Privatsphäre im Zeitalter des Überwachungskapitalismus

Wie können wir unsere Privatsphäre zurückerobern, während unsere Daten zum Rohstoff werden? Der Künstler Bill Posters suchte mit Ben Livshits, der den Brave Browser mitentwickelt, und GMX-Mitgründer Eric Dolatre auf der 1E9-Konferenz nach Antworten. Ein Patentrezept fanden sie nicht, zeigten aber Alternativen zum Überwachungskapitalismus auf.

Von Wolfgang Kerler

Das Video beginnt mit düsterer Musik. Das Bild ist noch schwarz. Eine Stimme stellt Fragen in die Dunkelheit. „Wie fühlt es sich an, die Rolle und die Macht eines Tech-Giganten zu haben? Wie fühlt es sich an, Zugriff auf intime Daten und Wissen von anderen zu haben?“

Es ist die Stimme von Bill Posters, einem forschenden Künstler, der sich auf computergestützte Propaganda konzentriert, auf digitale Einflussnahme. Der dreiminütige Clip eröffnet auf der 1E9-Konferenz die Diskussion über den Überwachungskapitalismus. @Bill ist darin immer wieder zu sehen. Er stellt seine Arbeit Spectre vor.

Sie besteht aus sechs dunklen Stelen, die in einem Kreis aufgestellt sind. Auf ihrer Innenseite sind Bildschirme. Die Inspirationen: digitale Werbetafeln, Serverkästen, in denen unbekannte Algorithmen arbeiten, Stonehenge und der Monolith aus 2001: Odyssee im Weltraum . Wie im Science-Fiction-Klassiker vergöttern auch wir Technologie, die wir nicht verstehen und deren Einfluss uns verborgen bleibt. Das könnte die Botschaft sein.

Wer in den Kreis tritt, soll die digitale Überwachung begreifen. „Wie fühlt es sich an, wenn unsere persönlichen Daten auf unerwartete Weise von mächtigen Tech-Konzernen verwendet werden?“, sagt Bill Posters im Video. „Der Preis, den wir zahlen müssen, um von den Gottheiten des Silicon Valley zu lernen, ist unsere Privatsphäre.“

Spectre vermengt und hinterfragt Meinungsmache durch Algorithmen, psychometrisches Profiling, Dark Ads oder Deep Fakes. Der Kunst gewordene Alptraum jedes Datenschützers.

Eine Mutation des Kapitalismus

Wem können wir noch glauben? Wird unsere Meinung längst gesteuert? Das Video selbst liefert keine Antworten darauf. Im Gegenteil, es schafft noch mehr Ungewissheit. Denn es endet mit dem Hinweis, dass die ganze Zeit lediglich eine Deep-Fake-Version von Bill Posters gesprochen hat, erzeugt von einer Künstlichen Intelligenz.

Eigentlich logisch, wurde für Spectre doch auch das bisher prominenteste Projekt des Künstlers produziert: das Mark-Zuckerberg-Deep-Fake. Das gefälschte Video, in dem der Facebook-Chef dazu auffordert sich einen Mann „mit totaler Kontrolle über die gestohlenen Daten von Milliarden von Menschen, alle ihre Geheimnisse, ihr Leben, ihre Zukunft“ vorzustellen, hat es kürzlich bis in die großen deutschen Medien geschafft.

Auf der 1E9-Townhall-Bühne sitzt kurz darauf der echte Bill Posters – zusammen mit Ben Livshits, der als Chief Scientist von Brave Software an der Entwicklung des gleichnamigen, mit rigorosen Ad- und Tracking-Blockern ausgestatteten Browsers arbeitet, und mit Eric Dolatre, dem Mitgründer von GMX, dessen Firma Brabbler den Messenger ginlo anbietet, der mehr Privatsphäre als WhatsApp bieten soll und selbst auf behördlichen Diensthandys eingesetzt werden kann. Moderiert wird das Gespräch von Nick Nigam, Principal bei Samsung Next, dem Investmentarm des südkoreanischen Elektronikkonzerns.

