Ob Rheuma, Arthrose oder Fibromyalgie: Zwischen zehn und 20 Prozent aller Deutschen leiden unter chronischen Schmerzen. Längst nicht alle gängigen Therapieformen bringen Besserung. Das Verbundprojekt ReliefVR verfolgt einen neuartigen Ansatz: Es soll chronische Schmerzen mit Hilfe von Virtual Reality behandeln – und setzt dabei auf eine veränderte Körperwahrnehmung.
Von Achim Fehrenbach
Die einen haben chronische Rückenschmerzen, die anderen leiden unter Arthrose – und wieder andere werden von dumpfen Muskelschmerzen gequält. Chronische Schmerzen sind in der Bevölkerung weit verbreitet. Laut einer Statistik der Deutschen Schmerzgesellschaft sind davon allein hierzulande zwischen acht und 16 Millionen Menschen betroffen. „Chronischer Schmerz ist im Gegensatz zu akutem Schmerz ein Schmerzerlebnis, das andauernd ist und typischerweise bereits länger als sechs Monate besteht“, zitiert beispielsweise die AOK den Leiter der Schmerzklinik Kiel, Hartmut Göbel. Diese Schmerzen können teils jahrelang fortbestehen, obwohl der Auslöser – also eine Verletzung oder Erkrankung – bereits wieder geheilt bzw. abgeklungen ist. „Chronische Schmerzen können umfangreiche Auswirkungen auf das Erleben, auf das Verhalten und auf körperliche Vorgänge bedingen“, so der Mediziner.
Weil sie auch die Psyche beeinträchtigen, setzen sogenannte multimodale Schmerztherapien auf eine Mischung aus somatischen, also körperbezogenen, und psychotherapeutischen Methoden. Zum Beispiel kann es Sinn machen, die Angst vor dem Schmerz – und das daraus resultierende, die Sache noch verschlimmernde Vermeidungsverhalten – mit einer Verhaltenstherapie zu reduzieren.
Gerade weil chronische Schmerzen so vielfältig und tückisch sind, ist die Forschung ständig auf der Suche nach neuen Therapien. 2020 rief das Bundesministerium für Bildung und Forschung den Wettbewerb „Gesellschaft der Ideen“ ins Leben, aus dem auch das Projekt ReliefVR hervorging. Yevgeniya Nedilko und Ralitza Stoykova konnten für ihr Projekt zwei wissenschaftliche Partner gewinnen: das Zentrum für Interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZIS) des Uniklinikums Würzburg und die Julius-Maximilians-Universität Würzburg. ReliefVR wurde beim BMBF-Ideenwettbewerb ausgezeichnet und holte zur Verwirklichung des Projekts ein Frankfurter Start-up an Bord: die videoreality GmbH. Langfristiges Ziel von ReliefVR ist die Entwicklung eines medizinischen Produkts auf Basis von VR. Es soll neuronale Netzwerke im Gehirn so modifizieren, dass chronische Schmerzen möglichst dauerhaft gelindert werden.
Vom Entertainment zum Einsatz in der Therapie
VR wird bisher in erster Linie als Unterhaltungs- und Bildungsmedium genutzt, auch die videoreality GmbH entwickelt entsprechende Apps. Doch immer häufiger kommt VR auch im Gesundheitssektor zum Einsatz – ob nun in der Therapie nach Traumata und Phobien, bei Asperger, nach Schlaganfällen oder in der Behandlung von Kurzsichtigkeit. In der Schmerztherapie sind bereits einige Start-ups aktiv. Die Firma AppliedVR beispielsweise hat für ihr Verfahren letztes Jahr eine Zulassung von der FDA erhalten, der US-amerikanischen Behörde für Lebens- und Arzneimittel.
ReliefVR wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 200.000 Euro gefördert, momentan befindet sich das Projekt in einer zweijährigen Erprobungsphase. Im geplanten Behandlungskonzept setzen SchmerzpatientInnen eine VR-Brille auf, die sie in eine virtuelle Welt versetzt. „Sie sollen zunächst das Gefühl haben, einen virtuellen Körper oder Avatar zu besitzen, der sich an der gleichen Position wie ihr echter Körper befindet“, erläutert Projektleiterin Yevgenyia Nedilko. Anschließend werde die Perspektive so verändert, dass eine außerkörperliche Erfahrung („out-of-body experience“) entsteht. „Wir vermuten, dass auf diesem Weg eine Veränderung der Körperwahrnehmung möglich ist“, sagt Prof. Dr. Heike Rittner, die Leiterin des ZIS in Würzburg. Die veränderte Körperwahrnehmung wiederum soll PatientInnen in einen Zustand bringen, in dem sie den Schmerz weniger stark spüren – und sich auch freier bewegen können.
