Virtual Reality etabliert sich als Unterhaltungsmedium – und wird als Schnittstelle zum Metaversum diskutiert. Immer häufiger kommt VR auch im Gesundheitssektor zum Einsatz – ob nun in der Therapie von Traumata und Phobien, in der Rehabilitation nach Schlaganfällen oder in der Linderung chronischer Schmerzen.
Von Achim Fehrenbach
Auf der Tischplatte krabbelt eine Spinne heran. Eine fette, langbeinige Spinne. Hilflos verfolgt der Proband, wie sich das Tier seinem entblößten Oberarm nähert. Werden die haarigen Spinnenbeine im nächsten Moment seine Haut berühren? Wird die Spinne ihn gar beißen? Der Fluchtreflex ist überwältigend – doch eine Chance auf Flucht gibt es nicht: Der Proband kann seinen Arm nicht vom Fleck bewegen. Das wäre auch nicht Sinn der Sache, denn das Ganze ist eine VR-Therapie. Im virtuellen Raum lernt der Proband, sich der gefühlten Bedrohung auszusetzen – und seine Spinnenangst zu überwinden.
Die Behandlung von Ängsten zählt zu den frühen Anwendungsformen von Virtual Reality. Ob nun Höhenangst, Platzangst oder Arachnophobie: Virtuelle Räume eignen sich ausgezeichnet für Konfrontationstherapien, in denen wir Spinnen streicheln, enge Aufzüge nutzen oder über Abgründe balancieren. „Die Immersion von VR kann starke, tiefe Emotionen wecken – und das kann in der Therapie hilfreich sein“, sagt Noah Falstein. Der US-Amerikaner ist ein Veteran der Computerspielbranche. Er gehörte zum Gründungsteam von Lucasfilm Games, schuf zwei klassische Indiana-Jones-Adventure und mischt beim kürzlich angekündigten Monkey-Island-Sequel mit. Seit gut 25 Jahren beschäftigt sich Falstein zudem mit Neurogaming, Virtual Reality, Augmented Reality und Games for Health: Mit seiner Firma The Inspiracy berät er Start-ups wie Akili Interactive oder Dopavision – dazu später mehr.
Schon vor 20 Jahren wurde VR zur Behandlung von Phobien genutzt.
Noah Falstein
„Schon vor 20 Jahren wurde VR zur Behandlung von Phobien genutzt“, erzählt Falstein. „Ich erinnere mich an eine Doom-Modification, die Arachnophobie recht wirksam behandelt hat.“ Als weiteres Therapiebeispiel nennt Falstein VR-Anwendungen gegen Flugangst: „Man simuliert den Start eines Flugzeugs. Wenn die Leute Panik bekommen, müssen sie nur das Headset abnehmen.“ Wobei der Lerneffekt ja gerade darin besteht, die Situation auch bei größtem Unwohlsein durchzustehen. Sehr früh wurden auch schon traumatische Kriegsszenarien in Virtual Reality nachmodelliert, um Veteranen mit Posttraumatische Belastungsstörung zu behandeln. Darunter BraveMind VR, das vom Institute for Creative Technologies der Universität von Southern California entwickelt wurde.
Gegen den Schmerz
Konfrontationstherapien sind nur eine von zahlreichen VR-Anwendungen für das Gesundheitswesen. „Es gibt viele interessante Teilbereiche“, sagt Falstein. „Manche VR-Headsets bieten Eye-Tracking – das kann hilfreich sein, um Menschen mit Asperger-Syndrom beizubringen, anderen Menschen in die Augen zu schauen.“ VR scheint grundsätzlich gut geeignet zu sein, um Menschen mit Autismus zu therapieren. Firmen wie Healium oder Andromeda Entertainment wiederum nutzen VR für Meditation und Entspannung – ein Bereich, der gerade in der Pandemie dynamisch wächst. MyndVR entwickelt VR-Experiences, die Menschen mit eingeschränkter Mobilität aus ferne Orte reisen lassen oder Kindheitserinnerungen evozieren. Osso VR ist eine VR-Plattform, auf der Chirurgen bestimmte OP-Situationen trainieren können, während Mindmaze VR-Übungen für Schlaganfallpatienten bereitstellt.
Sehr intensiv wird derzeit im Bereich der Schmerztherapie geforscht – zum Beispiel von Firmen wie Videoreality, AppliedVR und Neuroplasticity VR. Bereits bewährt hat sich VR in der Prävention: Fitness-Apps wie Supernatural, FitXR und Beat Saber sorgen für die nötige Motivation, auch in den heimischen vier Wänden zu trainieren – und damit etwas für die eigene Gesundheit zu tun.
