Letzte Woche hat China ein Raumschiff in den Erdorbit geschossen. Es soll dort einige Tests absolviert und ein unbekanntes Objekt ausgesetzt haben. Anschließend kehrte es sicher zu Erde zurück. Was für ein Raumschiff es ist, das ist unbekannt. Jedoch gibt es spannende Hinweise und Theorien.
Von Michael Förtsch
Es herrscht großes Rätselraten in der Gemeinschaft der Raumfahrtexperten und Weltraumenthusiasten. Am 4. September ist vom Jiuquan Satellite Launch Center in der Inneren Mongolei eine Langer-Marsch-2F-Rakete in den Weltraum gestartet. An der Spitze, das wurde erst nach dem erfolgreichen Missionsbeginn berichtet, soll sich ein wiederverwendbares Raumschiff befunden haben. Eine gewisse Geheimhaltung ist bei chinesischen Raumfahrtmissionen durchaus üblich. Beispielsweise werden Raketenstarts nur in Ausnahmefällen mit offiziellen Livestreams begleitet und Informationen zum Ablauf erst im Nachhinein veröffentlicht. Diesmal war die Geheimhaltung jedoch besonders streng.
Die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua und der Staatssender CGTN berichteten lediglich, dass der Start erfolgreich war und das Raumschiff nach zwei Tagen wieder sicher auf dem Erdboden aufgesetzt habe. Vor der Rückkehr, das berichtet SpaceNews.com , soll das Raumfahrzeug in 340 Kilometern Höhe noch „ein unbekanntes Objekt“ in die Erdumlaufbahn ausgesetzt haben – das von Nordamerikanisches Luftverteidigungskommando NORAD mit der Nummer ID 46395 verzeichnet wurde. Laut den chinesischen Medien sei die Mission ein „wichtiger Durchbruch“ bei der Entwicklung von wiederverwendbaren Raumfahrzeugen und ein Schritt, um einen „bequemeren und günstigen Weg“ in den Weltraum und zu dessen „friedlicher Nutzung“ zu ermöglichen.
Welcher Art das Raumschiff – das angeblich den Codenamen 重复使用试验航天器, also Wiederverwendbares Test Raumfahrzeug, tragen soll – jedoch ist, das ist bisher vollkommen unklar. Ebenso, ob eventuell chinesischen Astronauten an Bord waren oder nicht. Auch wie und wo es landete, ist nicht wirklich sicher. Es existieren keine offiziellen Bilder, keine Beschreibungen oder Aufnahmen von der Mission. Eine aus weiter Ferne und zwischenzeitlich gelöschte Amateuraufnahme ließ lediglich eine Verkleidung auf der Rakete erkennen, wie sie sonst für Frachttransporte genutzt wird. Bislang kann daher nur über das chinesische Raumschiff gemutmaßt werden. Und Mutmaßungen, Spekulationen und Annahmen gibt es tatsächlich zur Genüge.
Ein Mini-Space-Shuttle?
Laut Raumfahrtexperten wie Jonathan McDowell vom Harvard-Smithsonian Center for Astrophysics oder Marco Langbroek von der Sternwarte Leiden dürfte es sich bei dem chinesischen Raumschiff wohl um ein Raumfahrzeug handeln, das der Boeing X-37 oder dem Dream Chaser ähnelt. Beides sind sogenannte Raumgleiter, die auf den Prinzipien des Space Shuttle aufbauen. Die X-37 ist als unbemanntes Raumfahrzeug konzipiert und wurde vom US-Militär für mehrere geheime und Hunderte Tage dauernde Mission eingesetzt.
Der Dream Chaser der Sierra Nevada Corporation soll sowohl als autonomer, unbemannter Frachttransporter als auch als bemannte Raumfähre nutzbar sein. 2021 soll das Mini-Shuttle für die NASA einen ersten Flug zur Internationalen Raumstation unternehmen. Ebenso könnte der Dream Chaser in Zukunft von der ESA und für eine Mission des UN-Büros für Weltraumfragen genutzt werden.
