Innovation bedeutet in Deutschland zu oft: kleine Verbesserungen an bestehenden Lösungen. Oder: digitale Lösungen, die das Leben bequemer machen, aber nicht unbedingt die grundlegenden Probleme der Gesellschaft löst. Und die Politik managet derweil das Tagesgeschäft. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls Jan Breitinger, der bei der Bertelsmann Stiftung herausfinden will, wie Deutschland besser innovieren kann. Einige Ideen dafür teilt er im Interview mit 1E9.
Ein Interview von Wolfgang Kerler
Die deutsche Innovationspolitik ist ein Sanierungsfall. Wörtlich steht das zwar nicht im neuesten Ergebnispapier des Projekts „Innovationskraft stärken. Potenziale erschließen“ der Bertelsmann Stiftung. Doch wer zwischen den Zeilen liest, kann kaum einen anderen Schluss ziehen. Denn unter dem Titel Zukunftsagenda: Innovation for Transformation macht die Stiftung Vorschläge für eine Neuausrichtung der Innovationspolitik – und die fallen ziemlich grundsätzlich aus.
In Zukunft sollte es demnach nicht darum gehen, Lösungen zu forcieren, die entweder gesellschaftliche Probleme lösen oder zu mehr Wettbewerbsfähigkeit führen. Staatliche unterstützte Innovationen sollten vielmehr dazu beitragen, beides zu tun. um damit eine Systemtransformation zu mehr Nachhaltigkeit zu ermöglichen. Und dafür brauche es, so die Stiftung, attraktive Zukunftsvisionen, Strategien, wie diese umgesetzt werden können, Inklusion und Partizipation, das Aufbrechen von Pfadabhängigkeiten und mehr Kollaboration, Vernetzung und Austausch.
Mitverantwortlich für die Publikation war Jan Breitinger, der bei der Bertelsmann Stiftung das Innovationsprojekt leitet. Im Interview mit 1E9 spricht er über unnütze Innovationen, Silodenken, eine Politik, die endlich aufhören muss, nur zu verwalten – und die Rolle des freien Marktes.
1E9: Wir brauchen Innovationen, um die gesellschaftlichen Herausforderungen – von der Klimakrise bis zur Überalterung der Bevölkerung – zu lösen. Das scheint für euch in Stein gemeißelt. Aber seid ihr euch da wirklich sicher? Einige der größten vermeintlichen Innovationen der vergangenen Jahre haben uns doch vor allem neue Probleme beschert. Von der spalterischen Macht von Facebook über die fragwürdige Gig-Economy von Uber bis zum Strombedarf von Bitcoin.
Jan Breitinger: Der Fakt, dass es auch unnütze oder schädliche Innovationen gibt, entkräftet doch nicht das Argument, dass es neue Ansätze braucht, um diese großen Herausforderungen zu bewältigen. Klar, Innovationen können negative Folgen mit sich bringen, aber sie können auch ganz entscheidend zu wirtschaftlichem Wohlstand und zum Gemeinwohl beitragen.
Wir wollen klar machen, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen offensichtlich sind – und es schwierig werden dürfte, uns mit genau den Mitteln oder Denkweisen aus dieser problematischen Lage zu manövrieren, durch die wir hineingekommen sind. Deswegen sollten wir uns überlegen, wie sich Innovationen fördern lassen, um diesen großen, auch neuartigen Herausforderungen zu begegnen und gleichzeitig Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Dann können Innovationen zum Hebel für Nachhaltigkeit werden.
Kommen wir damit zu euren Forderungen an die deutsche Politik. Ihr wünscht euch – recht diplomatisch formuliert –, dass die Forschungs-, Technologie- und Innovationspolitik „teilweise neu organisiert“ wird. Was läuft denn alles schief bisher?
Jan Breitinger: Wenig und viel zu gleich. Wenig, weil hierzulande auch vieles sehr gut funktioniert. Wir stehen in manchen Innovationsrankings gut da. Wirtschaftliche Stabilität ist gegeben. Es wird weiterhin innoviert. Es gibt hervorragende Institutionen der Grundlagenforschung und der anwendungsorientierten Forschung. Wir haben viele Weltmarkführer im Mittelstand. Es gibt erfolgreiche Großkonzerne. Wir haben Gründungshotspots. Um vieles davon werden wir beneidet.
