Von Ronit Wolf
„Jede nützliche Idee über die Zukunft sollte am Anfang lächerlich erscheinen.“ Mit diesem Zitat beendet Tina Auer, Gründungsmitglied des Time’s Up-Kollektivs, ihren Slam auf dem Münchner Science & Fiction Festival im Deutschen Museum. Das Zitat stammt von Jim Dators, Professor und Direktor des Hawaii Research Center for Futures Studies. Time’s Up hat sich den Satz zu Herzen genommen.
Die Truppe existiert seit 1996 als eine Art Enfant Terrible in der oberösterreichischen Landeshauptstadt. Direkt im Linzer Hafen, in einer alten Industriezeile, behausen sie ihr Piraten-Nest. Dort experimentiert das Kollektiv unter anderem in großen, interdisziplinären Arbeitsgruppen an Zukunftsszenarien, an sogenannten Physical Narratives – oder auch: begehbaren Geschichten, wie sie es selbst nennen. Dabei ist der Denglish-Sprach-Faktor – oder sollte man eher sagen der Anteil von Ösenenglish – immer recht hoch; denn Time’s Up ist viel auf Reisen – da wird viel vermischt!
Sie inspirieren und beraten weltweit mit ihren Story-Worlds – Firmen, Festivals, Universitäten und Neugierige . Die Truppe kreiert dabei Ausstellungen, Workshops, Vorträge und auf Anfrage sogar Slams. Die Auftraggeber sind schließlich neugierig. Wirken doch Time’s Up wie eine Art Zukunfts-Orakel, von dem man wissen will, wie sich alles weiterentwickelt Welchen Mythen, welche Ängste, welche Schlagzeilen und Geschichten gibt es bald noch? Oder bald nicht mehr?
Turnton: Eine Zukunftsstadt direkt am Meer
Als ein Laboratorium für experimentelle Situationen basteln sie „futures just around the corner“. Und das seit fast sieben Jahren in begehbaren Kulissen, die vollgepackt sind mit Geschichten und Requisiten. Daraus geboren wurde eine Stadt an der Küste – eine fiktionale Stadt, 30 Jahre in unsere Zukunft vorausgedacht. Sie heißt Turnton.
Turnton liegt direkt am Meer. Ein großflächig angedachter Inkubator. Eine Welt, die gerade nochmal die Kurve gekratzt hat. Umweltkrisen sind soweit bewältigt, Kriege überwunden und das Wirtschaftssystem trotz massenhafter Einwanderung eben nicht kollabiert – ganz im Gegenteil. Mit den New-Neighborhood-Büros fanden Menschen aller Couleur neue Jobs, Hoffnung und Mitmenschlichkeit. Wir haben in dieser potentiellen Zukunft also gelernt: Es ist ein funktionierendes Parallel-Universum – ein konstruktives Superlativ unserer Dummheit.
Um die Stadt griffig, menschlich und real werden zu lassen, startete Time’s Up bald damit, einen visuellen Kosmos zu erschaffen. Denn Turnton ist detailverliebt. So gibt es dort Toilettenschilder für alle möglichen Geschlechter, eine eigene Stadt-Postille, die Turnton-Gazette, Drohnen-Kinos, in denen jede Drohne ein Pixel vom Bildschirm beschreibt, die Vertical Forrest Initiative, oder die exquisite Medusa Bar mit marinen Menüs direkt in den Docklands. Mit Tauch-Touren in unsere Vergangenheit, den Drunken House Adventure Diver Touren, kann man sich die alten, versunkenen Stadt-Silhouetten unter Wasser noch mal ansehen – ein bisschen makaber darf es auch sein.
Was schließlich davon real abläuft und zu sehen ist, oder nur in den Köpfen der Besucher passiert ist Teil des Storytellings.
Keine Gier, keine Wegwerfmentalität, keine Unmenschlichkeit
Letztlich betreiben viele Initiativen das Leben im fiktionalen Turnton. Politisch wird es durch die universelle Ethik-Kommission angeführt, die sich in die Generalautorität für Nachhaltigkeit und das Amt für globale Transparenzen splittet. Daraus ergeben sich assoziative Einheiten wie die POP (People over Profit) oder die ACCER (Association for Art, Culture, Education and Research). Durch ein Guckloch zwinkerte diese Gesellschaft zu uns, sie zeigt sich als extrem transparent und scheint einen Großteil der Gier, Wegwerfmentalität und Unmenschlichkeit, die der Kapitalismus so hypte, irgendwie gekündigt zu haben.
Läuft man durch Turnton, möchte man sofort dort leben. Es fühlt sich zu keiner Zeit wie eine Kulisse an. Die Stadt macht neugierig, man will ihr Terrain erforschen, sie anfassen und erfassen – schlicht Teil davon werden!
Wenn man es irgendwann in die Medusa-Bar geschafft, gibt es – keine Drinks! In der muggeligen, mit Schwarzlicht beleuchteten Bar, kann man aber den Kindern der Zukunft zuhören. Es gibt Tonaufnahmen dieser Stadt, Zukunfts-Echos, Menschen, die aus ihren alltäglichen Geschichten erzählen – Geräusche und Musik 30 Jahre voraus. Wenn auch nur über unsere primitiven Kopfhörer, bekommt man den Alltag des Jahres 2047 mit. Auch wenn die Stadt quasi leer ist von Menschen, wirkt das Nacht-Setting eher als würden alle gerade schlafen. Es gibt keine Schauspieler in diesem Set-up. Es erinnert ein wenig an ein Exit-The-Room-Game, nur das keiner gehen oder Spiele lösen muss.
