„Too Big to Fail“: Warum große Forschungsprojekte keine Milliardengräber mehr werden dürfen

Kostenexplosionen bei Großforschungsprojekten kann sich der Staat nicht mehr leisten, findet Thomas Sattelberger. Er plädiert dafür, bei einigen der Milliardengräber das Aus zu beschließen und laufende sowie kommende Großprojekte realistisch zu bewerten und klare Prioritäten zu setzen.

Ein Gastbeitrag von Thomas Sattelberger

„Too big to fail“ ist in der Unternehmenswelt bestens bekannt. In der Finanzkrise 2008 wurden in den USA Rettungspakete für große Finanzinstitute geschnürt, in Deutschland für die Commerzbank aufgrund ihrer „Systemrelevanz“. Nicht nur, um deren Zusammenbruch, sondern den des gesamten Finanzsystems zu verhindern. In der Corona-Pandemie gab es eine ähnliche Rettung von Unternehmen anderer Branchen. Und erst jüngst wurde entschieden, mit Garantien von 15 Milliarden Euro, davon 50 Prozent durch den Bund, den kriselnden Dax-Konzern Siemens Energy zu stabilisieren.

Darmstädter „Forschungszombie“ Fair – unter dem Radar der Öffentlichkeit

All diese Entscheidungen lösen immer wieder öffentlichkeitswirksam grundsätzliche Debatten aus. Die Kostenexplosionen (zwischen-)staatlich finanzierter, milliardenschwerer Forschungsprojekte schwimmen dagegen wie tief getauchte Unterseeboote unter dem Radar. Dazu kommen oft viel zu niedrig kalkulierte Betriebskosten für kommende, meist überoptimistisch prognostizierte Forschungshaushalte.

Ein Beispiel ist die Teilchenbeschleuniger-Anlage Fair in Darmstadt. Ursprünglich (2005) waren Kosten von 700 Millionen Euro geplant, davon rund 490 Millionen Euro für Deutschland. Im September 2015 legte die Fair-Gesellschafterversammlung, in der die Partnerländer vertreten sind, 1,262 Milliarden Euro zum Preisniveau von 2005 als Kostenobergrenze fest. Der Kostenanteil Deutschlands beträgt rund 70 Prozent, einen Großteil davon trägt der Bund. Inzwischen beläuft sich allein der bereits bewilligte Anteil des Bundes auf 2,1 Milliarden Euro.

Und es wird noch grotesker – denn bei diesem Betrag bleibt es nicht. Konkret weist ein Sonderbericht des Bundesforschungsministeriums BMBF für die inzwischen schon zum zweiten Mal abgemagerte Ausbaustufe „First Science“ allein für den Bund Mehrkosten von mindestens 518 Millionen Euro aus. Je nach Inflationsrate könnte es aber auch bis zu 659 Millionen Euro teurer werden.

Doch damit ist das Ende der Fahnenstange nicht erreicht. Denn „First Science“ gilt nur als Einstiegsstufe für die Grundlagenforschung mit Schwerionen. Der mögliche Erkenntnisgewinn durch die Fair würde damit also nicht voll ausgeschöpft werden… Wirklich interessant wird Fair also erst durch weiterführende Ausbaustufen. Doch die zögen Mehrkosten von bis zu 720 Millionen Euro für den Bund nach sich, heißt es im Sonderbericht. Ob da die anderen Partnerländer mitmachen, steht in den Sternen. Und ob mit einem Zahlungsausfall des 17,45 Prozent-Partners Russland zu rechnen ist, erst recht. Dass wesentliche Baukomponenten für die relevanten Ausbaustufen aus Russland stammen und was ihr Ausfall bedeuten würde, darf die interessierte Öffentlichkeit nicht wissen. Die Details sind Verschlusssache! Too big to fail!

Über die nach wie vor unfertige, mit dem Rücken zur Wand stehende, inzwischen 20 Milliarden Euro teure Kernfusionsanlage Iter und die Idee der IPP Max Planck-Direktorin Sibylle Günther, für einen alternativen magnetbasierten Fusionsreaktor abermals weitere 20 Milliarden Euro zu fordern, habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben.

