Ein Interview von Wolfgang Kerler
Der größte Autobauer der Welt kann die Versorgung seiner Werke nicht mehr sichern. Weil durch Grenzschließungen, Ausgangssperren, gestrichene Flüge und Quarantäne die weltweiten Lieferketten unterbrochen sind, stoppte Volkswagen die Produktion in seinen europäischen Werken. Anderen Konzernen geht es ähnlich. Die Just-in-Time-Ökonomie kommt an ihre Grenzen. Die ohnehin selbst im Weißen Haus längst misstrauisch beäugte Globalisierung erhält einen weiteren Dämpfer.
Dabei erfordern die komplexen Herausforderungen unserer Zeit mehr und nicht weniger globale Kooperation, meint Lin Kayser, der bei 1E9 als @Lin Mitglied ist. Der Vordenker, Gründer und Softwareentwickler ist seit 25 Jahren im Start-up-Geschäft. 2012 verkaufte er seine Firma Iridas an Adobe, wo er anschließend die Entwicklungsteams von weltweit bekannten Produkten wie Premiere oder After Effects leitete. Danach startete er wieder ein eigenes Unternehmen. Es heißt Hyperganic und arbeitet an Software, die mithilfe von Künstlicher Intelligenz Objekte ganz anders designet als bisher üblich. Das Ergebnis sind optimierte Produkt so komplex wie die Natur, die man früher nicht hätte herstellen können. Inzwischen aber schon – mit 3D-Druckern.
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Jetzt Mitglied werden!Im Interview mit 1E9 erklärt Lin, wie die anfälligen weltweiten Lieferketten auch bei physischen Produkten digitalisiert werden können – während die Produktion selbst wieder lokal stattfindet. Er erklärt, warum dadurch ungeahnte Innovationen möglich werden. Und weshalb darin auch eine Chance für die Länder und Regionen liegt, die heute als Werkbank gelten.
1E9: Schon als die Ausbreitung des Coronavirus noch auf die Industrieregion um Wuhan in China beschränkt war, zeichnete sich ab, dass die Lieferketten vieler Unternehmen durch die dortigen Produktionsausfälle unterbrochen werden. Wie beurteilst du – angesichts der Krise – die Art und Weise, wie physische Produkte hergestellt werden? War es ein Fehler, auf so komplexe und weltweite Lieferketten zu setzen?
Lin Kayser: Ich denke nicht, dass man von einem Fehler reden kann. Globale Lieferketten sind grundsätzlich positiv. Man setzt auf die Fähigkeiten der Menschen überall auf der Welt und bekommt deshalb wesentlich schneller wesentlich bessere Produkte. Handel ist außerdem kultur- und völkerverbindend, wir brauchen also eher mehr davon als weniger. Und wenn es genügend Hersteller in der Lieferkette gibt, ist das System sogar toleranter gegenüber Ausfällen.
Problematisch ist eher die sehr hohe Spezialisierung, die dazu führt, dass es nur noch wenige Lieferanten gibt, die dann womöglich nur in einer Region sind. Manchmal gibt es nur noch einen physischen Produktionsstandort, der auf ein bestimmtes Produkt spezialisiert ist. Noch viel dramatischer ist für uns alle aber, dass wir fast alles nur noch aus standardisierten Teilen herstellen. Wirkliche Innovation ist schwierig geworden, weil man wenig Flexibilität hat. Deshalb sieht man die Tendenz, dass sehr innovative Firmen wieder auf hohe vertikale Integration setzen: Statt Teile von Zulieferern zu kaufen, wird viel selbst gemacht. SpaceX ist dafür ein gutes Beispiel.
Was wir heute sehen, ist ein System, das versucht das Optimum aus den aktuellen Produktionstechnologien herauszuholen. Das Resultat sind hochspezielle Fabriken für ganz bestimmte Teile, die zwar für sich genommen sehr optimiert sind, aber keine Flexibilität oder Synergieeffekte ermöglichen. Das aktuelle System hat uns weit gebracht, aber jetzt brauchen wir einen Paradigmenwechsel.
Du plädierst also für ein Umdenken bei der klassischen Produktion – hin zu Digitalen Physischen Produkten. Was genau meinst du damit?
Lin Kayser: Wir kennen derzeit physische Produkte auf der einen Seite. Und wir kennen rein digitale Produkte, wie zum Beispiel Musik oder Software. Der Vorteil von digitalen Produkten ist, dass sie sich beliebig oft reproduzieren lassen, dass sie schnell adaptiert werden können, dass ganz neue Geschäftsmodelle möglich sind.
