Mobilität scheint zur Kampfzone geworden. Nicht nur, weil Stau und überfüllte Bahnen die Rush Hour zur Qual machen. Sondern auch, weil viele fürchten, dass ihre individuellen Bedürfnisse bei der Mobilität der Zukunft nicht berücksichtigt werden. Die Antwort darauf sollte aber kein schwarz-weißer Dauerstreit sein, sondern die Verständigung auf gemeinsame Ziele. Das wird nicht einfach, kann aber gelingen. Wie? Das ergründet Sebastian Hofer in seiner neuen 1E9-Kolumne.
Eine Kolumne von Sebastian Hofer
Auf der Straße und auf Twitter diskutieren wir über E-Scooter, als würden sie das Ende der modernen Wohlstandsgesellschaft bedeuten. Wir beschweren uns über zehn Minuten Verspätung auf der ICE-Strecke Hamburg-München oder über den unerträglichen Zustand des ÖPNV, der uns angeblich keine andere Wahl lässt, als zum Autoschlüssel zu greifen. Fahrradfahrer schlüpfen in mehrere Lagen Warnwesten, da motorisierte Mitmenschen mit Bleifuß offenbar den Bezug zu ihrem Umfeld verloren haben. Und Fußgänger schimpfen über Radfahrer ohne Rücksicht auf Verluste.
So kann das nicht weitergehen. Ich finde, es wird Zeit, dass wir die Diskussion über Mobilität von Fragen der persönlichen Identität, von messerscharfen Ideologien und dem siloartigen Inseldenken der Mobilitätsanbieter befreien. Deshalb spreche ich seit einem halben Jahr für meinen Podcast freifahrt mit Expertinnen, Unternehmerinnen, Entscheider*innen, Herstellern, Kritikern und Enthusiasten über die Zukunft der Mobilität. Mein Ziel dabei ist es, einen umfassenden Blick auf Fahrzeuge, Anbieter, Strategien, Politik, Bedenken und Potentiale zu werfen. In dieser Kolumne möchte ich euch immer wieder an den Antworten, die ich in den Gesprächen für meinen Podcast bekomme, teilhaben lassen, sie einordnen – und mit euch darüber weiterdiskutieren.
Mobilität und Individualität lassen sich kaum trennen
Die Pioniere der Mobilitätsbranche sprechen von Mobility-as-a-Service, kurz: MaaS, wie über die Wunderwaffen, die alles vereinen wird. Auf der (digitalen) Straße, in persönlichen Gesprächen und in der Wahrnehmung der Kunden scheint die Gewissheit, dass die Erlösung naht, aber noch nicht angekommen zu sein. Ich beobachte eher ein diffuses Auseinanderdriften: Verlustängste treffen auf Innovation. Und das trotz oder wegen einer nie dagewesenen Wahlfreiheit als rollende Realität.
Wie also, frage ich mich, kriegen wir all das wieder unter einen Deckel? Wie schaffen wir das nötige Momentum für einen Wandel? Und was kann dabei das verbindende Narrativ sein, quasi der Kleber zwischen Motiven wie Umweltschutz, wirtschaftlichen Interessen, dem Wunsch nach weniger Platzverbrauch und eben dieser Verlustangst?
Eine ideale Lösung habe ich noch nicht. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir nur gemeinsame Antworten finden, wenn wir uns klar machen, dass Mobilität zwar in einem gesellschaftlichen Raum stattfindet, aber sehr individuell ist. In vielerlei Hinsicht. Die individuellen Bedürfnisse von Menschen, aber auch ihre Haltung und ihre Vorstellungen von der Zukunft beeinflussen nicht nur, welche Mobilitätsformen sie wählen, sondern auch welche Innovationen sie vorantreiben oder welche Verbote sie fordern oder abschaffen wollen.
Genau deshalb geht es in dieser ersten Kolumne viel um Individualität. Das macht die Sache erst einmal kompliziert, aber am Ende habe ich trotzdem noch einen Anhaltspunkt, wie wir alle diese individuellen Vorstellungen doch wieder zusammenführen könnten.
E-Scooter oder Spaziergänge: Was ist urbane Freiheit?
Die persönliche Freiheit endet bekanntlich dort, wo die eines anderen beschnitten wird. Das Thema Mikromobilität, das sich oft zwischen überfüllten oder zweckentfremdeten Straßen, Rad- und Fußwegen abspielt, ist dadurch automatisch brandheiß – und einer der Gründe, warum wir inzwischen wieder so grundsätzlich über Mobilität diskutieren. Mit Mikromobilität meine ich dabei übrigens Mobilität mit Fahrzeugen, die weniger als 500 Kilogramm wiegen und in der Regel zwei bis drei Räder haben. Egal ob Fahrräder oder E-Scooter, sie befriedigen das Bedürfnis danach, bis ans Ziel zu kommen, ohne an Fahrpläne, Haltestellen und Abgabepunkte gebunden zu sein. Mehr Individualität geht kaum – und gut für die Umwelt soll sie auch noch sein die Mikromobilität. So lautet jedenfalls das Versprechen.
