Frugale Innovation statt Over Engineering: „Ich brauch nicht den Schnickschnack, der in Fahrzeuge reingekommen ist“

Was als Innovation vermarktet wird, ist oft nur ein weiteres Feature, das eigentlich niemand braucht. Der Rückspiegel weicht einer Kamera, die Waschmaschine bekommt ein spezielles Programm für Seidenunterwäsche, das Smartphone ein abgerundetes Display. Echter Fortschritt? Sieht anders aus. Manche Unternehmen gehen daher in eine andere Richtung. Sie setzen aufs Wesentliche – und damit auf frugale Innovationen.

Von Wolfgang Kerler

Mit Ausnahme des Allradantriebs klingt eigentlich nichts am aCar des Münchner Start-ups EVUM Motors beeindruckend. Der elektrische Kleintransporter schafft eine Höchstgeschwindigkeit von gerade einmal 70 Stundenkilometern. Seine maximale Reichweite liegt bei 200 Kilometern. Und optisch rangiert das aCar zwischen einem Fiat Panda mit Ladepritsche und einem geschrumpften Unimog. Trotzdem gehört es zu den wohl innovativsten neuen Fahrzeugen aus Deutschland – und gilt als gutes Beispiel für eine frugale Innovation. Auch deshalb, weil es eigentlich gar nicht für Käufer in Deutschland entwickelt wurde.

„Als wir 2013 mit der Entwicklung anfingen, ging es uns um ein Fahrzeugkonzept für Entwicklungs- und Schwellenländer“, erinnert sich EVUM-Co-Geschäftsführer Sascha Koberstaedt im Gespräch mit 1E9. Damals startete er zusammen mit seinem späteren Mitgründer Martin Šoltés ein Forschungsprojekt an der Technischen Universität München. Die beiden reisten nach Ghana, Nigeria, Kenia und Tansania, später auch nach Nepal und Bangladesch. Dort sprachen sie mit Einheimischen, zum Beispiel Bauern, über deren Bedarf an Transport und Mobilität. Denn sie wollten ein Gefährt konzipieren, das genau darauf abgestimmt ist.

Vier Jahre ist diese Testfahrt eines Prototypen des aCars in Ghana inzwischen her. Das Design des Fahrzeugs hat sich seitdem etwas verändert.

„Wir stellten ziemlich schnell fest, dass die Anforderungen fast überall gleich sind“, erinnert sich Koberstaedt. „Das Fahrzeug sollte einfach, robust und günstig sein, mit schlechten Wegen klarkommen und außerdem vor Ort produziert und gewartet werden können.“ Nach vielen Interviews folgte ein erster Prototyp, dann wieder Feedback der potenziellen Kunden, dann der nächste Prototyp, bis das erste aCar fertig war: ein kompakter, vielseitig einsetzbarer Kleintransporter mit Elektromotor, der bei der IAA 2017 präsentiert wurde. „Danach wollten wir es nicht bei dieser Idee belassen, wie es bei Projekten an Universitäten leider oft passiert“, sagt Koberstaedt. „Wir wollten das Ding wirklich umsetzen.“ Also gründeten sie EVUM Motors.

Schon herausgefunden hatten sie damals zwei Dinge: Zum einen, dass es aufgrund der politischen Umstände schwierig sein dürfte, gleich eine Produktion in einem ärmeren Land hochzuziehen. Und zum anderen, dass es auch in Deutschland viele Interessenten für das aCar gibt, die sich nach einem funktionalen, simplen Pick-up sehnen. „Die Leute sagen uns: Ja, ich will meine Sachen elektrisch von A nach B transportieren, aber ich brauch nicht den Schnickschnack, der in den letzten 20 Jahren in die ganzen Fahrzeuge reingekommen ist“, sagt Sascha Koberstaedt. „Die wollen endlich wieder selbst an ihrem Fahrzeug herumschrauben und es warten können.“

Es geht nicht um Ramsch oder Verzicht

Back to the roots. Back to basics. Weniger ist mehr. Oder: Not macht erfinderisch. Auffallend viele Sprichwörter beschreiben, worum es bei frugaler Innovation geht. Am besten trifft es aber: Do more with less. Statt Produkte zu entwickeln, die über möglichst viele Sonderfunktionen verfügen, voller technischer Spielereien stecken oder so kompliziert sind, dass man sie unmöglich selbst reparieren kann, sind einfache, robuste, günstige Lösungen gefragt. Sie sind genau auf die Bedürfnisse der Nutzer zugeschnitten. Und sie können mit möglichst geringem Ressourcenaufwand hergestellt werden.

„Zentral ist dann nicht mehr die Frage nach dem Schöner, Höher, Weiter oder wie ein Produkt vermeintlich besser gemacht werden kann, sondern die Frage, was die eigentliche Herausforderung der Kunden ist“, erklärt Petra Blumenroth, die bei Bayern Innovativ unter anderem im Technologie- und Innovationsmanagement tätig ist. „Mit Verzicht, Low-Tech oder billigem Ramsch haben frugale Innovationen aber nichts zu tun“, sagt sie im Gespräch mit 1E9. „Obwohl frugale Produkte einfach sind, bieten sie einen mittleren bis hohen Technologiestandard.“ Weitere Vorteile: Weil sie robust und ressourcenschonend sind, sind sie ein Beitrag zum Klima- und Umweltschutz.

Beispiele für frugale Innovationen gibt es viele: Vom in Indien entwickelten Kühlschrank aus Ton, der keinen Strom braucht, über den SMS-Bezahldienst M-Pesa aus Kenia, den auch Menschen ohne Bankkonto nutzen können, bis zum CT-Scanner, der so einfach funktioniert, dass es keine studierten Fachkräfte braucht, um ihn zu bedienen. Auch die Konzepte von Lebensmittel-Discountern oder Billigfluglinien könnte man als frugal bezeichnen. Oder die erfolgreichen Autos des Renault-Ablegers Dacia: kein Firlefanz, nur genau das, was die Kunden brauchen, dafür ein günstiger Preis.