To hell with more, we want better!
Läuft einer weiter durch Turnton fallen immer wieder Slogans auf, die nicht nur den Look and Feel der Örtlichkeit prägen, sondern auch regelmäßig in der fröhlich, voll plakatierten Küstenstadt auffallen. „Phrasen bleiben im Gedächtnis“, sagt Gründungsmitglied Tina Auer. Mit ihrem Leit-Gedanken „Change was our only chance“ starteten sie damals in die Zukunft. Gefolgt von Sinnsprüchen wie: „Luxus für alle!“ oder „To hell with more, we want better!“.
Die Sorge um den Planeten und den Menschen, darum geht es in dieser Welt. Die Erderwärmung, von der alle reden, die gerade so brisant wie nie zu vor ist – in Turnton hat man noch rechtzeitig die Notbremse gezogen. Die Stadt existiert nun schon längerer Zeit im Jahre 2047; ein bisschen wie bei den Simpsons – das Baby ist auch nach Jahren noch das Baby.
Dieser „eingefrorene“ Zustand von Turnton macht es leicht, aktuelle Geschichten zu spinnen. In der Hafenstadt lässt sich das Ansteigen des Meeresspiegels thematisieren, die Meeres-übersäuerung, der Plastikmüll und die Auswirkungen auf alle Lebewesen. Davon abgeleitet entstanden Kulissen wie die Anlage der Ocean Recovery Farm.
Mittlerweile ist die Time’s-Up-Crew Profi im Kulissenbau geworden. Täuschend echt wirken die Aufzüge, die durch die vermeintlichen Häuser rappeln, oder die Türspione die in andere Welten blicken lassen. Die großformatigen Gemälde mit weit entfernten Meereslinien, Wasser und Himmel bis an den Horizont – eine Illusion der Hafenstadt. Natürlich ist das auch ihr Lieblings- Establishing-Shot in Turnton: der Hafen mit Blick aufs Meer; die Aufmacher-Szene, wenn alle Besucher erstmalig Turnton betreten. Was vorher mit einer Vielzahl von Leuten imaginiert wurde, steht da jetzt und will erforscht werden.
Tina Auer von Time’s Up im Kurz-Interview mit Ronit
Bevor Tina Auer nach dem Science & Fiction Festival in München nach Sri-Lanka überfliegt, nahm sie sich noch die Zeit, einige Fragen an sie zu beantworten – oder besser gesagt an die Zukunft.
Ronit Wolf: Wie haben sich die Utopien in den letzten 20 Jahren verändert?
Tina Auer: Ich erlaube mir, deine Frage unverzüglich umzuinterpretieren - und verabschiede mich schlicht vom Begriff der Utopie. Stattdessen bringe ich das Feld der „bevorzugten Zukünfte“ ein – und betone auch noch deren Pluralität.
Ich glaube, die gedachte Vorwegnahme des Morgens, die sich darum bemüht ein „gutes Leben für Alle“ zu verbreiten – was meine bevorzugte Interpretation von bevorzugten Zukünften ist, die muss veränderlich und beweglich bleiben! Sie tat dies auch über die letzten Jahre und Dekaden. Bedingt natürlich durch Veränderungen die Zeit, Alltag, Leben mit sich bringen, also wissenschaftliche Erkenntnisse, technologische Errungenschaften, sozialpolitische Entwicklungen und so weiter. Ich habe den Eindruck, dass es grundsätzlich eine höhere Bereitschaft, mehr Mut und auch eine wachsende Expertise zum Denken vorweg genommener Zukünfte gibt. Bedingt auch dadurch, dass herkömmliche Zugänge, Denk- und Handlungsweisen inzwischen ja auch in naher Zukunft nicht mehr haltbar sind – die Stichwort dazu: Klimawandel, soziale Ungerechtigkeiten, fossile Brennstoffe.
Gibt es kulturelle Unterschiede im utopischen Denken?
Tina Auer: Hoffentlich und unbedingt! Ohne Unterschiede wäre ja die ganze wunderbare, bedeutsame und wichtige Diversität dahin!
Warum glaubst du, dass auf sämtlichen Medien immer mehr Dystopien als Utopien geschaffen werden?
Tina Auer: Weil geradlinige Dystopien viel einfacher zu schreiben und zu storyboarden sind. Das ist jetzt ein bisschen überheblich, aber ich habe manchmal den Eindruck, dass den Untergang zu zeichnen weniger Mut und Lust am und zum Denken braucht.
Was würdest du Mars-Kolonisten raten – oder findest du es überhaupt nicht sinnvoll den Mars zu besiedeln?
Tina Auer: Ob sinnvoll oder nicht, erlaube ich mir nicht zu beurteilen. Ich persönlich finde es spannender und interessanter in jenen Planeten Kraft zu investieren, der zumindest in einer greifbaren Zukunft einer Mehrzahl von Lebewesen – hoffentlich – als Lebensgrundlage dienen wird.
Danke, Tina! Und ihr wisst Bescheid: Ob Utopie oder Dystopie – hoffentlich bleibt es lächerlich. Denn dann wird es bestimmt eine gute Zukunft!
Titelbild: Eine Szene in Turnton. Bild: Lorenz Seidler