Saubere Atomenergie, von der kaum Gefahr ausgeht. Davon träumt die Menschheit seit Jahrzehnten. Doch bisher funktionierte es nicht, die Kernfusion zur Stromgewinnung nutzbar zu machen. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz ist es nun allerdings gelungen, einen Reaktor so zu konfigurieren, dass er zumindest kurzzeitig mehr Energie erzeugt, als er verbraucht. Das macht Hoffnung.
Von Lucas Spreiter
Im Comic-Universum von Marvel versucht Howard Stark nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Energie des mystischen „Tesserakt“-Würfels zu erschließen. Dabei entwickelt er den Arc-Reaktor – eine Technologie, die er als Schlüssel zu unbegrenzter, nachhaltiger Energie sieht und gegen die Atomkraftwerke wie eine AAA-Batterie aussehen würden. Jedoch lässt sich der perfekte Reaktor nicht ohne ein Element herstellen, das Howard Stark bisher nur in der Theorie entworfen hat und für dessen Synthese ihm noch die nötige Technologie fehlt. Erst seinem Sohn Tony Stark gelingt die Konstruktion des Superkraftwerks.
Im Film Iron Man baut dieser eine Miniaturversion des Arc-Reaktors in einer afghanischen Höhle, um damit einen Elektromagneten anzutreiben, der ihm tödliche Granatsplitter vom Herzen halten soll. Schon dieser kleine Reaktor hat eine beachtliche Leistung von 3 Gigajoule pro Sekunde – so viel wie drei durchschnittliche Atomkraftwerke. Doch nachdem Abfallprodukte des Reaktors ihn zu vergiften drohen, sucht Tony nach neuen Elementen für die Reaktion. Mit Hilfe der Pläne seines Vaters und der Künstlichen Intelligenz JARVIS gelingt es ihm, den perfekten Arc-Reaktor zu bauen und so die Energiewende einzuleiten.
So funktioniert die Kernfusion
Der fantastische Arc-Reaktor klingt zunächst nach einer weit hergeholten Science-Fiction-Story, hat seinen Ursprung aber in realen technischen Entwicklungen – dem Fusionsreaktor. Denn schon zu Beginn des Atomzeitalters spielten Wissenschaftler mit dem Gedanken der Stromerzeugung durch kontrollierte Kernfusion. Doch bis heute gibt es noch keinen Fusionsreaktor, der mehr Energie erzeugt als er selbst verbraucht. Durch die Hilfe von Supercomputern und Künstlicher Intelligenz (KI) könnte sich das jedoch ändern. Das Ziel sauberer und sicherer Atomenergie rückt in greifbare Nähe.
Heutige Kernkraftwerke beruhen auf dem Prinzip der Kernspaltung: Große Elemente – wie Uran – werden in einer unkontrollierten Kettenreaktion in kleinere Elemente zerlegt. Die bei Fusionsreaktoren ablaufende Kernreaktion funktioniert in die entgegengesetzte Richtung und begegnet uns täglich, da sie die Ursache dafür ist, dass die Sonne und alle leuchtenden Sterne Energie abstrahlen:
Zwei Wasserstoffisotope – Deuterium und Tritium – verschmelzen unter hohem Druck und enormer Temperatur zu einem Heliumkern unter Freisetzung eines Neutrons. Da die Massen der ursprünglichen Ausgangsprodukte größer sind als die der Reaktionsprodukte, entsteht ein sogenannter Massendefekt. Dieser ist dafür verantwortlich ist, dass laut der berühmten Formel von Einstein e=mc2 Energie freigesetzt wird. Ein einziges Gramm des Fusionsbrennstoffs liefert dabei theoretisch so viel Energie wie 11 Tonnen Kohle, ist darüber hinaus nahezu unerschöpflich auf der Erde vorhanden und erzeugt als Abfallprodukt nur kurzlebige, schwach strahlende atomare Abfälle – die (fast) perfekte Energiequelle.
Die Reaktionsgleichung der Fusionsreaktion: Die Wasserstoff-Isotope Deuterium (2H) und Tritium (3H) verschmelzen zu einem Heliumkern (4He) unter Freisetzung eines Neutrons (n) sowie von Energie (3.5 MeV +14.1MeV). Quelle: Wikimedia
In einem Fusionsreaktor muss Plasma – ein Aggregatzustand, der entsteht, wenn man Gasen weiter Energie zuführt – auf über hundert Millionen Grad Celsius erhitzt werden. Und hier beginnen die Probleme, denn kollidieren die Teilchen mit den Reaktorwänden, kühlen diese sofort ab und die Reaktion findet ein schnelles Ende. Um dies zu verhindern, wird das Plasma von starken magnetischen Feldern eingeschlossen, wobei es sich um eine extrem komplexe Aufgabe handelt. Moderne Fusionsreaktoren haben eine Vielzahl an Steuerungsparametern, die hochgradig vom aktuellen Zustand des Reaktors, zum Beispiel dem sich verändernden Zustand der Reaktorwände, abhängen. Ein optimales Plasma zu erzeugen, erfordert somit die Optimierung von hunderten nichtlinearen und stark miteinander verknüpften Parametern, was das händische Optimieren unmöglich macht. Wie lassen sich also geeignete Parameter-Konfigurationen finden, um das Plasma möglichst lange zu erhalten?