Sobald man bei der Betrachtung allerdings einen Schritt zurückgeht, tauchen jedoch sehr schnell sehr große Fragen auf: Warum, beispielsweise, wird hierzulande vor allem kleinschrittig, inkrementell innoviert? Warum ist man so zögerlich bei Zukunftstechnologien? Warum gibt es offensichtlich diese Beharrungskräfte, die an eigentlich schon obsoleten Produkten festhalten wollen? Warum findet so wenig Verzahnung zwischen den verschiedenen Sektoren wie Wirtschaft, Forschung, Zivilgesellschaft und öffentlichem Bereich statt? Und warum gibt es so einen Mismatch zwischen dem, was wir durch Innovationen erschaffen, und dem, was wir brauchen, um eine nachhaltige Wirtschaftsordnung aufzubauen? Diese Fragen führen dann zu der Sichtweise, dass es an vielem hapert.
Und an was genau?
Jan Breitinger: Zum einen fehlt uns die Richtung, zum anderen die Struktur. Um unseren Innovationen eine Richtung zu geben, muss die bisher ungelöste Grundfrage beantwortet werden: Warum innovieren wir eigentlich? Wir können es uns nicht leisten, einfach drauflos zu erfinden und den Markt zu bedienen, obwohl wir doch wissen, dass dieser Markt nicht unbedingt zu Nachhaltigkeit beiträgt. Unsere Innovationsarbeit braucht daher eine Zielsetzung, eine Richtung.
Wenn wir allerdings die Richtung grundlegend ändern wollen, sind eben auch systemische Veränderungen notwendig. Deutschlands Innovationspolitik ist bis heute noch immer in zwei Ministerien angesiedelt. Dort wird oft ein Silodenken praktiziert wird, das aus Zeiten der klassischen Industriepolitik stammt.
Wir können es uns nicht leisten, einfach drauflos zu erfinden und den Markt zu bedienen.
Wenn wir also sagen, dass wir Innovationen brauchen, um eine nachhaltige, überlebensfähige Wirtschaftsordnung zu schaffen, dass Innovationen ein Hebel für Nachhaltigkeit sind, dann müssen wir unser Verständnis davon, was für uns echte Innovation bedeutet, ändern. Und wir müssen das Thema ganz anders in der Politik verankern.
Du hast vorhin auch gesagt, die Innovationen, die hier stattfinden, sind zu oft nicht die Innovationen, die wir brauchen. Könntest du das konkretisieren?
Jan Breitinger: Wir als Non-Profit-Organisation maßen uns nicht an, einzelne Innovationen zu bewerten. Aber werfen wir doch einmal einen etwas allgemeineren Blick auf die Digitalisierung. Wir sehen dort viel Dynamik, viel Energie, viele neue Ideen – und auch große Investments in Start-ups. Täglich kommen neue Services auf den Markt. Für jeden Lebensbereich haben wir Apps zur Auswahl. Shopping, Entertainment, Ernährung. Sicherlich ist vieles davon wünschenswert und es befriedigt auch Bedürfnisse von Konsumentinnen und Konsumenten.
Andererseits sprechen wir doch die ganze Zeit von diesen unglaublich großen Herausforderungen, allen voran der Klimawandel. Da kann man sich schon fragen, wieso wir so viel Zeit, Kraft und Geld in Innovationen stecken, die dafür keine wirkliche Lösung sind – und nicht in neue Ideen zur Energieversorgung oder Energieeinsparung, zum Beispiel. Wir befürworten wirklich fast jede Innovationsarbeit, aber es bräuchte trotzdem einen stärkeren Fokus auf Innovationen, die auf die grundlegenden Bedürfnisse unserer Gesellschaft ausgerichtet sind.
Um genau dieses Ziel zu erreichen, taucht bei euch immer wieder die Vorstellung einer Politik auf, die sich auf „wertebasierte Visionen“ ausrichtet. Das klingt hübsch. Werte sind etwas Gutes. Visionen sind auch etwas Gutes. Aber kannst du uns genauer verraten, was ihr damit genau meint?
Jan Breitinger: Das bedeutet, dass wir selbst definieren müssen, was wir brauchen und was wir wollen, und unser Handeln dann gezielt darauf ausrichten müssen.
Wir als Gesellschaft müssen die großen Fragen endlich selbst beantworten: Was ist eigentlich das Ziel unserer Entwicklung? Was brauchen wir wirklich? Welche Werte sind uns wichtig? Und was heißt das übersetzt in unser Handeln in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft? Natürlich ist das komplex. Doch wir sollten trotzdem den Anspruch haben, Antworten zu finden. Tun wir das nämlich nicht, dann entsteht eine Lücke, in die andere mit ihren Vorstellungen und Werten vorstoßen, insbesondere Unternehmen und der „freie Markt“, der nicht so frei von eigenen Wertvorstellungen ist, wie seine Verfechter es behaupten.