Typisch deutsch: Die doppelte Standortsuche

Über das Einstein-Teleskop diskutiert die Wissenschaft seit Jahren. 2021 wurde es auf die Roadmap der europäischen Forschungsinfrastrukturen aufgenommen. Rund 1,7 Milliarden Euro wurden damals dafür veranschlagt. Heute ist allen klar, dass der Bau erheblich teurer wird. Die Niederlande haben für den potenziellen Standort in Limburg 870 Millionen Euro zugesagt. Von Italien wird dieser Tage ebenfalls eine beträchtliche Zusage erwartet. Doch nun versuchen deutsche Forscher vor allem von Max Planck die Lausitz zu pushen. In der sächsischen Lausitz entsteht in Görlitz im Zusammenhang mit der Transformation des Braunkohlereviers mit dem Deutschen Zentrum für Astrophysik (DZA) ein neues Großforschungszentrum. In typisch europäischer Manier wird jetzt für das Prestigeobjekt Einstein-Teleskop statt über einen Standort über zwei Standorte nachgedacht. Man kann nur hoffen, dass die deutsche Angst vor einem weiteren Fair-Debakel dies verhindert.

Und dann gibt es auch noch den jetzt schon fast doppelt so teuer geschätzten (1,373 Milliarden Euro) Bau des Petra IV Super-Röntgenmikroskops des Desy, der nach Angaben des BMBF Ende 2020 zunächst auf rund 670 Millionen Euro geschätzt worden war. Weil das Desy zur außeruniversitären Helmholtz-Gemeinschaft gehört, würde der Bund 90 Prozent der Kosten für den Bau von Petra IV tragen müssen, zehn Prozent entfielen auf das Sitzland Hamburg. Ich habe schon bei meinem Besuch des Desy 2022 die Verantwortlichen sorgenvoll aufgefordert, so schnell wie möglich nicht nur über Transfer zu reden, sondern echte Businesskonzepte für kommerzielle Nutzung vorzulegen. Einige dieser Verantwortlichen sind zudem Unterstützer eines Einstein-Teleskops in der Lausitz.

Dringende und drängende Forschung wird kannibalisiert

Die dramatische „Ver-Fixkostung“ des BMBF-Haushaltes zum einen durch Pakte wie den für Forschung und Innovation (PFI) und zum anderen durch hier skizzierte Mega-Projekte meist der Grundlagenforschung hat böse Folgen für anwendungsorientierte Technologien. Denn in den kommenden mageren Jahren verstopfen Multimilliarden-Projekte in stagnierenden oder schrumpfenden Haushalten die letzten Spielräume beispielsweise für Quanten-Computing, Künstliche Intelligenz, Genome Sequencing oder Impfstoffforschung.

Vordergründige Argumente wie die schwierige Auflösbarkeit internationaler Projektverflochtenheit oder die Blockade des technischen Fortschritts bis hin zum Argument des verlorenen Geldes bei Aufgabe des Projektes führen dazu, dass es kaum Beispiele des Stopps solcher Projekte gibt. Der Superconducting Super Collider (SSC) in den USA beispielsweise wurde 1993 aufgrund einer Kostenexplosion von ursprünglich 4,4 Milliarden auf über 12 Milliarden Dollar durch den US-Kongress komplett eingestellt. Obwohl bereits 22,5 der 87 Kilometer des Tunnels fertiggestellt und 2 Milliarden Dollar investiert waren.

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Innovating Innovation – oder: Was jetzt zu tun ist

Das Wichtigste: Endlich das überfällige Exempel statuieren. Das gilt im Übrigen gerade auch dann, wenn Gutachter wie bei Fair konstatieren, dass ein Projekt-Aus fast so teuer käme wie der Weiterbau. Denn „too big to fail“ erzeugt offensichtlich ein extrem hohes moralisches Risiko („moral hazard“). Die Forschungsinstitutionen und die Forscher nutzen mit ihrem Verhalten das Kollektiv, also die Gesellschaft, nach ihren Interessen aus. Wenn Organisationen in der Wissenschaft wissen, dass sie im Falle von Managementversagen oder Kostenexplosion allemal gerettet, statt sanktioniert werden, verfolgen sie nach wie vor ihre bisherigen Geschäftspraktiken. Und die Kosten wachsen ins Unermessliche.