Horace Dediu, der nicht nur der Gründer von micromobility.io ist, sondern auch ein inspirierender Analyst der Industrie, erklärte im vergangenen Herbst bei einer Keynote in Berlin, dass Mikromobilität urbane Freiheit bedeutet. Diese Einschätzung würden andere allerdings als eher individuelle Einschätzung bezeichnen. Denn ihre Vorstellung von urbaner Freiheit durch Mobilität sieht ganz anders aus.
Roland Stimpel, zum Beispiel, spricht in Folge 11 meines Podcasts davon, welchen entschleunigenden Wert zu Fuß gehen für ihn hat. Der Vorstand des Interessensverbands FUSS e.V. berichtet, wie Gehen seine Sinne für das schärft, was sonst im Vorbeirauschen untergeht. Auf den ersten Blick wirkt das herrlich naiv in unserer immer schneller tickenden Gesellschaft. Auf den zweiten ist es vielleicht ein notwendiges und mutiges Gegengewicht zur Hochgeschwindigkeitsentwicklung der E-Scooter-Anbieter.
Verbote können Lebensqualität bedeuten
So beachtenswert ich es finde, dass Roland Stimpel für eine Sache einsteht und für die Rechte von schwächeren Verkehrsteilnehmern kämpft. Im Laufe unseres Gesprächs stellte ich fest, wie sehr es den eigenen Blick beeinflusst, wenn man seine bevorzugten Formen der Mobilität gefunden hat. Bei E-Scootern war für ihn direkt beim ersten Ausprobieren „kein Fortschritt im Vergleich zum Fahrrad“ festzustellen. Seine Bewertungsgrundlage ist also offenbar das Fahrrad.
Darüber hinaus sprach er durchaus positiv von Verboten für andere Formen der Mobilität, die seine Mobilität – und damit seine persönliche Freiheit – wiederum einschränken könnten. Konkret verglich er die Bußgelder, die in Deutschland fällig werden, wenn man als Rad- oder E-Scooter-Fahrer auf dem Gehweg unterwegs ist, mit denen in Frankreich: 15 Euro versus 135 Euro. „Das scheint mir ein wesentlicher Grund zu sein, dass man in Paris weiterhin entspannt flanieren kann“, sagte Roland Stimpel. „Es funktioniert. Es muss nur teuer und abschreckend sein, dann macht es auch keiner.“
Verbote klingen aber auch nach einer schwarz-weißen, regelbasierten Realität, die zwar in einer perfekten Welt ordnungsgemäß funktionieren würde, aber irgendwie den Beigeschmack einer Platzwartmentalität hätte. Wie passen Gebote und Verbote nun als Grundlage für jede Gesellschaft mit dieser neu entstehenden Mobilitätswelt zusammen, die technologisch getrieben und von Individualismus geprägt ist?
Tatsächlich gibt es genügend Beispiele, wo Verbote oder auch Gebote der Weg waren zu mehr Lebensqualität. Ich denke da an die verpflichtende Einführung von Katalysatoren oder auch das Rauchverbot. Auch aktuelle Beispiele aus dem Bereich Verkehr wie autofreie Innenstädte, zum Beispiel in Groningen, oder Beschränkungen für Autos wie in London sind inzwischen gern zitierte Vorzeigemodelle.
Doch natürlich können Gesetze und Regeln Innovationen auch bremsen. Das bekam Florian Walberg zu spüren, der sich davon aber nicht abhalten ließ. Er ist der Gründer und Geschäftsführer von Walberg Urban Electrics, einem E-Scooter-Hersteller aus Hamburg – und berichtete in Folge 10 des Podcasts voller Tatendrang, wie er den spannenden Spagat zwischen deutschen Prüfnormen und seinem liberalem Innovationsgeist schaffte. Durchgehalten hat er auch, weil er schon 2011 wusste: „Das ist die Zukunft.“ Und dann sagte er sich: „Ich stelle einfach die Fahrzeuge her und muss mich darum kümmern, dass sich die Gesetze ändern.“ Er und andere haben sich erfolgreich gekümmert. Seit vergangenem Jahr sind E-Scooter unübersehbar auch in Deutschland erlaubt.
Mobilität ist auch eine Frage der Haltung
Wenn es Mut braucht, unangenehme Regulationen alias Verbote auszusprechen, so braucht es auch Mut, als Pionier über Jahre hinweg in einer rechtlichen Grauzone zu operieren und gleichzeitig für die Etablierung im Markt und im Gesetzestext zu kämpfen. Bei Florian Walberg merkt man außerdem: Mobilität bedeutet inzwischen auch, eine Haltung zu haben – eine Haltung bezogen auf die Zukunft, in der wir leben wollen.