Es reicht nicht, in Schritten von ein oder zwei Jahren zu denken.
Den Begriff der „Vision“ nutzen wir, damit klar wird, dass wir wirklich ambitioniert vorgehen müssen. Es reicht nicht, in Schritten von ein oder zwei Jahren zu denken. Wir müssen schließlich das große Ganze verändern. Wichtig ist dabei, dass die Visionen am Ende in ganz konkrete Abläufe und Prozesse mit klaren Zuständigkeiten heruntergebrochen werden.
Wie könnte denn die bisher, sagen wir, eher „visionsarme“ und aufs kurzfristige Tagesgeschäft ausgerichtete deutsche Politik tatsächlich gesellschaftlich mehrheitsfähige Visionen entwickeln?
Jan Breitinger: Man kann sagen, dass hierzulande in letzter Zeit vor allem verwaltet wurde. Politik fand im Hier und Jetzt statt und orientierte sich nicht an einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung. Genau dem möchten wir ein neues Denken entgegenstellen. Das erfordert den Beginn eines neuen gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses.
Gesellschaftlich mehrheitsfähig wird eine Zukunftsvision nämlich nur, wenn sie durch die gesamte Gesellschaft entwickelt wird: Politik, Wirtschaft – und da nicht nur Großkonzerne, sondern auch Mittelstand und Start-ups –, die Forschung, die Zivilgesellschaft. Wir müssen sektorübergreifend zu einem gemeinsamen Zielverständnis kommen. Diese Perspektivenvielfalt ist unverzichtbar. Wir werden nur gemeinsam erkennen können, vor welchen Problemen wir eigentlich stehen. Ohne diese Form der Problemerkenntnis können keine Lösungen gefunden werden, die dann auch Mehrheiten überzeugen.
Ihr habt euch in verschiedenen Ländern umgeschaut, die als innovativer gelten als Deutschland. Hast du ein paar Beispiele für uns, was dort besser läuft – und was wir uns abschauen sollten?
Jan Breitinger: Das erste Beispiel, was ich nennen würde, ist, dass man Innovation in der Politik zur Chefsache machen sollte. Innovationspolitik muss höher aufgehängt werden und deutlich mehr Sichtbarkeit bekommen. Das kann durch einen nationalen Innovationsrat gelingen, wie es ihn in Schweden gibt. Den Vorsitz dieses Rats übernimmt dort der Ministerpräsident. Er tagt mehrmals im Jahr, führt ganz verschiedene Akteure in einer Beratungsarena zusammen und diskutiert innovationspolitische Maßnahmen. Durch diese Sichtbarkeit und die hohe politische Verortung kann man auch die großen Visionen oder Ambitionen formulieren, von denen ich sprach.
Außerdem schlagen wir den Aufbau einer Innovationsagentur vor, wie sie in Schweden mit Vinnova existiert. Auch andere Länder wie Finnland, Großbritannien oder Israel haben in ähnlicher Weise solche „Change Agents“ in ihren jeweiligen Systemen etabliert. Eine solche Agentur könnte aus unserer Sicht den Innovationsdiskurs antreiben und stimulieren, verschiedene Akteure aus verschiedenen Sektoren zusammenbringen, Leuchtturmprojekte umsetzen und damit ein Treiber der Transformation hin zu Nachhaltigkeit sein. Man könnte auch überlegen, die deutsche Agentur für Sprunginnovationen, die es seit 2019 in Leipzig gibt, noch stärker um eine gesellschaftspolitische Dimension zu erweitern. Orientierung könnten hierfür die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen bieten.
Noch ein Problem: In der Forschung ist Deutschland oft führend, aber erfolgreiche Produkte machen dann andere aus den Erfindungen. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten wird das immer wieder kritisiert. Wie könnte sich das ändern?
Jan Breitinger: Ich denke, es ist richtig, mit genau dieser Diagnose zu starten. Hierzulande wird sehr, sehr gute Forschungsarbeit geleistet. Wir könnten also sagen, dass wir es nicht mit einem Problem der Erkenntnisgenerierung zu tun haben, sondern mit einem Umsetzungsproblem.
Der Grund dafür ist aus unserer Sicht weniger die mangelnde Kapitalausstattung von Start-ups, die oft kritisiert wird. Vor Corona hatten beispielsweise die Investments in der Gründungsphase zugenommen und gerade in der Frühphase stehen gute finanzielle Förderangebote zur Verfügung. Wir sehen eher Barrieren individueller und struktureller Art.
