , auf dem der Science-Fiction-Streifen lose basiert. Der setze in den ersten Ausgaben nämlich im nahen 1992 an.
Das 2019, das Blade Runner zeichnet, scheint auf den ersten Blick wenig mit dem unsrigen gemein zu haben. Das heutige Los Angeles besteht nicht aus hunderte Meter hohen Wohnmaschinen, die sich zu schwarz getünchten Bergen auftürmen und feurige Explosionen in die Luft blasen. Es ziehen keine fliegenden Autos an riesenhaften Werbeanzeigen für Pan-Am und Coca-Cola vorbei. Auch Luftschiffe mit Monitoren sind nirgends zu sehen, die zwischen den Smog gefüllten Häuserschluchten verzweifelte Siedler für ein Leben auf den Off-World-Kolonien jenseits der Erde begeistern wollen.
Die Schere zwischen Vision und Wirklichkeit formt sich aber nicht nur aus diesen ausgebliebenen Entwicklungen. Nein, es sind auch zahlreiche und kuriose Anachronismen, die die Welt von Blade Runner so fremd, abseitig und irgendwie abstrakt erscheinen lassen. Es gibt dort kein Internet und keine Smartphones. Händler verkaufen wuchtige Röhrenfernseher, Telefonzellen stehen auf den Straßen, Atari, RCA und Bell System sind noch dick im Geschäft. Breite Schulterpolster sind total angesagt und selbstverständlich wird im Büro gequalmt.
Selbst aus Sicht des Jahres 1981, in dem die Dreharbeiten begannen, war die Zukunft von Blade Runner keine sonderlich futuristische. Eher im Gegenteil. Mit Blade Runner entwarf Ridley Scott ein deprimierendes Cyberpunk-Universum, das in kultureller und gesellschaftlicher Stagnation erstarrt ist. Die Zivilisation der Blade-Runner -Welt hat sich abseits der Technologie, wie es scheint, seit den 1980ern kaum weiter und fortentwickelt. Ihr ist die visionäre Kraft des Optimismus abhandengekommen. Eben das macht sie als Dystopie so reizvoll, irritierend und bedrückend.
Eine anachronistische Zukunft?
In Blade Runner sind die Unternehmen, die vor Jahrzehnten groß waren, es immer noch; Behörden und Firmen werden selbstverständlich von alten Männern geleitet; Einwanderer jobben in Fastfood-Nudel-Läden, hausen auf den Straßen oder schuften unter widrigen Arbeitsbedingungen als schlecht bezahlte Arbeiter. Und genau wie Metropolen in den 80ern – sei es New York City, Chicago aber auch Hong Kong - scheint das Los Angeles in Blade Runner auf paradoxe Weise zwischen Extremen gefangen. Es ist überbevölkert, aber von verlassenen Gebäude geprägt, menschenleer, total überlaufen und dreckig, aber stets von einem reinigenden Dauerregen getränkt.
Wie die meisten Science-Fiction-Werke sollte Blade Runner nicht unbedingt die Zukunft vorhersagen. Es sollte vor allem ein intelligenter und unterhaltsamer Film sein, der zum Nachdenken anregt und dafür in der Zukunft angesiedelt wurde. Nicht in unserer Zukunft, sondern in einer Zukunft, die als lebendige Kulisse dient, die hilft, die gedanklichen Grenzen unserer Zeit zu überwinden, Regeln der Gegenwart aufzubrechen, Freiheiten zu schaffen und es einfacher macht, unseren Unglauben aufzugeben. Eine Zukunft, die die Macher mit Spekulationen über den möglichen Fortlauf der Technik und Zivilisation, ihren Wünschen, Ängsten und manchen fixen Ideen aufgeladen haben. Aber ebenso mit fiktiven Gerätschaften als plot devices, die mehr oder minder logisch dafür sorgen, dass die Geschichte in die gewünschte Richtung verlaufen kann. Doch obwohl Blade Runner bei so vielen Dingen hart daneben lag. Bei genauso vielen Dingen lag der Streifen auch erschreckend richtig.
