Derzeit sieht es nicht aus, als würden wir die Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius stoppen. Ein Grund dafür ist auch die Energieindustrie. Weiterhin verfeuern Kraftwerke fossile Brennstoffe, die tonnenweise CO2 in die Atmosphäre pusten. Als mögliche Lösung werden auch neue Kernkraftreaktoren ins Spiel gebracht, die kleiner, günstiger und vor allem sicherer sein sollen als die bekannten Atommeiler. Die Konzepte sind faszinierend. Aber können sie wirklich etwas bewirken?
Von Michael Förtsch
Der Klimawandel ist eine der größten Herausforderungen der Menschheit. Die Auswirkungen der Erderwärmung werden immer spürbarer. Wüsten breiten sich aus, Strände und Küstenlinien versinken im Meer, Extremwetter und Waldbrände werden von der Ausnahme zur Norm. Um den Klimawandel zu bremsen, muss das Kohlenstoffdioxid – kurz CO2 – aus der Atmosphäre eingefangen und weniger CO2 emittiert werden. Letzteres erfordert weniger oder am besten gar keine fossilen Brennstoffe mehr zu verbrennen, um Energie zu erzeugen, die den wachsenden Bedarf der Menschheit nach Strom, Wärme und Mobilität befriedigt. Denn immerhin ist die Energiegewinnung für 75 bis 80 Prozent der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die logische Antwort auf diese Situation ist ein Umschwenken auf saubere Energie aus erneuerbaren Quellen wie etwa Wind-, Wasser- und Solarkraft.
Der Anteil der erneuerbaren Energien – vor allem Windkraft, Solaranlagen, Wasserkraft und Biomasse – am ausgelieferten Strom in Deutschland lag im Jahr 2000 bei sechs Prozent. 2018 stieg er laut dem Bundesministerium für Wirtschaft und Energie auf bereits 38 Prozent. Im Jahr 2020 waren es schon 46 Prozent. Das ist eine gute Entwicklung. Aber der weltweite Anteil von Erneuerbaren an der gesamten Energieproduktion – der sogenannten Primärenergie – liegt gerade einmal bei knapp unter 14 Prozent. Denn Energiegewinnung bedeutet nicht nur Strom zu erzeugen, der aus der Steckdose kommt. Sondern auch Züge, Autos und Busse fahren zu lassen, Fabriken zu betreiben und Wohnungen zu heizen. Fast 84 Prozent des weltweiten Energiebedarfs stammen daher noch aus fossilen Energieträgern. Nämlich 33 Prozent Öl, 26 Prozent Kohle und 24 Prozent Gas, die verheizt und verfeuert werden.
Daher drängen Umweltaktivisten, Klimaforscher, aber auch Unternehmen, den Verkehr auf Schienen und Straßen und auch heimische Heizanlagen zu elektrifizieren – um dann alles mit Strom aus sauberen Quellen zu betreiben. Allerdings ist eine wachsende Anzahl von Wissenschaftlern und Klimaforschern pessimistisch, was die Wende zu sauberer und nachhaltiger Energie angeht. Nicht, weil diese nicht nötig oder nicht förderungswert sei: Genau das Gegenteil sei der Fall, sagen sie.
Forscher wie etwa Barry W. Brook von der Universität Tasmanien, Agustin Alonso von der Politecnica de Madrid, die Energieberaterin Jan van Erp postulierten jedoch bereits 2014 in einer gemeinsamen Studie, dass der Schwenk zu erneuerbaren Energien zu spät anlief und der Ausbau von Solar-, Wasser- und Windkraft mit dem rasant wachsenden Bedarf an Strom durch die steigende Weltbevölkerung nicht mithalten kann, um die Klimakatastrophe zu verhindern. Ähnliche Positionen vertreten auch Forscher wie etwa der Phyisiker und ehemalige US-Energieminister Richard Rhodes.