Welche Haltung habe ich momentan? Für mich steckt in der Mikromobilität – und vor allem im E-Scooter-Hype – ein enormes Potential, die selbstverständlich gewordene Automobilität zu hinterfragen. Und in Kombination mit liniengebundener Mobilität, also mit Bussen oder Bahnen, sind Fahrräder und E-Scooter einfach perfekt, um die erste und letzte Meile zu überbrücken. Oder um direkt den ganzen Weg gesünder und manchmal schneller damit zurückzulegen.
Natürlich hat auch die vermeintliche technologische Gegenthese von (aktiver) Mikromobilität ihre Anhänger: Die Idee von omnipräsenten autonomen Shuttles begeistert viele. Auch die Vorstellung von Flugtaxis finden viele offenbar eher faszinierend als beängstigend. Tatsächlich bedienen beide Konzepte das Bedürfnis der individuellen Mobilität. Welche Probleme wir damit lösen und welche wir damit schaffen, bleibt für mich allerdings noch offen. Für andere mag das für E-Scooter gelten.
Ohnehin fällt mir auf, dass es oft die Innovatoren selbst sind, die ihre Vorstellung der Zukunft besonders überzeugend anpreisen. Ob das nun im Kleinen Florian Walberg für E-Scooter ist. Oder im großen Sebastian Thrun, ein Pionier des autonomen Fahrens, früherer Vice President bei Google X und Gründer des Flugauto-Start-ups Kitty Hawk, für eine technologisierte Zukunft. Ziemlich sicher brauchen wir solche Innovatoren – können wir da von ihnen verlangen, was ihr in Podcast-Folge 8 als Technikfolgenabschätzung mit Prof. Dr. Stephan Rammler kennenlernen könnt?
Die Macht der Konsumenten
Stephan Rammler vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung aus Berlin ist Techniksoziologe, Zukunftsforscher und Mobilitätsexperte und forscht aktuell zum Zusammenhang von Digitalisierung und Nachhaltigkeit. Seine Standpunkte klingen im Vergleich zu den sprühenden Visionen der Innovatoren vermeintlich nach Spielverderber.
Doch gleichzeitig macht er auch klar, dass wir alle die Zukunft der Mobilität mitgestalten, weil wir als Menschen, als Konsumenten alle Macht haben. Indem er verschiedene Zukunftsszenarien skizziert, will er uns miteinander ins Gespräch bringen und eine öffentliche Debatte „jenseits von Ideologie und Schuldzuweisung“ ermöglichen. „Wir können uns als Gesellschaft entscheiden ob wir dem Pfad A oder Pfad B folgen“, sagt er. „Und wir können auch relativ sicher sagen, welche Aufwendungen wir dafür betreiben.“
Konkret und bildhaft ausformuliert findet man seine Konzepte für eine erstrebenswerte Zukunftsmobilität in seinem Buch Volk ohne Wagen. Dabei überspringt er übrigens nicht einfach ein ganzes Kapitel, sondern spricht auch an, was im Hier und Jetzt gelöst werden muss, um diese Zukunft zu erreichen. Er schlägt zum Beispiel vor in Quartieren mit kurzen Wegen zu denken, die Fahrradinfrastruktur auszubauen und sicher zu gestalten und Mobilität nutzerzentriert zu entwickeln, etwa in Form von Mobilitätsstationen (wie von Switchh oder Jelbi).
Welche Zukunft wollen wir haben?
Wie passt das, was Roland Stimpel, Florian Walberg und Stephan Rammler, aber auch Horace Dediu oder Sebastian von Thrun sagen, fordern und vorschlagen nun zusammen? Vielleicht so: Wir können unsere aufgeheizte Debatte zunächst auf Zukunftsszenarien lenken, die uns zeigen, wie Klimawandel, Urbanisierung oder Demografie unsere Welt verändern werden. Davon können wir unterschiedliche Varianten bilden – die davon abhängen, welche der neuen Mobilitätskonzepte, die von unterschiedlichen Innovatoren erdacht werden, wir einsetzen.
Für die Bewertung, welche Variante die zielführendste ist, brauchen wir meiner Meinung nach aber noch ein Paradigma, um den Kreis zu schließen. Am liebsten wäre mir die Nachhaltigkeit. Ich habe jedoch die Befürchtung, dass dieser Begriff noch zu abstrakt ist für viele. Denn wenn man als Individuum etwas konsumiert, aber die möglichen Folgen für die Zukunft, die zum Beispiel der CO2-Ausstoß oder der Flächenverbrauch haben, nicht spürt, wieso sollte man anders handeln?
Ob uns hier objektive Fakten oder emotional aufgeladene Bilder weiterbringen werden, weiß ich noch nicht. Was meint ihr?
Titelbild: Getty Images