„Wir haben uns von der Idee verabschiedet, dass die digitale Revolution die Menschheit stärken und Wissen demokratisieren würde“, sagt @nicknigam. „Was wir in letzter Zeit gesehen haben, ist die Idee des Überwachungskapitalismus. Aber was ist er – und wie sind wir darin gelandet?“

Bill Posters antwortet als Erster. „Wir könnten den Überwachungskapitalismus als eine Verlängerung der Logik des Kapitalismus definieren, die in den vergangenen 400 Jahren auf der Beanspruchung von Land oder natürlicher Ressourcen beruhte.“ Jetzt könne man eine Mutation beobachten. Der neue Kapitalismus interessiere sich dafür, wie Reichtum generiert werden kann, indem menschliches Erfahren festgehalten, extrahiert und in Form von Verhaltensdaten als Rohstoff verwendet wird.

Die Verfügbarkeit persönlichen Daten, die in riesigen Mengen aggregiert werden können, gelte immer noch als selbstverständlich, ergänzt @Ben Livshits, auch bei der Entwicklung des maschinellen Lernens. „Deswegen gab es auf der technologischen Seite keinen Fokus auf alternative Modelle.“ Mit dem Datensammeln angefangen hätten aber nicht die heutigen Tech-Konzerne, sagt @Eric Dolatre. „In Wahrheit haben die Verlage das initiiert.“ Die wollten auch im Internet an Werbung verdienen.

Das Goldene Zeitalter der Privatsphäre

„Manche würden sagen: Was kümmert uns Privatsphäre? Ist die nicht eine Anomalie des 20. Jahrhunderts?“, fragt Nick Nigam. Er stellt die eine Gegenthese in den Raum – nämlich die, dass wir das kurze, goldene Zeitalter der Privatsphäre hinter uns haben. Bis ins 19. Jahrhundert hätten Moralvorstellungen diese verhindert. In Dörfern hätten sich die Menschen gegenseitig überwacht. Geht es also nur zurück in die Normalität?

Nein, findet Eric Dolatre. Er erinnert an die staatliche Überwachung der NS-Zeit, die mit heutiger Technologie noch absoluter sein könnte. Auch Bill Posters sieht die Sache anders: „Die Dorfbewohner würden nicht dein intimes psychologisches Profil kennen, deine Sexualität oder deine politische Gesinnung. Sie könnten auch nicht die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten Verhaltensweise bestimmen – basierend auf deinen früheren Interaktionen.“

Wir haben neolithische Hardware.
Bill Posters, Künstler

Heute dagegen wäre das alles möglich: Intime Daten oder Vorhersagen über unser Verhalten kosten Firmen kaum Geld. „Das verleiht eine unglaubliche Macht, denn als Menschen sind wir keine allzu komplexen Tiere, psychologisch und neurologisch sind wir sehr einfache Maschinen, wir haben neolithische Hardware“, sagt Bill Posters. Daher konnte sich eine ganze Industrie entwickeln, die darauf aus ist, unser Verhalten und unsere Entscheidungen zu beeinflussen.

Bill Posters sieht daher auch unsere Demokratie gefährdet. Vor der Brexit-Abstimmung in Großbritannien oder der letzten Präsidentschaftswahl in den USA hätten Millionen von Wählern ganz gezielte, auf ihre Persönlichkeitsprofil abgestimmte Wahlwerbung auf Facebook erhalten – gezielte Propaganda vor allem für unentschlossene Wähler, die als überzeugbar eingestuft wurden. Der Skandal um Cambridge Analytica machte diese Praxis weltweit bekannt.

