Alternativen im Netz: Was ist nun eigentlich dieses Fediverse?

Wer den klassischen Social-Media-Giganten entkommen will, aber weiterhin derartige Dienste nutzen mag, der kann in das Fediverse flüchten. Dort existieren Alternativen zu Twitter, Facebook, YouTube und anderen Plattformen. Diese werden nicht von Firmen entwickelt und betrieben, sondern von Freiwilligen. Das hat Vor- und Nachteile.

Von Michael Förtsch

Erst will er Twitter kaufen. Jetzt nun doch nicht. Aber vielleicht muss er. So oder so: Die Chance ist groß, dass der so verehrte, wie auch verhasste Tech-Milliardär Elon Musk den 2006 gegründeten Social-Media-Dienst übernehmen wird. Denn dessen Leitung hat zugestimmt, das derzeit börsennotierte Unternehmen gegen 44 Milliarden US-Dollar komplett in den Privatbesitz von Musk zu übergeben. Twitter klagt nun sogar auf den Vertragsabschluss. Wechselt Twitter den Besitzer, könnte sich so einiges beim Kurznachrichtendienst ändern. Denn Musk kündigte bereits an, dass er den von Millionen Menschen genutzten Dienst in eine „Plattform für freie Rede“ umwandeln wolle. Die Sperrung von Konten und die Moderation von Inhalten solle also drastisch gebremst werden, mutmaßen viele. Denn Elon Musk hat eine eigene und streitbare Definition von Redefreiheit – und deren Grenzen.

Darüber hinaus ist unsicher, was der Milliardär, der für spontane Einfälle und Sinneswandel bekannt ist, sonst noch an Twitter ändern oder verbessern könnte. Für nicht wenige Nutzer ist die drohende Twitter-Übernahme ein Weckruf. Sie verdeutlicht, wie konzentriert die Kontrolle über die beliebten und viel genutzten Social-Media-Plattformen ist; wie massiv der Einfluss einiger weniger Personen deren Nutzung und Ausrichtung prägen kann. Und sie lässt viele realisieren, wie sehr sie in den digital umzäunten Gehegen der Social-Media-Giganten eingeschlossen sind. Schließlich lassen sie sich nur schwer verlassen, ohne dass man den Zugang zu Kontakten, Freunden, Followern und Dienstleistungen verliert.

Nicht wenige User machten sich nach der Ankündigung des Twitter-Verkaufs daher abrupt auf die Suche nach Alternativen. Dabei stießen sie insbesondere auf eine: Mastodon. Das ist ein Social-Media-Dienst, der Twitter in vielen Facetten verblüffend gleicht, aber auch wieder nicht. Denn hinter Mastodon steht keine gewinnorientierte Firma, die es zentral kontrolliert und steuert. Stattdessen ist es ein Teil des sogenannten Fediverse, das langsam aber sicher zunehmend Beachtung und Aufmerksamkeit findet.

Dezentral und ausfallsicher?

Was das Fediverse – oder auch Federated Universe oder Fediversum – genau ist und alles umfasst, darüber herrscht nicht gänzlich Einigkeit. Aber grundsätzlich bezeichnet der Begriff ein Netzwerk aus verschiedensten Diensten und Plattformen, die voneinander unabhängig agieren, auf eigenen Servern betrieben werden können, aber dennoch miteinander kompatibel und verbunden sind. Sie können Daten austauschen und abgleichen, Nutzern direkten Zugriff gewähren und dadurch wie eine homogene Digitallandschaft funktionieren. Nicht unähnlich also wie es bei Bundesländern in föderal organisierten Staaten wie der Bundesrepublik ist – oder auch der Weise, wie E-Mails funktionieren.

Der Vorteil solcher föderaler Dienste ist, dass grundsätzlich jeder mitmachen kann. Oft ist die Software für solche Plattformen open source und kann kostenlos genutzt und auf einem eigenen Server eingerichtet werden – der dann für andere geöffnet werden kann. Dadurch kann ein Fediverse-Dienst auch nicht ohne weiteres einfach ausfallen. Er lässt sich auch nicht einfach abschalten, da er auf Dutzenden, Hunderten oder sogar Tausenden von verschiedenen Computern läuft, die alle von unterschiedlichen Personen betrieben werden – und das rund um die Welt. Diese Dienste sind also dezentral. Dazu können die Betreiber dieser sogenannten Instanzen – und in Teilen auch deren Nutzer – selbst bestimmen, welche Daten gesammelt werden oder was mit diesen geschieht – insbesondere, wenn sie die Plattform nicht mehr nutzen wollen.

