Was ist eigentlich das neue soziale Netzwerk BlueSky – und wie viel Twitter steckt darin?

Viele Nutzer suchen nach Alternativen zu Twitter, das von Elon Musk nach und nach umgebaut wird. Ein möglicher Twitter-Ersatz bekommt derzeit besonders viel Aufmerksamkeit: BlueSky. Denn hinter diesem Social Network steht auch der einstige Twitter-Chef Jack Dorsey. Unser Redakteur konnte BlueSky schon testen.

Von Michael Förtsch

Über ein halbes Jahr ist es nun her, dass Elon Musk mit einem Spülbecken ins Twitter-Hauptquartier marschierte und das mittlerweile 17 Jahre alte Social Network übernahm. Seitdem herrschen Chaos und Verwirrung. Vor allem wegen der immer neuen und oftmals kurzfristigen Entscheidungen, die der Tesla-Chef und SpaceX-Gründer trifft. Wobei sich seine Ankündigungen und sein Handeln oft widersprechen. Elon Musk wollte Redefreiheit, aber sperrte ohne Vorwarnung zahlreiche Journalisten und ließ Links zu Seiten von Konkurrenten blockieren oder mit Warnungen versehen. Er machte die Ansage, dass alle, die einen der berühmten blauen Haken haben wollen, ab sofort dafür zahlen müssen. Doch nun verteilt Twitter sie kostenfrei an bekannte Nutzer und sogar Elon-Musk-Kritiker – ob sie den Haken nun wollen, oder nicht.

Einige Nutzer protestieren gegen den Führungsstil von Musk – und unter dem Hashtag #BlockTheBlue auch gegen diejenigen, die diesen mit ihrem neuen Twitter-Blue-Abo unterstützen. Andere haben Twitter bereits aufgegeben und suchen nach Alternativen. Und da bieten sich mittlerweile mehrere an. Darunter Mastodon, das auf im sogenannten Fediverse angesiedelte und vollkommen unabhängige Instanzen setzt, die gleich eigenständigen Kommunen funktionieren. Ein Team aus ehemaligen Google- und Twitter-Mitarbeitern arbeitet an einer Twitter-Kopie, die schlichtweg T2 heißt. Post wiederum ist ein Projekt, das das Twitter-Modell um lange Beiträge in Artikelform und ein auf Punkten basierendes Zahlungssystem erweitern will. Außerdem wäre noch Substack Notes zu nennen, eine Twitter-artige Plattform, die auf der Infrastruktur des Newsletter-Dienstes Substack aufbaut. Nostr gibt’s noch – zu dem ihr im Kasten noch mehr lesen könnt.

Und dann ist da noch BlueSky, das aus all den Twitter-Alternativen hervorsticht. Denn es wurde 2019 vom ehemaligen Twitter-Chef Jack Dorsey bei Twitter selbst angestoßen, was zunächst einmal paradox klingen mag. Aber das ist es nicht. Jedenfalls nicht unbedingt. Denn Jack Dorsey ist von der Dezentralisierung überzeugt. Nicht ein Unternehmen soll ein Netzwerk kontrollieren und die Konten seiner Nutzer. Der Betrieb soll auch nicht von Rechenzentren abhängen, die einigen wenigen Firmen gehören. Stattdessen sollen verschiedene Firmen, Vereine, Initiativen und Privatpersonen das Funktionieren eines Netzwerks sicherstellen können. Genau wie es etwa im Fediverse oder bei Kryptowährungen der Fall ist. Der Nutzer soll die Wahl und Kontrolle haben. Kein Wunder also, dass Jack Dorsey auch ein großer Bitcoin- Fan ist.

BlueSky funktioniert echt gut

BlueSky begann also als Randprojekt eines kleinen und weitestgehend unabhängigen Twitter-Teams, das einen Standard für ein dezentrales Social Network entwickeln sollte. Jeder soll an diesem Netzwerk teilhaben dürfen, indem er einen eigenen Server dafür betreibt, eine eigenständige Version davon oder eine App entwickelt. Kommunizieren sollen die Server und Apps über ein dediziertes Protokoll, das mittlerweile Authenticated Transport Protocol getauft wurde – ähnlich dem ActivityPub-Protokoll auf dem das Gros des Fediverse basiert, nur fokussierter, schneller und mit mehr Möglichkeiten. Moderationsmechaniken soll es geben sowie einen Marktplatz für Algorithmen, die den eigenen Feed sortieren, genau wie die Option, den eigenen Account von einem zum anderen Diensteanbieter mitzunehmen. Irgendwann jedenfalls.

Twitter, das war die Vision von Dorsey, könnte irgendwann zu einer BlueSky-App werden, die sich neben vielen anderen behaupten muss. Im Februar 2022 wurde BlueSky – nachdem Jack Dorsey Twitter verlassen hatte – jedoch aus Twitter ausgegliedert. Es wurde zu einem eigenständigen Unternehmen, das das Projekt seitdem selbst weiterführt. Im Oktober wurde eine Warteliste eröffnet und seit Februar können sich erste Nutzer anmelden – wenn sie denn einen der derzeit noch raren Einladungs-Codes erhalten haben. Im Februar hatte BlueSky rund 2.000 Nutzer. Aktuell liegt die Zahl zwischen 35.000 und 45.000.