So etwas werde inzwischen zwar strenger reglementiert, doch Bill Posters fehlt es trotzdem an Transparenz. „Wie können wir das Ausmaß und den Einfluss [dieser Methoden] verstehen?“, fragt er. „Weil, ja, darüber wird natürlich auch viel Bullshit erzählt. Cambridge Analytica wird natürlich sagen, dass sie sehr effektiv sind. Sie brauchen schließlich Investoren.“

Die Zeiten haben sich geändert. Die neue Überwachung dringt tiefer in die Privatsphäre ein, bedroht sogar unsere Demokratie. Aber wir bleiben manipulierbare Steinzeitmenschen. Was können wir tun?

Aufregende Alternativen

Die eine Lösung, um unsere Privatsphäre zurückzuerlangen, konnte auf der 1E9-Stage nicht gefunden werden. Aber drei Bausteine dafür: neue Geschäftsmodelle, neue Regeln und neue Technologie.

Eric Dolatre würde sich Nutzer wünschen, die ihr Verhalten hinterfragen. „Es liegt doch in unseren Händen. Wie wichtig sind Facebook oder WhatsApp für uns? Ist unser Leben wirklich vorbei, wenn wir sie löschen und andere Dienste benutzen?“, fragt er. Gleichzeitig wünscht er sich alternative Produkte, damit sich Konsumenten überhaupt anders entscheiden können – für Produkte mit anderen Geschäftsmodellen, die nicht auf Datensammeln beruhen.

Die Alternativen müssten aber nicht nur die Privatsphäre besser schützen, sondern auch „aufregender“ sein als bisherige Platzhirsche, warnt Ben Livshits, sonst würde der Großteil der Menschen trotzdem nicht umsteigen. Wie ließe sich sonst erklären, dass WhatsApp so viele und Signal so wenige Nutzer hat? Oder anders gesagt: Wer Instagram schlagen will, darf dessen Suchtpotential nicht unterschätzen.

Das Internet ist seit zwei Jahrzehnten ein ziemlich gesetzloses Gebiet.
Bill Posters, Künstler

Der Brave Browser, für den Livshits mitverantwortlich ist, versucht ein neues Geschäftsmodell mit neuer Technologie in Form von Ad- und Tracking-Blockern zu verbinden. Nutzer können entscheiden, ob sie Werbung sehen wollen oder nicht. Falls, ja, werden die für die Personalisierung der Anzeigen nötigen Daten nie auf Servern, sondern immer auf den privaten Geräten gespeichert. Alle, die sich für Werbung entscheiden, werden am dadurch generierten Umsatz beteiligt. Mit ihren Einnahmen können sie zum Beispiel Medienschaffende oder YouTube unterstützen.

Neben neuen Ansätzen wie diesen fordert Bill Posters auch strengere Regeln. „Seien wir ehrlich“, sagt er. „Das Internet ist seit zwei Jahrzehnten ein ziemlich gesetzloses Gebiet.“ Doch er sieht erste, wenn auch längst nicht ausreichende Erfolge beim Versuch, für mehr Privatsphäre zu sorgen – etwa in Form der europäischen Datenschutzgrundverordnung. „Wir brauchen sicher Transparenz und Rechenschaftspflichten – aber nicht in Form von Selbstregulierung.“ Dafür traut er den Technologie-Konzernen zu wenig über den Weg.

Teaser-Bild: Getty Images

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@johnnyb Wie siehst du das Thema digital identity in diesem Kontext? Oder auch @juttajuliane ?!

Stimme voll zu! Ein großes Vergnügen war für mich der Wechsel zum Brave Browser: https://brave.com/

Dieser Artikel ist auch ein guter Anlass diese Liste „Software-Tools und co für mehr Datenschutz und Privacy“ weiterzuführen:

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Volle Zustimmung. Auch zu Brave. Ich komme selbst aus der IT/Datenschutz-„Umgebung“ und sehe genau den angesprochenen Punkt als größtes Problem: Egal, ob Mastodon, Pixelfed, Peertube und wie die Dinge alle heißen: Am Ende des Tages bleiben techie-zentrierte Werkzeuge, die für einen „Endnutzer“ nicht interessant und nicht ausgereift genug sind, um einen teilweisen oder gar vollständigen Wechsel in Betracht zu ziehen.

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