Tatsächlich ist das Problem evident. Denn trotz der Effizienzsteigerung von Solarpaneelen, Windkraftanlagen, Wasserkraftwerken und anderen Erneuerbare-Energie-Infrastrukturen – und deren massivem Ausbau in zahlreichen Teilen der Welt: Der Anteil an verfeuerten fossilen Energieträgern weltweit blieb in den vergangenen 20 Jahren in Summe nahezu unverändert. Bei rund 65 Prozent. In einigen Ländern wuchs der Anteil am nationalen Energiemix sogar. Den Grund sehen Experten in der Kernkraft. Beziehungsweise dem Ausstieg aus der Kernenergie.
Im gleichen Maße wie erneuerbare Energie im globalen Energiemix über die letzten Jahre ausgebaut wurden, wurden Kernkraftwerke abgeschaltet – um jeweils rund sieben Prozentpunkte seit dem Jahr 2000. Die erneuerbaren Energien ersetzen daher – global betrachtet – nicht fossile Brennstoffe, sondern füllten die Lücke, die durch abgeschaffte Atomkraft entsteht. Die positive Wirkung, die erneuerbare Energie haben sollten, verpufft auf diese Weise. Die Lösung sehen zahlreiche Forscher, aber auch Aktivisten wie Greenpeace-Gründer Patrick Moore in einer Neuentdeckung der Atomkraft – und damit der Energiequelle, für deren Abschaffung Millionen Menschen seit vielen Jahren kämpfen. Die deutsche Regierung hat den Atomausstieg bis Ende 2022 beschlossen.
Riesige Tauchsieder?
Ein klassisches Atomkraftwerk mit großen Siede- und Druckwasserwasserreaktoren ist weniger komplex als viele Menschen denken. Im Grunde funktioniert es wie ein gigantischer Tauchsieder. Ein Brennstoff wie Uran-235 wird in einem Reaktor durch den Beschuss mit Neutronen zu einer Kernspaltungskettenreaktion gebracht. Dabei entsteht thermische Energie – sprich Wärme –, die genutzt wird, um Wasser zu erhitzen, das wiederum Dampfturbinen antreibt, womit wiederum Strom erzeugt wird. Viel Strom. Ein Atomkraftwerk kann im Durchschnitt bis zu 2,5 Millionen Haushalte versorgen. Unmittelbar entstehen als Abfallprodukt dabei zunächst nur große Schwaden von Dampf, die problemlos durch die typischen Kühltürme in die Atmosphäre entlassen werden können. Der Atommüll ist hingegen ein größeres Problem – das aber immer wieder aufgeschoben und damit kommenden Generationen aufgebürdet wird.
Länder wie Frankreich wollen weiterhin auf solche Kernkraftwerke setzen. Das Land deckt mehr als 70 Prozent seines Energiebedarfs mit Atomkraft. In China wurde erst 2020 ein auf diesem bewährten Prinzip entwickelter, aber moderner Reaktor namens CAP1400 vorgestellt, der dem Land helfen soll, seine ehrgeizigen Klimaziele zu erreichen. Nicht nur mittels Stromgewinnung, sondern auch dadurch, dass der heiße Dampf für Fernwärme genutzt werden soll – und dadurch noch eine weitere Energieersparnis erlaubt. Der heiße Dampf soll also, wo es möglich ist, Wohnungen, Fabriken und öffentliche Gebäude heizen.
Tatsächlich ließen sich mit solchen Kernreaktoren zahlreiche Kraftwerke ersetzen, die mit dem Verbrennen von Kohle, Öl oder Müll zur Umweltverschmutzung und dem Klimawandel beitragen. Allerdings sind solche Kernkraftanlagen auch teuer und auf staatliche Subventionen angewiesen, um überhaupt wirtschaftlich arbeiten und günstigen Strom anbieten zu können. Alleine Planung und Bau verschlingen je nach der Reaktoranzahl eines Kraftwerks zwischen 10 und 30 Milliarden Euro. Vom ersten Spatenstich bis zur Inbetriebnahme kann über ein Jahrzehnt vergehen.
Nicht zuletzt können Atomkraftwerke im Fall eines Unglücks wie in Tschernobyl oder Fukushima zu einer Katastrophe führen, die Menschenleben kostet und weite Gebiete unbewohnbar macht. Die riesigen Energieerzeuger sind durch ihre Größe, ihre zahlreichen Bauelemente und Bestandteile im Bau aufwendig und im Betrieb störanfällig. Aber es gibt neue Konzepte für Nuklearkraftwerke, die anders, kompakter und sicherer sein sollen – und bereits getestet werden.