Wer beispielsweise Mastodon nutzen will, der kann sich einen Account direkt bei mastodon.social anlegen, dem Server, der direkt von den Machern der freien Software angeboten wird. Aber ebenso kann ein Konto auf einer alternativen Instanz registriert werden, die in vielen Fällen auch eine regionale oder auf Interessen basierte Gemeinschaft darstellt. So gibt es eigene Instanzen für Bürger von München, für Freunde grüner Technologien oder auch für Fans von Anime und Videospielen. Wer sich bei einer solchen Instanz registriert, kann dann trotzdem allen Nutzern von Mastodon folgen und mit diesen kommunizieren. Denn die einzelnen Instanzen kommunizieren auch untereinander – und sogar mit anderen Angeboten des Fediverse.

Es werden mehr

Das, was das Fediverse besonders macht, ist, dass nicht nur Mastodon-Instanzen miteinander sprechen können. Sondern auch Mastodon-Instanzen und andere Plattformen und deren Server. Darunter ist beispielsweise der an Instagram angelehnte Dienst Pixelfed. Sowohl Mastodon als auch Pixelfed nutzen das Protokoll ActivityPub, das eine für beide Dienste lesbare und nutzbare Schnittstelle zur Übertragung und Verwertung von Nachrichten an die Nutzer öffnet. Dadurch können Mastodon-Nutzer auch Nicht-Mastodon-Nutzern folgen und deren neue Inhalte in ihrem Feed sehen. Beispielsweise Bilder eines Nutzers von Pixelfed – oder Texte und Videos von Nutzern anderer Dienste, die ActivityPub integriert haben. Und das sind mittlerweile einige…

  • Friendica existiert seit 2010 und ist als Social-Media-Cockpit konzipiert. Es ist im Grundsatz an Facebook orientiert, soll aber mit den Inhalten von möglichst vielen Diensten kompatibel sein.

  • Pleorama ist ein weiterer Twitter-Klon, der besonders schlank und ressourcensparend aufgebaut ist

  • Funkwhale ist eine Plattform, um die eigene Bibliothek von Audio- und Musikdaten überall verfügbar zu machen und mit Freunden zu teilen. Sie ist mit Soundcloud vergleichbar.

  • Zap ist als Alternative zu Facebook gedacht, aber noch nicht weit verbreitet.

  • Honk ist ein Messenger, bei dem Nutzer in Echtzeit sehen, was andere schreiben. Ebenso kann gemeinsam gespielt werden.

  • BookWyrm ist ein soziales Netzwerk für Buchliebhaber.

  • Lemmy ist ein Dienst, der sich an Plattformen wie Reddit und Hacker News orientiert und bei dem Nutzer Links zu Nachrichten, Texten, Bildern und mehr sammeln.

  • NextCloud Social ist ein minimales Social Network für kleinere Gemeinschaften, das rund um die Server- und Filehosting-Plattform NextCloud aufgebaut ist.

  • Mobilizon ist ein Event-Planer.

  • PeerTube ist ein Video-Hosting-Dienst, der YouTube nachempfunden ist.

  • WriteFreely ist eine schlanke Plattform zum Anlegen und Betreiben von Blogs.

Zahlreiche weitere Dienste sind bereits angekündigt oder sind schon in der Entwicklung.

Neben ActivityPub existieren noch einige wenige andere Protokolle, die Dienste und Websites miteinander kompatibel machen können – und dadurch parallele föderierte Universen schaffen. Zuvorderst ist das Diaspora, das vor allem die Instanzen – die sogenannten Pods – des einst als Facebook-Konkurrent gefeierten Social Network des gleichen Namens miteinander in Verbindung setzt. Aber mittlerweile wird das Protokoll auch von Diensten wie SocialHome und Friendica eingesetzt. Ebenso existiert GNU Social, eine der ältesten quell-offenen Social-Media-Plattformen. Es nutzt den OStatus-Standard und ist dadurch von Haus aus nur mit wenigen anderen Diensten kompatibel – jedoch existieren Erweiterungen, die es mit dem ActivityPub-Protokoll nachrüsten.