Die Annahmen, dass es sich um ein solches Vehikel handelt, stützten sich auf Informationen über bekannte Forschungsprojekte und frühere Medienberichte aus China. Bereits seit Jahrzehnten soll China mit mehreren Instituten und Firmen an einem modernen Space Shuttle arbeiten. Ende der 1980er gab es etwa Pläne für die SAST Chang Cheng-1 oder die CALT Tian Jiao 1. Aber erst in den letzten 15 bis 20 Jahren sollen die Bemühungen um eine Raumfähre wirklich intensiv verfolgt worden sein.
Shenlong ist der beste Kandidat
Die Website SpaceNews sieht ein Raumschiff des chinesischen Staatsbetriebs China Academy of Launch Vehicle Technology – kurz: CATL – als einen möglichen Kandidaten für das unbekannte Gefährt. Im Jahr 2016 hatte CATL ein Raumschiff angekündigt, das die Charakteristika von Raumkapseln und Flugzeugen vereinen und sowohl Fracht als auch Passagiere transportieren können soll. Seinerzeit hatte CALT behauptet, dass „alle wichtigen Bodentests abgeschlossen“ wären und „die Subsysteme gut arbeiten“. Der Erstflug eines Prototyps wurde für 2018 bis 2020 vorausgesagt.
Das chinesische Staatsunternehmen China Aerospace Science and Industry Corporation liefert eine weitere Option. Dort wird an einem weiteren Raumfahrzeug gearbeitet, das wohl den Namen Tengyun trägt. Das Projekt wurde ebenso erstmals 2016 enthüllt. Jedoch soll das Raketenraumschiff Tengyun eigentlich nicht von einer Rakete ins All geschossen werden, sondern ähnlich den Plänen von Virgin Galactic von einem Trägerflugzeug, das es in große Höhe hievt. Von dort aus soll das Schiff dann selbstständig mit einem Raketenantrieb in den Erdorbit gelangen.
Der wahrscheinlichste Kandidat ist jedoch, das berichtet die South China Morning Post , ein deutlich älteres Projekt. Vor über 15 Jahren soll die Arbeit an einem Raumfahrzeug namens Shenlong begonnen haben, das ganz ähnlich der Boeing X-37 als reines Roboterraumschiff funktionieren soll. Im Jahr 2007 tauchten einige wenige Fotos auf, die ein Model der Shenlong zeigten, das unter einen H-6K-Bomber geschnallt worden war. 2011 soll ein Prototyp angeblich einen ersten Flug in der Erdatmosphäre unternommen haben.
Das Raumfahrzeug sollte einerseits entwickelt werden, um Satelliten im All auszusetzen. Andererseits soll es andere Satelliten und Raumfahrzeuge, ebenso wie Bodenziele mit ballistischen Raketen und möglicherweise auch anderen Waffen angreifen können. Wobei derartiges durch den Weltraumvertrag von 1967 eigentlich verboten ist. Dass es sich bei dem „Wiederverwendbaren Test Raumfahrzeug“ um die Shenlong handelt, das mag die Quelle der South China Morning Post zwar nicht mit vollster Sicherheit bestätigen. Jedoch habe das Raumfahrzeug „sehr wahrscheinlich eine Verbindung zu Shenlong“.
Um welche Art von Raumschiff es sich auch immer handelt: Es dürfte für China ein großer Schritt sein. Laut einem weiteren Artikel der South China Morning Post habe es bei diesem Start „viele erste Male“ – also technologische Premieren und Erstversuche – gegeben. „Das Raumfahrzeug ist neu, die Startmethode war anders“, sagte eine Quelle der Zeitung. Daher würde um diese Raumfahrtmission auch so ein großes Geheimnis gemacht.
Teaser-Bild: Boeing X-37B, Boeing