Kernkraft im Miniformat
Im Hafen der russischen Fischerei- und Bergbaustadt Pewek liegt ein Schiff vor Anker. Es trägt den Namen Akademik Lomonossow und gleicht einer riesigen Schuhschachtel in den Farben der russischen Flagge, die auf einen Ponton geklebt wurde. Bei dem 144 Meter langem Koloss handelt es sich um den Prototyp eines schwimmendes Atomkraftwerks des russischen Energiekonzerns Rosenergoatom, das die Stadt, mehrere Fabriken und insbesondere Bergbauanlagen in der Umgebung seit Mai 2020 mit Strom versorgt – und das noch mindestens 38 weitere Jahre tun soll. Es sind keine gewöhnlichen Reaktoren, die im Schiffsrumpf ihre Arbeit verrichten. Es sind zwei modifizierte und äußerst kompakte Druckwasserwasserreaktoren, die zusammen 70 Megawatt Leistung bringen. Dadurch ist das russische Atomschiff das erste Kraftwerk, das mit sogenannten Small Modular Reactors – kurz SMRs – arbeitet. Die sollen eine Renaissance der Kernkraft anstoßen.
Laut der Internationale Atomenergieorganisation gelten Small Modular Reactors als Reaktoren, die deutlich kleiner ausfallen als gewöhnliche Reaktoren in einem Kernkraftwerk. Sie sollen um die 300 Megawatt – oder sogar deutlich weniger – an Energie erzeugen, wo hingegen Reaktoren in gewöhnlichen Atomkraftwerken den drei bis vierfachen Output haben. Vor allem aber sind SMRs kompakt gestaltet und so klein, dass sie in einer Fabrik in Serie hergestellt werden könnten. Sie bestehen aus weniger Teilen, insbesondere weniger beweglichen Elementen. Genau das soll sie einerseits deutlich günstiger, aber auch deutlich sicherer machen und im Katastrophenfall dafür sorgen, dass sie keinen Schaden verursachen können. Heißt es jedenfalls.
Geht es nach Atomkraftverfechtern und zahlreichen Start-ups, die derzeit an SMRs arbeiten, sind diese perfekt, um zusammen mit Solar-, Wind- und Wasserkraft und anderen erneuerbaren Energien für eine CO2-neutrale Stromerzeugung zu sorgen. „Die einzigartigen Eigenschaften von kleinen Nuklearreaktoren in Bezug auf Effizienz, Flexibilität und Wirtschaftlichkeit können sie in die Lage versetzen, eine Schlüsselrolle bei der sauberen Energiewende zu spielen“, sagt etwa Stefano Monti von der Internationale Atomenergie-Organisation.
Das US-Start-up NuScale arbeitet beispielsweise an einem im Prinzip bewährten Leichtwasser-Reaktor, der jedoch lediglich 2,7 Meter mal 20 Meter misst und 77 Megawatt an Strom liefern soll. Genau das erlaube es, ihn so abzusichern, wie es bei einem großen Reaktor nie möglich wäre. Der Reaktor soll komplett in einem dickwandigen Druckcontainer eingefasst und in einem unterirdischen Wasserbecken versenkt werden, das selbst bei schweren Erdbeben stand- und dichthalten soll. Ein Unfall wie in Fukushima oder Tschernobyl sei damit unmöglich, sagt die Firma. Wenn alle Sicherheitssysteme versagen würden, würden Sicherheitsventile reagieren, der Kern komplett in der Hülle von der Außenwelt isoliert werden, die Hitze in das Wasserbecken abgestrahlt und der Reaktor herunterfahren. „Wir sind so sicher, wie es nur gehen kann“, sagte José Reyes von NuScale in einem Interview mit Yale360.