Sowieso sind viele Dienste im Fediverse quelloffen – und dürfen frei weiterentwickelt oder auch verändert werden. Das erlaubt es auch, deren Optik, Funktion und Nutzererfahrung anzupassen oder zu erweitern. Etwa dahingehend, welche Protokolle unterstützt werden. Aber beispielsweise auch die Art und Weise, wie Nachrichten in den Timelines der Nutzer aufbereitet, sortiert oder präsentiert werden. Damit soll auch eine Bevormundung wie beispielsweise durch die Algorithmen von Facebook verhindert werden und die Hoheit über den Konsum von Inhalten in die Hände der Nutzer zurückgelangen.

Eine Kampfansage an die Konzerne?

Offene Schnittstellen und das Fediverse als solches sind eine Gegenbewegung gegen Plattformen wie Facebook, YouTube und Twitter – und deren Macht und eindeutige Nachteile. Wer auf einer dieser Plattformen unberechtigt gesperrt wird, der hat kaum Möglichkeiten, dagegen vorzugehen, und verliert dadurch unmittelbar den Kontakt zu Freunden und Followern. Im Fediverse lässt sich hingegen einfach ein neues Konto auf einer anderen Instanz eröffnen. Fallen die Server einer Plattform wie Twitter oder Facebook aus oder werden sie geschlossen, ist das Social Network und damit das Netzwerk an Freunden unerreichbar. Das kann bei einem Dienst des Fediverse nicht so einfach passierten. Denn es wird nicht von einem Unternehmen, sondern Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen betrieben – unabhängig und individuell. Fällt eine Instanz aus, ist nur diese nicht erreichbar.

Diese Resilienz des Fediverse ist nicht ohne Herausforderungen. Unabhängige und unkontrollierbare Instanzen von Diensten bedeuten auch, dass sich das Fediverse nur schwer moderieren lässt. Über viele Jahre galt Mastodon als „das Twitter ohne Nazis“ – bis Twitter begann, strenger gegen extremistische Nutzer, Beleidigungen und Fake News vorzugehen. Viele flüchteten daraufhin zu Mastodon – und verbreiteten hier ihre politischen Botschaften. Zahlreiche Instanzen moderierten gegen die extremen Nutzer an – aber einige der mittlerweile über 3.700 Instanzen auch nicht, etwa weil deren Betreiber und Nutzer selbst rechten Gesinnungen nahestehen oder in der Blockade eine Zensur sehen.

Ebenso existiert mit Gab eine Social-Media-Plattform, deren Kern ein sogenannter Fork – eine modifizierte Fassung – von Mastodon darstellt, und die explizit Nutzer mit einer rechten Ideologie begrüßt. Auch Gab ist theoretisch ein Teil des Fediverse, wenngleich viele Instanzen von Mastodon und anderen Diensten es blockieren – und dadurch dessen Inhalte und Nutzer aussperren. Dieses Vorgehen ist nicht ohne Widerspruch und Debatte. Denn eigentlich, argumentieren einige Entwickler, sei es die Mission des Fediverse, eben keine Grenzen zu ziehen und ein Netz von Diensten und Plattformen zu schaffen, das keine Blockaden und Hürden kennt.

Das gezielte Nichtverbinden mit anderen Instanzen ist jedoch nicht nur ein Mittel gegen toxische Nutzer, sondern auch ein Werkzeug, um im Fediverse so etwas wie Interesseninseln zu schaffen. Im Jahr 2017 wurde diese Methode unter dem Namen defederation vorgestellt und wird mittlerweile von mehreren Gemeinschaften genutzt, die etwa aus Datenschutzgründen oder aus Angst vor Attacken unter sich bleiben wollen. Darunter Aktivisten- und Interessensgruppen, IT-Sicherheitsexperten und Krypto-Enthusiasten die dadurch neue Fediverses im Fediverse erschaffen.

Finde mich!