Dennoch sieht Falstein VR nicht als Allheil- oder Wundermittel. „Ich empfehle meinen Kunden, VR tendenziell nur dann zu verwenden, wenn es für die Behandlung oder Therapie absolut notwendig ist“, sagt er. Ein Grund ist, dass VR-Brillen noch längst nicht so verbreitet sind, als dass sie flächendeckend eingesetzt werden könnten. „Wenn man eine ähnliche Art von Behandlung oder Training mit Smartphones oder Tablets hinbekommt, dann steht buchstäblich das Hundert- oder Tausendfache an nutzbaren Plattformen zur Verfügung“, konstatiert Falstein. „Es gibt einfach deutlich mehr Leute mit einem qualitativ hochwertigen Smartphone als mit einer qualitativ hochwertigen VR-Brille.“ Das könnte sich jedoch ändern, wenn immer mehr leistungsfähige, kabellose VR-Headsets auf den Markt kommen.
VR gegen Kurzsichtigkeit?
Dopavision ist ein deutsches Start-up, dessen VR-Anwendung mittelfristig ein Massenpublikum erreichen soll. „Es geht darum, das Voranschreiten von Kurzsichtigkeit bei Kindern zu verlangsamen“, erläutert Andreas Balser. „Und zwar mit einer Therapie, die ein VR-Spiel mit einem Lichtstimulus kombiniert.“ In nahezu allen Industrieländern habe Kurzsichtigkeit in den letzten 30 Jahren enorm zugenommen, so Balser. „Bald werden in diesen Ländern mehr als die Hälfte aller Kinder kurzsichtig sein – beziehungsweise werden.“ Myopie, so der Fachbegriff, beginnt meist im Alter von sechs bis zehn Jahren – und werde dann mit jedem Jahr schlimmer. In den allermeisten Fällen stoppt die Entwicklung am Ende der Pubertät – und diese Kurzsichtigkeit hat man dann für den Rest des Lebens.
Einer der Hauptgründe für die „pandemieartige Ausbreitung der Kurzsichtigkeit“ sind laut Balser die veränderten Lebensbedingungen: „Kinder sind immer fleißiger, arbeiten immer mehr für die Schule, bewegen sich weniger und gehen weniger nach draußen.“ Gerade das Lesen am Bildschirm leiste der Kurzsichtigkeit Vorschub. Physiologisch betrachtet sei das Problem bei Kurzsichtigkeit, dass der Augapfel zu sehr in die Länge wächst. Dadurch gelingt es der Linse nicht mehr, das Bild auf der Netzhaut scharf zu stellen. Dies bedingt aber nicht nur eingeschränkte Sehqualität.
„Bei starker Kurzsichtigkeit hat man auch ein deutlich erhöhtes Risiko für mehrere schwerwiegende Augenerkrankungen, die später im Leben auftreten können, von grünem und grauem Star bis hin zur Netzhautablösung.“ Eine Laserbehandlung kann zwar die Kurzsichtigkeit korrigieren, ist aber nicht in der Lage, die übermäßige Länge des Augapfels zu beheben. „Sport und Draußensein sind gut, weil das natürliche Tageslicht eine positive Wirkung hat“, sagt Balser. Genau hier setzt auch der Wirkmechanismus der App MyopiaX an: Ein Lichtimpuls soll im Auge die Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin anregen – und dieser wiederum das Längenwachstum des Augapfels bremsen.
Gegründet wurde Dopavision im Jahre 2017. Die Firma hat ihren Hauptsitz in Berlin und beschäftigt derzeit zehn Fachkräfte. Zu den externen Beratern zählt unter anderem Noah Falstein. Hervorgegangen ist Dopavision aus Flying Health, einem Inkubator für Digital Healthcare. Forschung und Entwicklung finanziert das Unternehmen zum einen mit Fördermitteln des BMBF, zum anderen aber auch mit privaten Geldern. Einer der ersten Investoren war Boehringer Ingelheim, im April 2021 fand dann eine zweite Förderrunde statt, an der zusätzlich Novartis und Seventure Partners teilnahmen. „In den ersten drei bis vier Jahren unseres Bestehens haben wir den Wirkmechanismus mit präklinischen Experimenten bestätigt“, berichtet Andreas Balser. „Momentan führen wir eine klinische Studie durch, in der Kinder über einen längeren Zeitraum unsere Therapie erhalten. Wir messen, wie schnell die Kurzsichtigkeit voranschreitet. Das vergleichen wir dann mit den Ergebnissen aus einer Placebo-Gruppe.“
Momentan führen wir eine klinische Studie durch, in der Kinder über einen längeren Zeitraum unsere Therapie erhalten.
Andreas Balser
In der Forschung kooperiert Dopavision mit Einrichtungen in aller Welt. In Portugal fanden elektrophysiologische Untersuchungen statt, in Spanien Experimente zur Untersuchung der Dopamin-Ausschüttung im Auge, und in Australien Untersuchungen zur Veränderung der Aderhautdicke. Zu den bekanntesten Kooperationspartnern zählen Sally McFadden von der University of Newcastle/New South Wales und Michael Collins von der Queensland University of Technology. McFadden erforscht den biologischen Mechanismus und die Entwicklung der Myopie, Collins die Veränderung der Aderhautdicke im menschlichen Auge bei Myopie. „In Deutschland kooperieren wir unter anderem mit der Uniklinik Tübingen“, so Balser. Ein weiterer Studienstandort ist Düsseldorf.