In Industrieländern nimmt die Debatte um frugale Innovationen seit gut zehn Jahren an Fahrt auf. In Entwicklungs- und Schwellenländern existieren ähnliche Konzepte schon deutlich länger. Auch, weil den Menschen dort oft keine Alternative bleibt. Denn häufiger fehlt es an Kapital, Infrastruktur, Fachkräften und sonstigen Ressourcen. In Indien, zum Beispiel, heißen improvisierte, clevere Lösungen Jugaad. In Brasilien spricht man von Gambiarra , wenn man von einfallsreichen Methoden spricht, die nur mit den Materialien auskommen, die man vor Ort zur Verfügung hat.

Inzwischen erkennen allerdings auch Firmen aus Europa oder den USA, dass sich nicht nur durch teure High-End-Produkte, die immer neue Sonderfunktionen bieten, die eigenen Umsätze steigern lassen. Denn in Asien, Afrika und Lateinamerika steigen Hunderte Millionen Menschen in die Mittelschicht auf, Sie sind potentielle Kunden, die an hochwertigen Produkten interessiert sind, dafür aber keine Unsummen ausgeben können. „Firmen verdienen pro Stück weniger, können dafür aber gerade in Schwellenländern skalieren und neue Märkte besetzen“, sagt Petra Blumenroth. Sie sieht auch in Europa und den USA Potenzial für frugale Produkte. „Auch hier gibt es einen Trend zu mehr Nachhaltigkeit und simplen Produkten und weg von High-End-Produkten, die häufig over-engineered sind.“

Ein Auto, das man wieder selbst reparieren kann

In der eigenen Fabrik in Niederbayern startete EVUM Motors Ende 2020 die Serienproduktion. Im Februar wurden die ersten aCars an Kunden in Deutschland und Europa ausgeliefert, sagt Mitgründer Sascha Koberstaedt. Die Käufer stammen demnach vor allem aus drei Bereichen: Städte und Kommunen, die emissionsfreie Fahrzeuge für ihre Park- und Straßenreinigung wollen. Landwirte, Förster, Handwerker, die auch mal auf schlechten Wegen im Einsatz sind. Oder auch Liefer- und Logistikdienstleister für die Zustellung auf der letzten Meile.

Im Vergleich zum ersten Prototypen, der in Ghana erprobt wurde, hat das aCar zwar noch an Komfort gewonnen, es verfügt zum Beispiel über eine Heizung und zukünftig auch eine Servolenkung. Und auch der ursprünglich anvisierte Preis von unter 10.000 Euro war hierzulande nicht zu halten. Jetzt kostet das aCar über 30.000 Euro. „In unserem Modell für den europäischen Markt stecken aber trotzdem noch die Gene des afrikanischen Fahrzeugs“, meint Koberstaedt. Und davon profitieren sowohl die Kunden und Händler als auch die Firma.

„Im Gegensatz zu anderen E-Autos basiert unser Antriebsstrang auf 48-Volt-Basis und liegt damit rechtlich gesehen im Niedervoltbereich“, sagt der Mitgründer. „Das heißt, dass jeder ohne Spezialkenntnisse oder spezielle Schutzausrüstung das Fahrzeug warten kann. Kunden können selber schrauben und unsere Partner müssen nicht ihre Werkstatt ausbauen.“ Und weil das Ziel war, ein günstiges Auto zu konzipieren, dass auch in Entwicklungs- und Schwellenländern gebaut werden kann, strebte EVUM Motors von Anfang an eine Fabrik an, die ohne dreistelliges Millioneninvestment aufgebaut werden kann.

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„Deswegen ist unser Fahrzeug auch komplett aus Thermoplast, also aus Plastik“, erklärt Koberstaedt. Das spare Millionen an Kosten, die angefallen wären, wenn sich EVUM für eine Blechkarosserie entschieden hätte. „Pro Bauteil hat man da sonst Werkzeugkosten von einer Million. Kotflügel? Eine Million. Tür? Eine Million. Und so weiter. Wir liegen für unsere Karosserie bei Werkzeugkosten von 500.000 Euro.“ Insgesamt reichten bei EVUM Investitionen im zweistelligen Millionenbereich, um eine eigene Fabrik eröffnen zu können, die pro Jahr 2.000 bis 2.500 aCars ausliefern kann.

Den Plan, auch für und in afrikanischen Ländern aCars zu bauen, haben die EVUM-Gründer übrigens nicht aufgegeben – und auch den deutlich niedrigeren Preis nicht. Vor allem durch größere Stückzahlen und die immer weiter fallenden Kosten für Batterien sei noch deutlich Luft nach unten. Vielleicht hat das aCar sogar das Zeug zum Kultfahrzeug zu werden. „Viele nennen unser Fahrzeug den elektrifizierten Unimog“, sagt Koberstaedt. „Und meinen das durchaus nett. Endlich wieder ein einfacher Transporter, aber eben elektrisch und damit cool.“

Titelbild: EVUM Motors

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Danke übrigens an @Saskia, die die Inspiration für diesen Artikel geliefert hat. Und ein Shoutout an @marvinpoo, der hier ein Beispiel dafür beschreibt, dass auch Software „frugal“ sein kann :slight_smile:

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Ja, wie cool ist das denn! Schöner Artikel, @Wolfgang, und vor allem klasse, dieses Konzept stärker in die Diskussion zu bringen.

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