Nah dran aber auch vorbei
Es sind die Replikanten der Reihe Nexus 6, die in Blade Runner für Ärger sorgen. Die biogenetisch erzeugten Roboterwesen sind äußerlich nicht von Menschen zu unterscheiden – und auch im Inneren ziemlich ähnlich. Aber sie sind designed und mit mentalen Mustern geprägt worden , die sie zu perfekten Soldaten, Minenarbeitern, Sexspielzeugen und Dienern machen. Sie sind stärker, schneller, agiler, intelligenter oder auch belastbarer als jeder Mensch. Aber trotzdem wirken sie in Blade Runner menschlicher als jeder Mensch – denn sie wertschätzen das Leben und die Gemeinschaft, streben nach Freiheit und einen freien Willen. Wirklich erkennbar werden sie nur durch einen Voight-Kampff-Test, der, durch gezielt gestellte Fragen, bei einem Menschen klar messbare Emotionen auslöst, die ein Replikant eigentlich nicht zeigen kann.
Von der Erschaffung solcher Wesen sind wir noch ein ganzes Stück weit entfernt. Aber erst im vergangenen Jahr sorgte die Meldung für weltweites Aufsehen, der chinesischer Wissenschaftler He Jiankui habe zwei Kinder genetisch modifiziert, um sie immun gegen eine Infektion mit dem HI-Virus zu machen. Ein russischer Forscher will diesem Vorbild folgen und Embryonen mit der Gen-Schere CRISPR behandeln, um diese vor der genetisch bedingten Taubheit ihrer Mutter zu bewahren. Ebenso machen Forscher große Fortschritte dabei, Haut, Knochen und sogar Herzen und Lebern zu züchten und mit dem 3D-Drucker anzufertigen: Der Weg zum Replikanten wird damit kürzer. Einen Voight-Kampff-Test brauchen wir deswegen jedoch noch nicht. Aber wie oft werden wir im Internet schon gefragt, ob wir nicht vielleicht doch ein Roboter sind?
Auch bei den sprechenden Fußgängerampeln und digitalen Parkuhren lag Blade Runner richtig. Und eigentlich können wir auch schon die automatischen Metrokabs mit auf die Liste setzen, die der Designer Syd Mead erdacht hatte. Denn selbst wenn Robotertaxis bei weitem noch nicht überall auf den Straßen sind: Realität sind sie in Testreihen schon. Die fliegenden Autos? Nein, so richtig da sind die noch nicht. Aber hier holt der technische Fortschritt die Zukunftsvision auch schon sichtbar ein. Die Firma AeroMobil will 2020 erste Auto-Flugzeug-Hybride an reiche Kunden ausliefern und das Start-up Volocopter ein Jahr darauf in Singapur einen Taxi-Dienst mit Multikoptervehikeln starten.
Selbst eines der bizarrsten Stücke an Technik aus Blade Runner ist irgendwie real geworden. Nämlich die ESPER-Maschine, die Deckard nutzt, um ein Foto zu analysieren, das er gefunden hat. Er steuert die Maschine – wie wir heute Alexa und Siri – mit einfachen Sprachbefehlen. Er lässt sie mit klackenden Geräuschen verschiedene Ausschnitte heranzoomen. Die Maschine kann dabei auf wundersame Weise in dem flachen Foto die Perspektive ändern, an störenden Objekten im Vordergrund vorbeischauen und nahezu unendlich weit an Details heranfahren.
Mit moderner Photogrammetrie – die Kunst und Technik, um durch Messverfahren und Interpretation räumliche Informationen über ein 3D-Objekt aus einem 2D-Bild zu lesen –, Künstlicher Intelligenz und Grafik-Software können wir heute aus mehreren Fotografien zumindest digitale Umgebungen generieren, die auf ähnliche Weise erkundet werden können. Auch bei Aufnahmen mit plenoptischen Kameras ist das machbar – im Ansatz jedenfalls. Diese Kameras, wie sie die nun zu Google gehörenden Firma Lytro baute, fangen über ein Gitter aus Mikrolinsen nicht nur das zweidimensionale Abbild einer Szene, sondern auch die Richtung einfallender Lichtstrahlen ein – und damit Tiefeninformationen. Bei einem Lichtfeldfoto kann dadurch nachträglich neu fokussiert und der Blickwinkel in engen Grenzen verschoben werden.