Doch wie funktioniert nun eigentlich MyopiaX? Laut Balser besteht die VR-Anwendung aus zwei Teilen: einem Spiel und einem Lichtstimulus. „Momentan nutzen wir ein Merk- und Reaktionsspiel“, berichtet der Dopavision-Chefentwickler. „Das Spiel dient hauptsächlich dazu, die Aufmerksamkeit des Kindes zu wecken und aufrechtzuerhalten. Außerdem steuern wir durch das Spiel, wohin das Kind gerade schaut. Das nutzen wir, um mit dem Lichtstimulus genau den richtigen Punkt in den Augen zu treffen.“ Während das Spiel im Zentrum des VR-Sichtfeldes stattfindet, wird der Lichtstimulus in der Peripherie gesetzt – und ist im besten Fall nahezu unsichtbar. „Spiel und Lichtstimulus sind also weitgehend unabhängig voneinander“, erläutert Balser. Das hat den Vorteil, dass Spielinhalte kontinuierlich weiterentwickelt werden können, ohne die „digitale Behandlung“ zu tangieren.
„Gemeinsam mit Noah Falstein und einem externen Studio entwickeln wir gerade eine deutlich verbesserte Version des Spiels“, berichtet Balser. „Sie bietet mehr Variation und auch eine Rahmenhandlung mit einer Spielfigur, die neue Fähigkeiten erwirbt. Das soll Kinder zum regelmäßigen Spielen motivieren.“ Stundenlange Spiele-Sessions sieht das Projekt allerdings nicht vor. Stattdessen sollen Kinder in der Therapie zweimal pro Tag mehrere Minuten MyopiaX spielen. „Aufgrund der präklinischen Experimente sind wir ziemlich sicher, dass die Ausschüttung des Botenstoffs deutlich über die Dauer der Stimulation hinaus anhält – und dann auch einen messbaren klinischen Effekt hat“, sagt Balser. Eine Überdosierung sei übrigens nahezu ausgeschlossen und werde von der App auch unterbunden, so der Experte. „Man sollte allerdings nicht zu kurz vor dem Schlafengehen spielen, weil das den Biorhythmus beeinflussen könnte.“
Werde Mitglied von 1E9!
Hier geht’s um Technologien und Ideen, mit denen wir die Welt besser machen können. Du unterstützt konstruktiven Journalismus statt Streit und Probleme! Als 1E9-Mitglied bekommst du frühen Zugriff auf unsere Inhalte, exklusive Newsletter, Workshops und Events. Vor allem aber wirst du Teil einer Community von Zukunftsoptimisten, die viel voneinander lernen.
Jetzt Mitglied werden!In technischer Hinsicht setzt Dopavision derzeit auf Virtual-Reality-Headsets, in die ein Smartphone eingesetzt wird. Das VR-Bild wird auf dem Smartphone erzeugt. „VR-Brillen mit integriertem Display haben zwar Vorteile in der Handhabung“, sagt Balser. „Allerdings ist ihr Display in der Regel nicht hell genug.“ Ein Alleinstellungsmerkmal von MyopiaX sieht Balser darin, dass die erforderliche Hardware für nahezu alle Konsumenten erschwinglich ist – die meisten besitzen schließlich ohnehin schon ein Smartphone. Dopavision arbeitet bereits an technologischen Weiterentwicklungen, zum Beispiel der Verwendung von VR-Brillen mit Eye-Tracking. Denn, so Balser, „wenn wir wissen, wohin der User schaut, können wir den Stimulus noch besser platzieren. Das bedeutet dann auch mehr spielerische Freiheit und mehr Auswahl an Inhalten. Man könnte stattdessen zum Beispiel auch ein Video zeigen.“
Würde MyopiaX aber nicht grundsätzlich auch ohne VR funktionieren – zum Beispiel auf einem Flachbildschirm? „VR ist dafür besonders gut geeignet“, sagt Balser. „Es geht darum, die beiden Augen getrennt voneinander zu stimulieren. Auf einem herkömmlichen Monitor wäre das kaum möglich.“ Als möglichen nächsten Schritt sieht Balser Augmented Reality: So nämlich könne man die Therapie noch besser in den Alltag der Patienten integrieren. „Eine spannende Herausforderung wird es sein, Wege zu finden, auf denen man dies technisch realisieren kann“, sagt Balser. Denn dann könnten solche modernen Therapieformen ein geradezu beiläufiger Prozess werden.
Hat dir der Artikel gefallen? Dann freuen wir uns über deine Unterstützung! Werde Mitglied bei 1E9 oder folge uns bei Twitter, Facebook, Instagram oder LinkedIn und verbreite unsere Inhalte weiter. Danke!
Sprich mit Job, dem Bot!
War der Artikel hilfreich für dich? Hast du noch Fragen oder Anmerkungen? Ich freue mich, wenn du mir Feedback gibst!
Titelbild: Shutterstock / Roman Zaiets