Aber was ist BlueSky denn nun? Nun ja, es ist Twitter, nur eben dezentralisiert. In der Theorie zumindest, denn derzeit ist die einzige öffentliche Instanz jene von BlueSky selbst. Die Web-Oberfläche und die für iOS und Android verfügbaren Apps sind derweil ziemlich dreiste Klone von Twitter. Angefangen bei der Strukturierung der Bedienelemente für Home, Suche, Benachrichtigungen, dem kuratierten Feed und dem Follower-Feed. Die Unterschiede? BlueSky lässt 300 statt 280 Zeichen für eine Nachricht zu und verfügt derzeit noch nicht über eine Liste mit angesagten Themen oder Hashtags. Es gibt kein System für private Nachrichten. Mehr als ein Bild und Videos hochladen geht nicht. Und obwohl das keine allzu große Differenz ist, fühlt es sich ganz anders an als das aktuelle Twitter.

Sehr freundlich hier

Mittlerweile habe ich einige Tage mit BlueSky verbracht. Wie bei neuen Diensten üblich – und insbesondere welchen, die zunächst invite only sind –, wirkt alles zunächst etwas leer. Schließlich finden sich nur wenige jener Personen, denen man sonst auf solch einem Social Network folgt, weil sie noch nicht reinkommen. Trotzdem merkte ich schnell, dass BlueSky dennoch ziemlich belebt ist und eine sehr aktive Nutzerbasis hat, die viel und oft motiviert postet, streitet und debattiert. Dabei geht es vor allem um technische und popkulturelle Themen: Künstliche Intelligenz, (KI-)Kunst, Kryptowährungen, Star Wars und Star Trek – und Katzenbilder gibt es auch, klar.

Schnell folgten mir erste andere Nutzer. Vermutlich, weil die Auswahl noch recht klein ist, und nicht, weil ich so tolle Beiträge schreibe. Die überschaubare Gemeinschaft macht es auf kuriose Weise einfacher, mit anderen Nutzern in Dialog zu treten; es senkt die Hemmschwelle und Hürden. Außerdem gibt es auf BlueSky wenig Hass und Häme. Es wird kaum gepöbelt und gemotzt. Selbst über Twitter wird nicht groß hergezogen. Stattdessen herrscht eine positive und von Aufbruchstimmung geprägte Kultur. Nutzer bestärken sich gegenseitig, suchen Kontakt und Austausch. Viele sind daran interessiert, aktiv etwas zur Entwicklung der Twitter-Alternative beizutragen. Und das passiert auch.

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In weniger als zwei Tagen baute ein Entwickler namens Justin für BlueSky ein Äquivalent der Twitter Spaces auf, in denen Nutzer des Netzwerks per Audio miteinander sprechen können. Viele User gaben positives Feedback und teilten Ideen für mögliche Verbesserungen, boten aber auch ihre Hilfe an – und sogar finanzielle Unterstützung. Darunter waren Nutzer aus den USA, Brasilien, Australien, Japan, Frankreich und Deutschland. Heimelig, aber dennoch global ist die Stimmung derzeit. „Ein bisschen wie auf einem Kreuzfahrtschiff, wenn die Bar aufmacht“, beschrieb eine BlueSky-Nutzerin das Zusammensein in einem der Audio-Chat-Räume. „Wenn alle plötzlich auftauen und jeder auf einmal ein Freund oder guter Bekannter ist.“

Ob und wie sich diese Atmosphäre mit dem bevorstehenden Wachstum bewahren lässt? Das ist eine gute Frage – und eine Herausforderung, der sich die Entwickler stellen. Denn ein Ziel des Authenticated Transport Protocol ist es, den Nutzern mehr Kontrolle darüber zu geben, was sie sehen und wie sie das Social Network erleben. Wer nichts von Tagespolitik oder Debatten um Star Wars und Marvel sehen möchte, soll das nicht müssen. Wer in seinem Feed keine Klimawandelleugner will, der soll die Möglichkeit bekommen, das so einzustellen. Schon jetzt können „explizit sexuelle Bilder“ und „politische Hass-Gruppen“ ausgeblendet werden. Entsprechende Filter und Algorithmen sollen sich selbst erstellen oder über den geplanten Marktplatz importieren lassen.

Doch noch ist das nicht nötig. BlueSky wirkt derzeit, als würde es einen in die Frühzeit der Social Media zurückbefördern. In die Jahre 2007 bis 2012 als Twitter seine Pionierphase erlebte und es noch aufregend und erhebend war, sich in kurzen Nachrichten mit Menschen aus einem anderen Land, ja einem anderen Kontinent auszutauschen. Als Twitter noch ein globales Dorf war, in dem sich Leute auf ein lockeres Gespräch trafen und nicht eine versiffte Metropole, in der man angepöbelt wird, sobald man vor die Tür tritt.

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