Das Münchner Kernfusions-Start-up Proxima Fusion startet später und mit weniger Geld als viele Konkurrenten. Dennoch gibt sich dessen Chef Francesco Sciortino selbstbewusst – kann seine Firma doch auf etwas aufbauen, was den Mitbewerbern fehlt: jahrzehntelange Forschung der Max-Planck-Gesellschaft, die bei Stellaratoren als führend gilt.
Von Wolfgang Kerler
„Wenn man irgendetwas über Kernfusion weiß“, sagt Francesco Sciortino, gleich nachdem er die größte Bühne beim Festival der Zukunft betritt, „dann, dass sie immer 30 Jahre entfernt ist.“ Bisher jedenfalls. In letzter Zeit habe sich jedoch etwas verändert. „Diesmal könnte es tatsächlich klappen“, zitiert Sciortino eine Titelseite des TIME Magazine, die über ihm auf der Leinwand zu sehen ist. Das Cover ist acht Jahre alt. In großen Lettern steht darauf auch, was die Faszination der Kernfusion von jeher ausmacht: „Unbegrenzte Energie. Für alle. Für immer.“
Saubere, sichere Stromerzeugung wie im Inneren der Sonne, darum geht es bei der Kernfusion. Unter extremen Druck und bei gewaltiger Hitze verschmelzen dort permanent Atomkerne, wobei Energie freigesetzt wird. Das auf der Erde zu reproduzieren, war lange nur eine Verheißung, ein Thema für kostspielige Grundlagenforschung. Doch die wissenschaftlichen Fortschritte der vergangenen Jahre ermutigen immer mehr Gründerinnen und Gründer, den nächsten Schritt zu wagen: mit eigenen Start-ups die Kommerzialisierung der Technologie voranzutreiben – beziehungsweise: Fusionskraftwerke zu bauen.
Francesco Sciortino zeigt eine Folie mit Dutzenden Firmenlogos. Commonwealth Fusion Systems, TAE oder Helion aus den USA sind darauf genauso zu finden wie Tokamak Energy aus Großbritannien oder Marvel Fusion und Focused Energy aus Deutschland. All diese Firmen setzen auf mal mehr, mal weniger unterschiedliche Technologien – auf Magnet- oder Laserfusion, auf Tokamaks oder Stellaratoren. Doch die meisten von ihnen können von sich behaupten, dass sie schon seit ein paar Jahren im Geschäft sind. Und dass sie zwei-, drei- oder gar vierstellige Millionensummen von Investoren eingesammelt haben. Insgesamt soll die Branche inzwischen 6,1 Milliarden US-Dollar erhalten haben.
Proxima Fusion wirkt angesichts dessen fast wie ein Spätzünder, wurde die Firma doch erst im Januar 2023 von Francesco Sciortino und fünf Mitstreitern gegründet. Nur wenig später schloss sie eine Finanzierungsrunde über sieben Millionen Euro ab. Besteht damit überhaupt die Chance, die Konkurrenz einzuholen – oder gar zu überholen? „Ja, absolut“, sagt Francesco Sciortino im Interview mit 1E9. „Der Wettlauf um die Fusion hat gerade erst begonnen.“ Tatsächlich hat noch keine der jungen Firmen einen Reaktor in Betrieb, der tatsächlich Strom liefert. Erste Prototypen und tatsächliche Kraftwerke sind, je nach Start-up, für die Zeit zwischen 2025 und 2040 angekündigt.
„Letztendlich werden diejenigen Unternehmen die Fusion kommerzialisieren, die ein funktionierendes Konzept haben, und nicht diejenigen, die Geld in Geräte stecken, die sich nicht effektiv zu einem Kraftwerk skalieren lassen“, meint Sciortino. Und Proxima Fusion verfüge über das schlüssigste Konzept von allen. Hinzu komme, dass das Unternehmen auf der jahrzehntelangen Forschung des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik aufbauen könne. „Wir sind die erste Ausgründung in dessen 60-jähriger Geschichte“, sagt er.
Stellarator oder Tokamak? Beide Konzepte haben Vor- und Nachteile
Das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, kurz: IPP, erforscht mit rund 1.100 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Garching bei München und in Greifswald die Kernfusion – insbesondere die Fusion mit magnetischem Plasmaeinschluss, also die Magnetfusion. In Garching betreibt es dafür mit dem ASDEX Upgrade einen Tokamak, in Greifswald mit dem Wendelstein 7-X einen Stellarator. Beide Anlagen sind ringförmig. In ihrem Inneren laufen Prozesse ab, deren Grundprinzip ähnlich ist.
Dort wird Wasserstoff, hauptsächlich aus Deuterium und Tritium, auf Temperaturen von um die 100 Millionen Grad Celsius erhitzt. Er nimmt dadurch die Form von Plasma an, in dem es zur Kernfusion kommen kann. Dabei entstehen einerseits Heliumkerne und andererseits freie Neutronen mit hoher Geschwindigkeit. In ihrer Geschwindigkeit steckt die freigesetzte Energie. Werden die Neutronen eingefangen und abgebremst, kann ihre Bewegungsenergie in Wärme umgewandelt und diese Wärme zur Stromgewinnung genutzt werden. Von Magnetfusion spricht man, da das Plasma innerhalb der Anlagen durch Magnetfelder kontrolliert wird.