Das dänische Unternehmen Seaborg Technologies hat einen Plan für einen ähnlich kleinen Reaktor, der aber ganz anders arbeiten soll. Hier soll es sich um kompakten Flüssigsalzreaktor handeln, der um die 100 Megawatt liefern können soll. Statt in Form von Brennstäben werden die Kernbrennstoffe hier als Teil von geschmolzenem Salz zur Reaktion gebracht, das ständig zirkuliert. Die Vorteile? Neuer Brennstoff, für den auch abgereichertes Uran aus Atommüll genutzt werden kann, kann einfach „nachgetankt“ werden. Aber vor allem: Eine Kernschmelze wie bei den Nuklearkatastrophen der jüngeren Geschichte ist hier technisch nicht möglich. Schließlich ist der Brennstoff ständig in geschmolzenem Zustand – wofür der Reaktor ausgelegt ist. Sollte er aus irgendeinem Grund austreten, würde er in ein Becken fallen und dort zu einem festen Klumpen erstarren.
Die Welt muss an vielen Lösungen arbeiten, um den Klimawandel zu stoppen. Fortschrittliche Kernenergie ist eine davon.
Bill Gates
Auch Bill Gates setzt auf kompakte Kernkraftwerke. Denn: „Die Welt muss an vielen Lösungen arbeiten, um den Klimawandel zu stoppen“, schrieb er 2018. „Fortschrittliche Kernenergie ist eine davon.“ Bereits vor 14 Jahren gründete er aufgrund dieser Überzeugung das Unternehmen TerraPower, das an mehreren Konzepten für kleine Atomkraftwerke forscht. Darunter Flüssigsalzreaktoren, ähnlich wie sie Seaborg entwickelt. Dazu kommt ein Natrium getaufter Reaktor, der mit flüssigem Natrium und hoch-angereichertem Uran funktionieren und bis zu 345 Megawatt liefern soll.
Insbesondere wird von TerraPower am noch weitgehend theoretischen Konzept der Laufwellenreaktoren gearbeitet. Die gelten als Hoffnungsschimmer der Kernindustrie. Bei Laufwellenreaktoren wandert die Kernspaltungsreaktion gleich einer Welle durch den Reaktor, der mit flüssigem Natrium gekühlt wird und wandelt die Brennstoffe immer wieder um. Zumindest theoretisch könnten diese Reaktortypen Jahrzehnte mit einer Brennladung arbeiten. Und auch hier gilt, dass dafür der derzeit eingelagerter Atommüll weiter verwertet werden könnte. Es gäbe genug davon, um alle Länder der Welt mehrere Hunderte Jahre mit Strom zu versorgen. Falls denn Laufwellenreaktoren funktionieren.
Kernkraft für alle?
Das erste Kraftwerk von NuScale soll in Idaho Falls, Idaho gebaut werden und ab 2029 ans Netz gehen. Es soll mit 720 Megawatt so viel Strom liefern wie ein mittelgroßes Kraftwerk – und zwar, indem auf dem Gelände mehrere der standardisierten Mini-Reaktoren installiert werden. Auch einzeln könnten sie laut NuScale einsetzt werden, um kleine Städte und Gemeinden auf dem Land zu versorgen. Eine Anlage mit einer Leistung von 300 Megawatt soll um die eine Milliarde Euro kosten – und könnte viel Geld sparen. Riesige Trassen von Überlandleitungen sollen durch sie überflüssig werden. Wächst der Energiebedarf, könne einfach mit einem weiteren Reaktor aufgestockt werden. Für die Wartung und Bedienung bräuchte es nur eine Handvoll von Technikern.
Seaborg glaubt, dass seine ersten Reaktoren bereits 2027 gebaut und ausgeliefert werden könnten. Ein Prototyp für einen Dauertest soll bereits 2025 bereitstehen. Reaktoren könnten ganz ähnlich wie bei NuScale einzeln oder zusammengeschlossen in kleine Kernkraftwerke verbaut werden. Für schwimmende Kraftwerke wie die Akademik Lomonossow sollen sie ebenfalls funktionieren. Eine Werft in Südkorea, die diese bauen soll, sei schon gefunden, sagt Seaborg. Die schwimmenden Kraftwerke könnten dort vor Anker gehen, wo sie gebraucht werden – insbesondere bei Ländern, die bei der technologischen Entwicklung rapide aufholen, und sich schwer tun, den rasch steigenden Strombedarf zu decken.