Eine technologiestrategische Bewertung und Priorisierung laufender wie kommender Großprojekte ist überfällig. Schon Ende 2021 mussten wir uns im BMBF selbst auf die Suche nach den verborgenen milliardenschweren Risiken der vergangenen CDU-Ära machen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zum Klima- und Transformationsfonds macht diese Priorisierung wohl unumgänglich. Denn schließlich soll daraus der Neubau des immens teuren Forschungsschiffs Polarstern und später vielleicht sogar die anstehende Erneuerung der regionalen Forschungsflotte finanziert werden. Übrigens: Ich würde bei der gesamten Forschungsflotte ein Exempel bei der strategischen Priorisierung statuieren. Es muss ja nicht „nur“ ein Exempel statuiert werden.

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Es ist schon richtig, diese Monsterprojekte auf den Prüfstand zu stellen.
Ob eine Konzentration auf potenzielle Anwendungen sinnvoll ist, finde ich fraglich.
Alle (oder fast alle) Anwendungen stammen ursprünglich aus der Grundlagenforschung. Anwendungen waren fast nie vorher abzusehen. Wer hätte in den 1980er Jahren gedacht, dass die DNA Sequenzierung zur Diagnose und Therapie (!) von Erbkrankheiten, zur Analyse von Ökosystemen und zur Entwicklung von PET-fressenden Enzymen führt? CRISPR-Cas wäre ohne Sequenzierung nicht möglich gewesen. Eine Kosten-Nutzen-Berechnung ist bei Grundlagenforschung nicht möglich. Wir wissen nur, dass ohne sie nichts geht.
Einschnitte mögen nötig sein. Die Monsterprojekte bieten sich dafür an. Wir müssen uns nur darüber im Klaren sein, dass eine „Priorisierung“ weitgehend arbiträr ist. Wir wissen nicht, welche fundamentalen Erkenntnisse wir damit „wegpriorisieren“.

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Lieber Wolfgang Nellen, der Vergleich mit CRISPR-Cas hinkt ein wenig, da wir hier nicht über viele Milliarden für Grundlagenforschung sprechen, erst recht nicht in Deutschland. Meine Beispiele sind überwiegend große Infrastrukturen, denen Kosten-Explosionen immanent sind. Nur um diese geht es in meinem Beitrag, nicht um Grundlagenforschung generell. Dass dort keine Kosten-Nutzen-Betrachtung angestellt werden kann, erklärt sich von selbst. Bei Monster-Infrastrukturprojekten dagegen wäre ein KPI die Zahl der Kostenanpassungen, deren Höhe und die Zahl der in Evaluierungen festgestellten Management-Fehler.

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Ich weiss, dass der Vergleich hinkt!
Ich habe nur die Klarstellung provoziert, die ich haben wollte! :wink:
Es erklärt sich m.E. nicht von selbst, dass Grundlagenforschung keine Kosten-Nutzen-Betrachtung erlaubt. Es ging mir hauptsächlich darum deutlich zu machen, dass man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten darf: Grundlagenforschung kann nicht einer Kosten-Nutzen-Kalkulation unterliegen!
Wie schon gesagt, die „Monster-Projekte“ sind mir auch suspekt und manche Physiker zweifeln auch an dem potenziellen Erkenntnisgewinn im Verhältnis zu den Investiotionen. „Potenzieller Erkenntnisgewinn“ ist aber eine schwammige, kaum definierbare Größe.
Als Biologe wäre es mir auch lieber, wenn ein paar Euro mehr in die wichtigste Wissenschaft überhaupt :wink: fließen würden.

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