Das Fediverse bringt noch andere Herausforderungen mit. Anders als bei Twitter, Facebook und Co. existiert kein eindeutiger Benutzername. Wer durch das Fediverse hinweg einen anderen Nutzer finden will, der muss nicht nur wissen, wie dieser heißt, sondern auch auf welcher Instanz bei welchem Dienst er registriert ist. Wer 1E9 auf Mastodon sucht, der findet uns nicht unter @1E9tech wie auf Twitter, sondern muss nach @1E9tech@mastodon.social suchen. Das gleiche Prinzip gilt für Nutzer auf anderen Plattformen wie PeerTube, Lemmy, Funkwhale und so weiter. Das ist umständlich und macht das Fediverse schwerer erschließbar.

Ebenso lassen die Dienste des Fediverse natürlich auch den Komfort, die Verlässlichkeit und die Rechenschaft klassischer Plattformen vermissen. Fällt eine Instanz aus oder stellt ein Betreiber diese einfach ein, gehen Daten und Konten verloren. Zwar gibt es in den meisten Fällen Ansprechpartner, aber nicht unbedingt eine juristische Person, die eine rechtliche Verantwortung übernimmt. Instanzen sind vielfach eine freiwillige und ehrenamtliche Dienstleistung – und deren Nutzung geschieht auf eigenes Risiko. Ausnahmen gibt es natürlich. Darunter beispielsweise write.as, die Macher von WriteFreely, die ein zuverlässiges Hosting von Instanzen gegen einen monatlichen Beitrag anbieten.

Die Dezentralität kann zudem ein Sicherheitsrisiko darstellen, sollte etwa eine Hintertür in einem Dienst gefunden werden. Klassische Social-Media-Firmen können hier schnell reagieren, da sie ein Update zentral aufspielen können. Im Fediverse müssten die Betreiber von zuweilen Tausenden von Instanzen informiert und aktiv werden. Die Unberechenbarkeit des Fediverse ist daher definitiv eine Hürde – insbesondere, wenn es darum geht, nicht nur klassische soziale Medien im Fediverse aufzubauen, sondern womöglich auch Dienste, die professionell und mit hoher Datenlast genutzt werden können. Etwa Gegenstücke zu Foto-Communities wie Flickr und 500px, Entwickler-Plattformen wie GitHub oder sichere Cloud-Speicherdienste.

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Der Durchbruch kommt – vielleicht

Wie viele Menschen bereits im Fediverse unterwegs sind, das lässt sich nicht mit Bestimmtheit sagen. Denn es existiert keine zentrale Nutzerdatenbank und wöchentlich kommen neue Instanzen dazu. Schätzungen zufolge dürften aber mittlerweile über 5 Millionen Internetnutzer bei einem Fediverse-Dienst angemeldet sein. Es ist dadurch – verglichen mit den rund 1,8 Milliarden täglichen Facebook-Nutzern, den 229 Millionen aktiven Twitter-Nutzern und den 2,29 Milliarden Menschen, die monatlich auf YouTube aktiv sind – eine sehr kleine Nische. Jedoch eine, die wächst. Noch 2019 wurden nur rund 600.000 Personen im Fediverse verortet. Denn das in Teilen sehr technische und dadurch für viele sperrig empfundene Fediverse soll zunehmend intuitiver und für mehr Menschen tauglich werden.

Insbesondere Apps, die den Umgang mit Mastodon und anderen Diensten vereinfachen oder das Nutzen von Twitter und dessen Fediverse-Alternative gleichzeitig erlauben, schaffen Anknüpfungspunkte. Ebenso auch Instanzen von PeerTube, die sich ganz und gar einem Spezialthema wie 3D-Design, Regionalsport oder auch Themen widmen, die auf YouTube nicht willkommen sind – und dadurch Personen erreichen, die sonst nicht mit dem Fediverse in Berührung kommen würden. Dass Dienste wie Mastodon, PeerTube oder Friendica ihre zentralisierten Vorbilder bald entthronen oder überflüssig machen, ist also nicht zu erwarten. Aber einige Fediverse-Dienste könnten sich binnen der kommenden Jahre durchaus zu ernsthaften Alternativen entwickeln und aus der Nische herausbrechen, wenn sie denn noch einfacher und komfortabler nutzbar werden.

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Ein (wie ich finde) wichtiges Feature ist z. Bsp. auch das ich mein Mastodon-Profil mit allen Folgenden jederzeit bequem über die Benutzeroberfläche zu einer anderen Instanz umziehen kann (Wenn mir die aktuelle nicht mehr zusagt oder diese in Zukunft nicht mehr verfügbar sein wird)

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