Diese mobilen Kernkraftwerke sollen eine Alternative zu Kohle, Öl und Gas darstellen. „Das Ausmaß des Wachstums des Energiebedarfs in den Entwicklungsländern ist verblüffend“, sagt Troels Schönfeldt von Seaborg. „Wenn wir keine Energielösung für diese Länder finden, werden sie sich fossilen Brennstoffen zuwenden und wir werden unsere Klimaziele sicher nicht erreichen.“ Aber auch in Gebieten, die nach Naturkatastrophen ohne Strom sind, Inselnationen oder sogar bei neuen Siedlungen auf dem Wasser könnten sie einsetzt werden. Einmal ans Stromnetz angeschlossen, könnten sie laut dem Hersteller ohne große Wartung bis zu 24 Jahre im Dauerbetrieb arbeiten.
Das Bill-Gates-Start-up TerraPower hofft darauf, noch in diesem Jahrzehnt einen Forschungsreaktor mit Laufenwellen-Technologie in Betrieb zu nehmen. Das Unternehmen hatte ursprünglich geplant, ein Pilotprojekt in China zu starten, aber noch nicht aufgelöste Restriktionen unter der Trump-Regierung machten das unmöglich. Im Oktober 2020 entschloss sich dann das US-Energieministerium dazu, die Entwicklung des konventionellen Natrium-Reaktor von TerraPower zu fördern. In den nächsten fünf bis sieben Jahren soll dadurch ein Demonstrator auf US-amerikanischem Boden fertiggestellt werden.
Deutlich früher soll bereits ein SMR-Kraftwerk in Argentinien ans Netz gehen. Denn die Comisión Nacional de Energía Atómica, die argentinische Behörde für Kernenergie, forschte bereits seit 1984 immer wieder an an der Miniaturisierung eines gewöhnlichen Druckwasserreaktors. Mit CAREM existiert nun ein solcher Mini-Reaktor, der 25 Megawatt an Leistung bringt, in einer Anlage bei Zárate nördlich von Buenos Aires gestartet und 2021 bis 2022 ans Netz gehen soll. Ein britisches Konsortium, angeführt vom Turbinen-, Triebwerks- und Energiekonzern Rolls-Royce, will in den kommenenden Jahren nachziehen.
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Geht es nach den derzeit über 40 SMR-Start-ups weltweit, zahlreichen nationalen Kernenergiebehörden und Bill Gates, könnten in den kommenden Jahrzehnten viele Tausend von Mini-Reaktoren die Welt säumen. Sei es in Kernkraftanlagen, die deutlich kleiner ausfallen als bekannte Kernkraftwerke, oder auf Schiffen, die als Energieversorger im Wasser liegen. Einige SMR-Unternehmen meinen, dass sich Reaktoren mit einer Leistung im niedrigen ein- oder zweistelligen Bereich sogar problemlos in Schiffscontainern unterbringen lassen könnten. Sie könnten in Serie gefertigt werden, wie heute Autos. Mit den Mini-Meilern sollen Städte, Gemeinden und Länder autarker werden und das Stromnetz dadurch dezentraler, sicherer und resilienter
Dass die kleinen Atomreaktoren schon aufgrund ihrer kompakteren Bauart besser abgesichert, Kraftwerke mit mehreren Mini-Reaktoren schnell hoch- und runtergefahren werden können und kontrollierbarer sind, da sind sich Experten ziemlich einig. Das heißt allerdings nicht, dass sie vollkommen sicher sind. Stattdessen bringen die verschiedenen SMR-Reaktortypen ganz eigene Herausforderungen mit. Beispielsweise ist das Salz der Flüssigsalzreaktoren aggressiv und kann Metall bei den hohen Temperaturen stark angreifen und korrodieren. Laut der Atomic Energy Commission von Amerika sei das für die Sicherheit der Reaktoren vernachlässigbar. Mehrere wissenschaftliche Studien kamen jedoch zu anderen Einschätzungen.
