Digitale Graffitis: RealNote aus Bonn baut ein soziales Netzwerk in Augmented Reality

Aufgepasst, Facebook, Instagram und Snapchat! Das Start-up RealNote aus Bonn will mit einem neuen sozialen Netzwerk die boomende Welt der Augmented Reality erobern – und den Großen der Branche zuvorkommen. Das ist technisch anspruchsvoll und ganz schön riskant. Doch mit immer neuen Features und – vor allem – Wachstum will sich RealNote im Markt etablieren.

Von Wolfgang Kerler

Du stehst an der Bushaltestelle, langweilst dich und schaust dich um. Eine triste, graue Straße. Hier gibt es einfach nichts zu sehen. Bisher. Doch du wirst das jetzt ändern. Du zückst dein Handy und lässt es wie einen Pinsel durch die Luft gleiten. Danach begutachtest du auf dem Display dein Werk: eine dreidimensionale Skulptur mitten auf dem Gehweg. Ab sofort können sie alle, die hier zukünftig warten, durch ihre Smartphone-Kamera betrachten und sogar ergänzen. Und damit ihnen klar ist, wer hinter dem digitalen Kunstwerk steckt, platzierst du direkt daneben ein Selfie von dir auf den Asphalt und postest eine kleine Notiz daneben. Fertig.

So soll das soziale Netzwerk RealNote, hinter dem ein gleichnamiges Start-up aus Bonn steckt, in Zukunft funktionieren. Und so funktioniert die App auch heute schon – mit Ausnahme der Möglichkeit, 3D-Objekte einfach per Handbewegung in die Luft zu zeichnen. An diesem Feature arbeitet das Team um Sebastian Weller noch, dem Mitgründer und Chef der kleinen Firma. Bisher lassen sich Fotos, 3D-Emojis oder Schriftzüge auf Straßen, Plätzen, Hausfassaden oder im eigenen Wohnzimmer platzieren. Etwa 70.000 solcher Posts wurden auch schon abgesetzt, seit die App für Android im März 2020 im Play Store von Google landete. Die iOS-Version ist gerade eben erschienen.

Anders als bei Facebook, Instagram, Snapchat oder Twitter landen die Posts bei RealNote aber nicht in den Timelines und Feeds der Mitglieder, sondern tauchen in einer digitalen Ebene direkt in der physischen Welt um sie herum auf. Denn RealNote ist ein soziales Netzwerk, das voll auf Augmented Reality setzt – also auf die virtuelle Erweiterung der Realität, die durch Pokémon Go oder Snapchat-Filter mit Hundeöhrchen zum Mainstream wurde.

„Die Idee hinter RealNote ist, dass man Nachrichten, Bilder oder Objekte in Augmented Reality wie digitales Graffiti in die Welt posten kann“, sagt Sebastian Weller im Podcast New Realities von 1E9 und dem XR HUB Bavaria. „Das heißt, man sieht nur Beiträge von Leuten, die gleichzeitig oder vor einem am gleichen Ort waren. Und eben auch nur an diesem Ort.“

Hyperlokale Inhalte statt globale Influencer

RealNote soll keine App werden, in der man zuhause stundenlang herumscrollt, um sich das tolle Leben von Influencerinnen und Social-Media-Berühmtheiten anzuschauen, sagt Sebastian Weller, sondern eine, die man beim Spaziergang durch die Stadt zückt. „Wir haben als Vision, dass ganze Straßenzüge voll sind mit Beiträgen, die einem dann ein Gefühl für das jeweilige Stadtviertel geben“, erklärt er.

Anstatt Usern auf der ganzen Welt folgen zu können und nur noch Inhalte zu sehen, die von den Algorithmen der Internetkonzerne nach den eigenen Vorlieben und Weltanschauungen vorsortiert wurden, soll man bei RealNote mitkriegen, was Menschen aus der Nachbarschaft posten. Oder Touristen, die im Heimatort vorbeischauen. „Wir bauen ein hyperlokales Netzwerk“, sagt Sebastian Weller. Daher sieht er auch weniger die Gefahr, dass irgendwann Hass und Fehlinformationen um sich greifen. „Da versuchen wir besser zu sein als es Facebook und Twitter heute sind“, sagt er. „Aber das ist auch leicht gesagt, weil wir am Anfang stehen.“

Die Arbeiten an der App begannen zwar schon vor drei Jahren. Und die Idee eines sozialen Netzwerks in Augmented Reality hatten sicherlich auch schon vorher viele Leute, wie Sebastian Weller zugibt. Doch obwohl die Idee simpel klingt, hat sie einen Haken: „Es ist technisch extremst aufwendig“, sagt er. Eine Herausforderung: Sind Beiträge einmal in die Welt gesetzt, müssen sie auch für alle anderen User an exakt derselben Stelle in derselben Position zu finden sein – auch wenn sich die Tages- oder die Jahreszeit inzwischen verändert hat.