Katastrophenwelt, oder doch nicht?
Vor allem bei einer Vorhersage trifft der Science-Fiction-Film heute ziemlich ins Schwarze: den Katastrophen. Die Welt von Blade Runner ist eine, die im Untergang begriffen ist. Kommerz, Kapitalismus, Kriege und Gier haben zu ökologischen, chemischen und nuklearen Katastrophen geführt. Es wird nur angedeutet, aber es ist klar: Weite Teile der Erde sind nicht mehr bewohn- und für die Landwirtschaft unnutzbar. Zahlreiche Tier- und Pflanzenarten sind ausgestorben und können, wenn überhaupt, nur als teure genetische Bioroboterrekonstruktionen zurückgeholt werden.
Natürlich, in Teilen der Welt wie der EU ist Naturschutz ein hohes Gebot und hat geholfen, Wälder, Flüsse, Seen und andere Lebensräume zu bewahren oder zurückzugewinnen. In anderen Regionen wiederum stehen jedoch gigantische Waldgebiete in Flammen, sind weite Regionen chemisch und radioaktiv verseucht oder immer wieder von dichten Decken aus Smog überzogen – und erinnern damit durchaus an Szenen aus Blade Runner und Blade Runner 2049 . Eine Million Arten von Tieren und Pflanzen sind heute bedroht und drohen verloren zu gehen, weil ihre Refugien zerstört werden und sie nicht auf die steigenden Temperaturen eingestellt sind, die der Klimawandel mit sich bringt. Das trifft irgendwann auch den Menschen.
Extrem arm, extrem reich
Auch die Macht- und Wohlstandsverteilung in der Welt konnte Blade Runner gespenstisch gut fassen. Eldon Tyrell, Gründer der Tyrell Corporation, die die Replikanten fertigt, residiert in den riesigen Hallen des Pyramiden-haften Firmenhauptquartiers. Er ist reich und kann es sich leisten, selbst in der zerrütteten Zukunftswelt ein gutes Leben zu führen und Visionen von technischem und evolutionärem Fortschritt zu formen. Und das während viele andere sich Tag für Tag durch die dreckigen Straßen schleppen, in heruntergekommenen Appartements hausen und um ihre Zukunft bangen. Damit unterscheidet sich Tyrell gefühlt wenig von Tech-Multimilliardären wie Amazon-Grüder Jeff Bezos, die Raketen bauen, Raumstationen und Mondbasen planen, während ihre Angestellten stellenweise unter grenzwertiger Überwachung leiden, stetig die Kündigung fürchten und auf Essensmarken angewiesen sind.
Ist das überzogen pessimistisch? Vielleicht, ja, etwas. Denn insgesamt ist die prozentuale Anzahl der Menschen in Armut weltweit über die letzten Dekaden erheblich gefallen. Die Gesamtzahl der Armen wächst jedoch stetig mit der steigenden Zahl der Weltbevölkerung. Ebenso driftet die Kluft zwischen Armut und Reichtum immer weiter auseinander. Auch in den progressiven Industrienationen. Denn die Durchschnittseinkommen und Mindestlöhne wachsen nicht im gleichen Maße wie Lebenshaltungs- und Konsumkosten. Gleichzeitig wächst die Zahl der Milliardäre weltweit. Waren es 1999 noch 465 sind es heute über 2.100.
Es stimmt, die Welt und Zukunft von Blade Runner ist nicht unsere. Aber Blade Runner ist auch kein Film über die Zukunft, das war er nie, sondern ein Film über eine Welt, die vor die Hunde geht, die Hybris der Menschheit, den Schöpferwillen, den Wert und die Natur des Lebens, die Sklaverei und, ja, irgendwie auch sehr schräg angezogene Menschen. Aber im Jahre 2019 überschneidet sich die Science-Fiction-Vision, wie wir sehen, dennoch in so einigen Punkten mit der Realität – vor allem jenen, die den dystopischen Charakter des Kultfilms ausmachen. Blade Runner ist dadurch heute mehr kritischer Gesellschafts- und Kulturkommentar als Science Fiction. Und damit ist er auch zeitlos – nicht nur, sondern gerade weil er schon seine eigene Zukunftswelt eingeholt hat und bald auch überrunden wird.
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