Der nächste Schritt ist, spezielle Bewegungsübungen für die Therapie mit ReliefVR zu entwickeln. Dies könne dann einen „neuen, gesunden Lernprozess auslösen“, sagt Dr. Ivo Käthner vom Lehrstuhl Psychologie I der JMU. Will heißen: Wenn PatientInnen in VR bestimmte Bewegungen schmerzfrei machen können, die sie im „echten“ Leben aus Angst vor Schmerz vermieden hätten – dann lernen sie gewissermaßen, dass Bewegung auch ohne Schmerz möglich ist. „Im Endeffekt soll dieser Prozess dazu führen, dass die Patientinnen und Patienten auch ihren Alltag mit weniger Schmerzen bewältigen können“, sagt Heike Rittner. „Das Ganze soll im besten Fall großflächig zum Einsatz kommen – und von den Kliniken und Krankenkassen als Therapieform eingesetzt werden“, sagt videoreality-CEO Julian Hölgert. Die videoreality GmbH um CTO Michael Gödde entwickelt den Prototyp der VR-Anwendung, der demnächst in der Machbarkeitsstudie von den ProbandInnen getestet wird.
Das Gehirn soll keine Schmerzsignale mehr senden
Doch wie funktioniert das mit der out-of-body experience eigentlich genau? Was die Details der App angeht, halten sich die Verantwortlichen noch etwas zurück – schließlich soll ReliefVR ein kommerzielles Gesundheitsprodukt werden. In einem Interview mit medica.de erläutert Prof. Rittner jedoch den wissenschaftlichen Hintergrund. „Die Wahrnehmung von Schmerz wird sehr stark vom Kontext bestimmt und wir wissen, dass das Gehirn Schmerzen auch kontrollieren kann“, sagt sie. „Wir möchten über solche Top-Down-Mechanismen – also dass das Gehirn Reize ins Gewebe schickt – eine Veränderung in der Schmerzwahrnehmung und der Schmerzunterdrückung hervorrufen.“ Das Zauberwort ist „neuronale Plastizität“ – also laut Wikipedia „die Eigenart von Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzen Hirnarealen, sich zwecks Optimierung laufender Prozesse nutzungsabhängig in ihrer Anatomie und Funktion zu verändern". Mit anderen Worten: Wenn es ReliefVR gelingt, die relevanten neuronalen Netzwerke durch Lernen zu verändern, dann sendet das Gehirn keine Schmerzsignale mehr – und die PatientInnen nehmen keinen Schmerz mehr wahr.
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Jetzt Mitglied werden!Rückenschmerzen und Phantomschmerzen sind nur zwei Beispiele für Gesundheitsbeschwerden, die sich möglicherweise mit ReliefVR behandeln lassen. Die Projektverantwortlichen setzen dabei auf eine möglichst große Breitenwirkung. „PatientInnen sollen die Experience auch selbstständig zuhause nutzen können“, sagt Julian Hölgert. Nach einer Kurzeinführung durch die Klinik oder physiotherapeutische Praxis können sie die VR-Brille mit nach Hause nehmen – und dort dann die Übungen fortsetzen. „Die persönlichen Übungsdaten der NutzerInnen werden nach deutschen Sicherheitsstandards an die jeweilige behandelnde Praxis übertragen“, so Hölgert. Anhand der Daten können TherapeutInnen dann gleich erkennen, wie sich die Bewegungsmuster ihrer PatientInnen verändert haben.
„ReliefVR ist spannend, weil es ein Entwicklungsprojekt ist und deshalb im Vergleich zu einer klinischen Studie relativ offen“, so Heike Rittner gegenüber medica.de. „Wir haben viel Raum zu überlegen, was für eine VR-Umgebung wir schaffen wollen.“ Man darf gespannt sein, welchen Beitrag ReliefVR zur Linderung chronischer Schmerzen leisten kann.
Titelbild: Shutterstock
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