Hier gibt’s die Podcast-Folge mit Sebastian Weller von RealNote zum Hören. Abonnieren kannst du den New Realities Podcast von 1E9 und dem XR HUB Bavaria bei Podigee , Spotify, Deezer und bei Apple Music

RealNote löst dieses Problem, indem beim Posten nicht nur die jeweiligen Inhalte erfasst werden, sondern – über die Kamera des Smartphones – auch optische Merkmal der Umgebung. Dafür werden 25 Bereiche erfasst, denen wiederum eine Vielzahl von Werten zugewiesen wird. Kommt ein anderer User später in die Nähe des Posts, dessen Standort per GPS gespeichert wurde, beginnt im Hintergrund ein neuronales Netz zu arbeiten, um Ähnlichkeiten zu finden und den Post richtig zu platzieren, erklärt Sebastian Weller. „Das heißt, wir müssen nicht die ganze Welt vermessen, damit man mit dem Posten anfangen kann. Und mein Handy muss sich überhaupt nicht anstrengen, wenn in der Umgebung kein Post zu finden ist.“

Durch die Vielzahl von optischen Merkmalen, die erfasst werden, sollen Objekte auch noch dann an der richtigen Stelle auftauchen, wenn sich die Gegend verändert hat – zum Beispiel, wenn ein Brunnen im Winter abgedeckt ist. Nur wenn es dunkel ist, funktioniert das System nicht mehr. Aber das gelte ja im Grunde für alle AR-Anwendungen, sagt der RealNote-Chef.

Ein technischer „Quantensprung“ dürfte es werden, wenn leistungsfähige Augmented-Reality-Brillen, an denen ja unter anderem Apple und Facebook arbeiten dürften, auf den Markt kommen, meint Sebastian Weller. „Wir haben uns Brillen, die es heute bereits gibt, schon zum Testen angekuckt“, sagt er. Solange die Geräte allerdings keinen nennenswerten Marktanteil hätten, konzentriere man sich auf Smartphones.

Mit Wachstum gegen Facebook & Co.

Rund 100.000-mal wurde die Android-App des Start-ups seit März 2020 heruntergeladen. Nicht schlecht, aber kein Vergleich zu den Millionen von Downloads, die soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter, Instagram oder TikTok verzeichnen können. Doch in den vergangenen Monaten habe der Fokus auch nicht auf dem Gewinnen von neuen Usern gelegen, sondern auf der Entwicklung der iPhone-App, die nun ebenfalls fertig und veröffentlicht ist. Ab jetzt soll die App durch immer neue Features, die mehr Kreativität ermöglichen, beliebter werden. So soll es unter anderem bald möglich sein, eigene 3D-Objekte hochzuladen und dann in die Welt zu setzen.

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„Ich schiebe es gerne auf Corona, dass am Anfang viele Inhalte in der Wohnung, zum Beispiel über den Fernseher oder an den eigenen Kühlschrank, gepostet wurden“, sagt Sebastian Weller. „Da war dann ganz oft zu lesen ,Hi, ich bin hier‘ oder ,Wenn jemand mal nach mir in diesem Haus wohnt, ich habe hier gewohnt im März 2020‘.“ Inzwischen ließen sich aber auch im Freien immer mehr Posts finden. Wenn alles nach Plan läuft, sollen bald noch viel, viel mehr werden.

Wachstum könnte schließlich überlebenswichtig für RealNote werden. Denn was passiert, wenn eines der großen sozialen Netzwerke plötzlich die Funktionen von RealNote per Update in die eigenen Apps integriert? „Die Sorge haben wir im Prinzip schon seit drei Jahren“, sagt der Gründer. „Auch damals war das Marktumfeld schon so, dass ich es als halbwegs realistisch angesehen habe, dass Instagram, Facebook oder Snapchat in einem Feature-Release unsere App einbauen.“ Doch dieser Ernstfall trat bisher nicht ein. „Mittlerweile bin ich hoffnungsvoll, dass wir zumindest einen relevanten Marktanteil erreichen, bevor es passiert.“ Dann könne man auch koexistieren.

Schon einkalkuliert sei übrigens, dass sich mit RealNote vorerst kaum Geld verdienen lässt. Auch dafür brauche es erst genügend Mitglieder. Ideen für die Monetarisierung des AR-Social-Networks hat die Firma aber schon: kostenpflichtige Premium-Funktionen, mit denen Twitter gerade experimentiert, zum Beispiel. Oder auch ortsbasierte Anzeigen. „Eine Brauerei könnte ihn München auf der Theresienwiese mit ihrer Message werben“, sagt Sebastian Weller. Die Daten der Nutzer zum eigentlichen Geschäft hinter der App zu machen, um individualisierte Werbung an jede einzelne Person auszuspielen, das sei aber nicht geplant. Eine dreidimensionale Zahnbürsten-Werbung auf der Theresienwiese würde wenig Sinn ergeben, meint der Gründer. Auch wenn jemand vorher nach Zahnbürsten gegoogelt hat.

Noch mehr XR? Hier gibt’s die aktuellsten Folgen unseres Podcasts New Realities


Den „Garten der Lüste“ in VR erkunden – und die Folgen des Klimawandels erleben. Daran arbeitet das Start-up Videoreality. Die beiden Gründer erzählen außerdem, wie sie direkt aus dem Studium ins VR-Geschäfts einstiegen.


Für Roboterautos oder Videogames: Das Start-up Aves Reality will einen VR-Zwilling der Welt erschaffen. Die Technik dazu wurde bei Fraunhofer entwickelt. Erste Kunden könnten aus der Automobilindustrie kommen.

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Titelbild: RealNote

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Das resoniert mit der ersten Berührung mit mir. Wenn ich mir vorstelle, mich mit jemanden in der Stadt zu verabreden, um überall in der Umgebung Kunst zu beobachten und zu bewerten… daraus könnte man einen großartigen kulturellen Wettbewerb herstellen. Am Ende des Jahres wird dann gekürt mit folgendem Reset für das nächste Jahr künstlerischer Betätigung. Man könnte das ganze auch digital mit Musik untermalen, um der Kunst noch mehr Charakter zu verleihen. So viele Dimensionen offen :slightly_smiling_face:
Zumindest meine ersten Gedanken dazu. Irgendeinen Mechanismus muss es auf jeden Fall geben, der selektiert.

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