Dass ein Laufwellenreaktor in kompakter Form eine technische Errungenschaft darstellen würde, auch da ist sich die wissenschaftliche Gemeinde einig. Allerdings nicht bei dem von TerraPower verbreiteten Bild eines bedenkenlos „walk-away“-sicheren Kernkraftlieferanten. Das flüssige Natrium, mit dem der Reaktor gefühlt werden soll, reagiert stark mit Luft. Beim Kontakt mit Wasser kommt es zu einer heftigen und heißen Reaktion, die zu einem Natriumbrand führen kann, der nicht mit Wasser löschbar ist. [Der Forscher Harald Lesch bezeichnete diese Reaktoren daher als „Teufelstechnik“. Und ob wirklich kritische Unfälle, bei denen radioaktive Strahlung und Material freigesetzt werden, so unmöglich sind, wie gehofft, wird sich wohl erst zeigen, wenn es soweit ist.
Dazu wären auch diese neuen und kleinen Reaktortypen keine dauerhafte Lösung für eine nachhaltige Stromerzeugung. Denn auch wenn diese Kernkraftwerke keine fossilen Energien verfeuern, ist für sie dennoch ein Brennstoff nötig: Uran und dessen Verarbeitungsvarianten, die aus dem Boden geholt und raffiniert werden müssen – und dadurch ebenso endlich sind, wie Kohle und Öl. Dass bei einigen neuartigen Reaktoren Atommüll genutzt werden kann, ist natürlich ein großes Plus. Dadurch könnte das Problem des strahlenden und gefährlichen Mülls reduziert werden. Dennoch blieben ganz am Ende weiterhin strahlende und gefährliche Reste, die irgendwo dauerhaft untergebracht werden müssen, um keinen Schaden anrichten zu können.
Eine weitere Kritik an SMRs ist, dass sie, entgegen den Versprechungen von Start-ups und Hoffnungen von Regierungen, nicht wirklich beim Klimaschutz und dem Einsparen von CO2-Emissionen helfen können. Schlicht und ergreifend, weil sie zu spät kommen. Bis die ersten SMR-Kraftwerke bereit sind, in einer kleinen Serie gefertigt und in Kraftwerken installiert zu werden, wird es mindestens bis mindestens Mitte des Jahrzehnts dauern. Langwierige Zulassungs- und Genehmigungsverfahren in Ländern rund um die Welt nicht mitgerechnet. Bei neuartigen und in Teilen vollkommen theoretischen Typen wie dem Laufwellenreaktoren könnte es wohl frühestens im kommenden Jahrzehnt soweit sein. Vielleicht noch später. Wenn überhaupt.
Genau jetzt aber bräuchten wir bereits jede Menge CO2-neutrale Energielieferanten.Bereits bis 2030 müssen wir die globalen Treibhausgas-Emissionen halbieren und bis 2050 auf null bremsen, um die Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius zu stoppen. Wenn das noch möglich ist. In ihrer Konzeption und Technologie aussichtsreiche Mini-Atomkraftwerke zu planen, aber erst in einigen Jahren zu bauen, würde kostbare Zeit verschwenden, urteilen Klimaforscher und das wissenschaftliche Komitee des Europäische Ausschuss für Systemrisiken bereits 2016. Stattdessen wäre es nötig, jetzt aggressiv Wind-, Wasser-, Solarkraftwerke zu fördern, die bereits erprobt sind und sofort gebaut werden könnten. Auf Atomkraftwerke zu hoffen und zu warten, sei brandgefährlich.
Selbst die Nuklearindustrie ist sich nicht mehr ganz sicher, ob die Kernenergie eine Lösung für die Klimakrise darstellt. Im World Nuclear Industry Status Report von 2019 urteilten die Autoren auch hier, dass die Zeit zu knapp ist, um fossile Energiequellen mit Kernkraft zu ersetzen. „Die Stabilisierung des Klimas ist drängend", sagte Mycle Schneider, Hauptautor des Berichts. „Aber die Kernkraft ist langsam.“
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Teaser-Bild: Rolls-Royce