Obwohl die grundsätzlichen Überlegungen zu Tokamaks und Stellaratoren aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts stammen, gibt es bis heute keine Anlage, die mehr Strom erzeugen kann, als sie für das Ingangsetzen der Kernfusion braucht. Doch damit enden die Gemeinsamkeiten der beiden Konzepte. Denn in ihrem Aufbau sowie ihren Vor- und Nachteilen unterscheiden sich Tokamak und Stellarator deutlich.
Ein Tokamak hat die Form eines Donuts. In seinem Inneren muss zur Erzeugung des Magnetfelds Strom durchs Plasma geleitet werden. Das kann zu Störungen führen, die das Plasma zerstören. Außerdem erfordert der Stromfluss den Einsatz von Transformatoren, die nur über kurze Zeiträume arbeiten können. Ein Dauerbetrieb ist mit aktuellen Anlagen nicht möglich. Darin liegt die größte Herausforderung für Start-ups, die auf Tokamaks setzen.
Stellaratoren leiden nicht unter dieser Instabilität und sind damit besser für den Dauerbetrieb gerüstet. Allerdings ist ihre Konstruktion deutlich herausfordernder. Ihre Form erinnert an einen verdrehten Ring. Gewundene Magnetspulen aus Supraleitern sorgen darin für ein verdrilltes Magnetfeld, welches das Plasma kontinuierlich erhalten kann. Einen Stromfluss durch das Plasma braucht es nicht.
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Lange Zeit wurde Tokamaks mehr Potential zugewiesen, die Technologie verfügt daher über einen Entwicklungsvorsprung. Wohl auch deshalb arbeiten Start-ups wie Commonwealth Fusion Systems oder Tokamak Energy an eigenen Tokamak-Reaktoren. Proxima Fusion hat sich anders entschieden.
„Das Design eines Tokamaks ist vergleichsweise simpel“, sagt Francesco Sciortino. „Aber sein Betrieb ist komplex.“ Um das genauer zu erklären, greift er zu einer Analogie. „Ein Tokamak ist ein bisschen wie ein Helikopter“, erklärt er. „Du fliegst damit in niedriger Höhe und musst ihn permanent lenken, um einen Crash zu verhindern. Und sobald du den Motor ausmachst, stürzt er ab.“ Der Stellarator lasse sich dagegen mit einem Flugzeug vergleichen. „Du musst es zum Abheben bringen. Doch danach fliegt es, wenn es gut designt ist, stabil. Selbst, wenn du die Hände vom Steuer nimmst, bleibt es in der Luft. Genau so wünschen wir uns auch unsere Kraftwerke.“
Als Ausgründung des Max-Planck-Instituts kann Proxima Fusion unmittelbar auf der jahrzehntelangen Arbeit an Wendelstein 7-X aufbauen. 1,5 Milliarden Euro Steuergeld ist in dessen Bau, Weiterentwicklung und Betrieb inzwischen geflossen. „Jetzt, wo wir mit Proxima Fusion ins Rennen um die Kernfusion einsteigen, ist das ein Vorteil, den wir nicht unterschätzen dürfen“, sagt der Start-up-Chef. Das IPP will die Arbeit von Proxima Fusion auch weiterhin unterstützen. Allerdings: Für die Stromerzeugung war Wendelstein 7-X nie ausgelegt.
Aus dem wissenschaftlichen Know-how des IPP – „dem Schatz“, wie Sciortino es nennt – nun auch kommerzielle Kraftwerke zu machen, ist daher die Aufgabe von Proxima Fusion. Eine Reihe von technischen Fortschritten der letzten Jahre, lassen diese aus Sicht von Francesco Sciortino lösbar erscheinen. Dazu gehören leistungsstärkere Computerchips, additive Fertigung, maschinelles Lernen und vor allem Supraleiter, die keine extrem niedrigen Temperaturen mehr erfordern und dennoch stärkere Magnetfelder erzeugen können.
„Wir arbeiten daran, all diese Dinge zusammenzubringen, um mit Stellaratoren Energie zu gewinnen“, sagt Sciortino. Außerdem arbeitet das Team an Lösungen, wie die freien Neutronen im Inneren des Reaktors eingesammelt werden können und dort auch Tritium erzeugt werden kann. „Doch das sind reine ingenieurstechnische Probleme“, so Sciortino, „keine physikalische Forschung.“
Im kommenden Jahr will Proxima Fusion ein Designkonzept für sein Kraftwerk vorlegen. 2031 soll ein erster Reaktor namens Proxima Alpha netto Energie liefern – eine Premiere für einen Stellarator. Mitte bis Ende der 2030er-Jahre soll dann mit Proxima Beta ein erstes Fusionskraftwerk ans Netz gehen – und zu einem Preis von 40 Dollar pro Megawattstunde elektrisch Strom liefern. „Das ist eine interessante Sache für eine Energiequelle, die zuverlässig wäre und die erneuerbaren Energien, die wir heute haben, ergänzen würde“, sagt Francesco Sciortino über die Kosten. Wenn es diesmal wirklich klappt mit der Kernfusion, ist sie also weniger als 20 Jahre entfernt.
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Titelbild: Blick in das Plasmagefäß von Wendelstein 7-X (November 2021), MPI für Plasmaphysik, Jan Michael Hosan
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