Zu den individuellen Hürden gehören die immer noch sehr, sehr starren Karrierewege in Forschungseinrichtungen. Man muss sich an einem bestimmten Punkt entscheiden, ob man in der Wissenschaft bleibt oder auf eine Gründung mit allen verbundenen persönlichen Risiken setzt. Hier müsste man die Gründungsmöglichkeiten flexibilisieren, zum Beispiel durch Modelle wie Gründen ohne Gründer oder Gründen mit starkem Partner, bei dem die Universität oder Einrichtung einen Teil des Risikos trägt. Gleichzeitig werden die Kompetenzen, die man für die Gründung eines Start-ups braucht, nicht gezielt und karrierebegleitend an die Menschen in den wissenschaftlichen Einrichtungen vermittelt, die sich eine Gründung vorstellen könnten. Auch das müsste man ändern.
Unabhängig davon stellen wir fest, dass in Deutschland häufig Menschen mit sehr ähnlichen familiären, sozialen und Bildungshintergründen ein eigenes Start-up gründen. Wir sollten uns daher fragen, wie wir es schaffen, auch andere Menschen fürs Gründen zu begeistern.
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Jetzt Mitglied werden!Der Ruf des Kapitalismus und der Marktwirtschaft hat in den vergangenen Jahren ziemlich gelitten. Und doch fordert ihr, dass die Politik auch in Zukunft den Großteil der Innovationsarbeit den „Kräften des Marktes“ überlassen soll. Warum?
Jan Breitinger: Der Markt ist ein wichtiger Teil der Lösung, aber sicherlich nicht die alleinige Lösung. Er kann wichtige Beiträge zu mehr Innovationen leisten, weil er unternehmerisches Herangehen, Wettbewerb und Dynamik erzeugt. Allerdings muss der Korridor klar definiert sein, in dem sich die Marktkräfte entfalten können – durch Anreize, aber auch durch Einschränkungen.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass der freie Markt kein Naturzustand ist, in den man nicht eingreifen dürfte.
Wichtig ist die Erkenntnis, dass der freie Markt kein Naturzustand ist, in den man nicht eingreifen dürfte. Und auch, dass er Probleme mit sich bringt. Die Marktkräfte und die Marktgläubigkeit haben in den letzten Jahrzehnten erheblich dazu beigetragen, dass wir klimaschädlich produzieren, leben und konsumieren. Damit komme ich auch wieder zu einem Punkt von vorhin: Man kann diese Probleme nicht mit den gleichen Ansätzen lösen, durch die sie entstanden sind.
Ein weiterer Punkt, durch den wir erkennen, dass der Markt nicht richtig funktioniert, ist die fehlende Problemdetektion. In unseren Marktwirtschaften wird aus fast allem ein Business Case und ein Geschäftsmodell gemacht. Wenn es jedoch um Nachhaltigkeit geht, passiert das noch viel zu wenig. Das liegt auch daran, dass die Kosten, zum Beispiel für Umweltzerstörung oder CO2-Emissionen, bisher externalisiert werden und dadurch nicht auf den Tisch kommen. Das muss sich ändern. Es muss Transparenz geschaffen werden, welche Produkte und welche Services welche sozialen Kosten mit sich bringen, damit diese Kosten eingepreist werden. Dann wird der Markt – als Mittel, nicht als Zweck – auch dazu beitragen, bessere Lösungen zu entwickeln und grünes Wachstum zu erzeugen. Die Technologien und die Kompetenzen dafür haben wir ja längst.
Zum Schluss noch die alles entscheidende Frage: Besteht noch Hoffnung für den Standort Deutschland?
Jan Breitinger: Hierzulande ist – trotz aller Probleme – eigentlich alles vorhanden, was wir brauchen: gute Forschung, eine sehr vielfältige, dezentral aufgebaute Wirtschaftswelt, ein Sozial- und Bildungssystem, politische Stabilität, eine funktionierende Gewaltenteilung, eine lebendige Zivilgesellschaft. Was fehlt, ist die Formulierung ambitionierter Visionen und eine grundlegende Neuausrichtung der Innovationspolitik mitsamt den nötigen institutionellen Veränderungen. Diese Veränderungen können zum Teil schmerzhaft sein, doch wenn all dies gelingt, dann besteht auf jeden Fall Hoffnung.
Titelbild: Getty Images
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