Der Optometrist-Algorithmus führt zu besseren Ergebnissen
Um diese Frage schnellstmöglich zu beantworten, hat das amerikanische Fusions-Startup TAE Technologies gemeinsam mit Google den „Optometrist“-Algorithmus entwickelt.
Ähnlich wie ein Augenoptiker einem Patienten zwei unterschiedliche Linsen zur Verfügung stellt und fragt, mit welcher er besser sieht, zeigt „Optometrist“ einem menschlichen Experten zwei Plasma-Konfigurationen und deren experimentelles Ergebnis. Der Experte muss dann entscheiden, welche der beiden Konfigurationen das bessere Ergebnis hervorgebracht hat. Basierend auf diesen Entscheidungen lernt der Algorithmus, versteckte Muster zwischen Parametern zu erkennen, welche Menschen nicht explizit ausdrücken können. Ein Optimierungsalgorithmus nutzt diese Muster, um den hochdimensionalen Parameterraum nach schwierig zu findenden Optima zu durchsuchen und eine neue Plasma-Konfiguration vorzuschlagen.
Der Parameterraum des „C2-U“ genannten Reaktors von TAE Technologies besitzt über 1000 Dimensionen – die Suche nach einem optimalen Parameterset gleicht also der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Für die Bewertung eines guten Plasmas sind vor allem die Dauer eines stabilen Zustands und die Temperatur der Ionen entscheidend. Vor dem Einsatz von „Optometrist“ blieb das Plasma typischerweise einige Millisekunden stabil und die Ionen-Temperatur nahm mit der Zeit ab. Mit Hilfe des Algorithmus gelang es den Forschern, ein vorher unbekanntes Plasmaverhalten zu entdecken, bei dem die Temperatur der Ionen rapide ansteigt. So war es zum ersten Mal überhaupt möglich, eine Nettoheizleistung – in der tatsächlich mehr Energie erzeugt als verbraucht wird – im Reaktor zu erzeugen. Dieses Ergebnis ist umso erstaunlicher, als dass der „Optometrist“-Algorithmus nur auf Basis von besser-schlechter Entscheidungen funktioniert und kein a priori Wissen über die Steuerung von Plasmazuständen besitzt.
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Jetzt Mitglied werden!KI ermöglicht Innovationen
Der Fall von TAE Technologies und Google zeigt einerseits, dass Künstliche Intelligenz sehr eindrucksvoll bei Problemen eingesetzt werden kann, die aufgrund der unzähligen Zusammenhänge unterschiedlicher Parameter und der enormen Datenmenge für Menschen unüberschaubar sind. Andererseits wird auch klar, dass eine KI nicht aus Nicht-Wissen Wissen generieren kann. Erst durch den menschlichen Input der Experten konnte das System lernen, was ein guter Plasmazustand ist, und darauf aufbauen. Diese Eigenschaft trifft prinzipiell auf sämtliche KI-Systeme zu, da diese immer auf vom Menschen erstellten Daten basieren. Das hier gezeigte Problem einer multidimensionalen Parameter-Optimierung lässt sich nicht nur auf Fusionsreaktoren anwenden, sondern ist allgegenwärtig und hat diverse andere Anwendungsfälle, wie das Entwickeln neuer Medikamente, das Finden von einflussreichen Social-Media-Accounts für politische Kampagnen oder das Planen neuer Meeresschutzgebiete. KI wird also nicht zu Unrecht als Enabler-Technologie gesehen, die eine Bandbreite an neuen Innovationen möglich macht.
Wie geht es mit der Fusionstechnologie weiter?
Das Cadarache Forschungszentrum in Frankreich, Ouelle: ITER
Der Einsatz von innovativen Algorithmen hat TAE Technologies zwar einen wichtigen Schritt weitergebracht, aber ein funktionsfähiges Kernfusions-Kraftwerk ist auch damit noch nicht möglich. Die größten Hoffnungen für die Fusionstechnologie liegen derzeit auf dem internationalen Projekt ITER – einem Forschungsreaktor, der bis 2025 im französischen Kernforschungszentrum Cadarache fertig gestellt wird. Bis 2035 will man dort beweisen, dass es möglich ist, die Technologie zur effizienten Stromerzeugung zu nutzen. Hierzu soll eine 10-fache Verstärkung der eingesetzten Heizleistung erreicht werden. Auch dabei könnte Künstliche Intelligenz zum Einsatz kommen, unter anderem um frühzeitig Instabilitäten im Plasma zu erkennen.
Lucas Spreiter ist Gründer der Münchner Agentur für Künstliche Intelligenz Unetiq. Schon seit seinem ersten Semester an der TU München konnte er die Hände nicht von innovativen Projekten lassen, was ihn schließlich bis zum Sieg von Elon Musks SpaceX Hyperloop Pod Competition mit WARR Hyperloop führte. Nach seinem Studium gründete er Unetiq, um anderen Unternehmen bei der Innovation ihrer Produkte mit Hilfe von interdisziplinärer Künstlicher Intelligenz zu helfen – einer Kombination aus Data Science, User Experience und Softwareentwicklung. Als stellvertretender Leiter des Bundesverbandes Künstliche Intelligenz in Bayern und Leiter der Arbeitsgruppe „Klimawandel“ beschäftigt er sich mit dem Einfluss und den Möglichkeiten von KI in Wirtschaft, Gesellschaft und das Klima.
Titelbild: Maksim Tkachenko / Getty Images