Das ist auch der Grund, warum sich die Dinge in der digitalen Welt sehr schnell verändern. In der physischen Welt ist das nicht passiert. Die meisten Gegenstände um uns herum haben sich nicht wirklich fundamental weiterentwickelt. Wie schon gesagt ist es auch sehr schwierig, in unserem aktuellen Massenfertigungsmodell, das auf standardisierten Bauteilen basiert, etwas wirklich Neues aufzubauen. Jede Veränderung erzeugt einen Rattenschwanz an Problemen, wir lassen Dinge oft gut genug , anstatt sie zu perfektionieren.
Hier kommen Digitale Physische Produkte ins Spiel, kurz: DPPs. Das sind Produkte, die weitgehend digital existieren, bevor sie schließlich physisch hergestellt werden. Während ihrer digitalen Phase können sie wie rein digitale Produkte gehandelt werden, können sich an Problemstellungen anpassen und so weiter. Erst ganz am Ende werden sie physisch in einem standardisierten Verfahren gefertigt.
Existieren solche Produkte schon?
Lin Kayser: Ja, in manchen Branchen schon. Ein Beispiel dafür ist die Chipindustrie. Seit den 1970er Jahren werden Microchips über Computer-Algorithmen generiert. Diese Algorithmen werden von den unterschiedlichsten Herstellern zur Verfügung gestellt, zum Beispiel stellt die Firma ARM Prozessor-Cores oder die Firma NVDIA Grafikkartenfunktionalität als algorithmische Module zur Verfügung. Beim Chipdesign verständigen sich all diese Softwarekomponenten untereinander und generieren ein optimiertes physisches Chiplayout. Der Chip mit all seinen Komponenten entsteht also zunächst digital, bevor er dann überall auf der Welt standardisiert gefertigt werden kann.
Gute Lösungen können sich schneller durchsetzen, weil es nur noch eine Frage davon ist, dass man sich handelseinig wird.
Das spannende ist, dass wir dieses Prinzip jetzt auf viele andere Bereiche ausdehnen können und Innovation dadurch viel schneller stattfinden kann. Durch die algorithmische Abstimmung von Komponenten aufeinander, den Handshake , können Produkte in globaler Kooperation optimiert werden. Gute Lösungen können sich schneller durchsetzen, weil es nur noch eine Frage davon ist, dass man sich handelseinig wird. Die Konstruktion von hochkomplexen Bauteilen und letztlich ganzen Maschinen wird in so einem System fast vollständig automatisiert und verwendet immer die optimalen Lösungsansätze. Ingenieurinnen und Ingenieure fokussieren sich darauf, diese Lösungen digital weiterzuentwickeln. Die globale Lieferkette wird komplett digital, die Fertigung wird lokal.
Inwiefern könnte uns dieser Wandel in Zukunft vor den Auswirkungen von Pandemien schützen – und bei der Bewältigung der Klimakrise?
Lin Kayser: Meiner Meinung nach ist die digitale Fabrikation – unter diesem Begriff fasst man die komplett automatisierten und flexiblen Fertigungsketten zusammen – die Schlüsseltechnologie, um etliche Herausforderungen unserer Zeit zu lösen. Ohne signifikante technische Innovationen können wir den Klimawandel nicht bewältigen.
Digitale Lieferketten und eine dezentrale automatisierte Produktion verleihen uns auch große Flexibilität im Fall von Disruptionen, die zum Beispiel durch eine Pandemie oder eine Naturkatastrophe ausgelöst werden. Das Resultat des Wandels wäre außerdem eine wesentlich flexiblere Produktion, die sich auf Fluktuationen anpassen kann – dann etwa, wenn wegen einer ungewöhnlichen Situation bestimmte Produkte schnell in großer Zahl hergestellt werden müssen.
Welche Technologien bräuchte es für diese Neuausrichtung der Industrie? Und welche davon haben wir schon?
Lin Kayser: Das Kernelement ist die additive Fertigung, also der industrielle 3D-Druck. Denn der macht es möglich, dass die digital hergestellten Produkte am Ende lokal, direkt vor Ort gefertigt werden. Hier haben wir in den letzten zehn Jahren massive Fortschritte gemacht. Es gibt noch viel zu tun, aber fast die Hälfte aller 3D-gedruckten Teile weltweit werden bereits für die Serienfertigung von Produkten genutzt.
Das fehlende Element ist jetzt die Software. Anstelle von physischen Bauteilen brauchen wir jetzt Algorithmen, die diese Rolle übernehmen. Diese algorithmischen Module bilden flexibel Funktionalitäten ab und erzeugen dann im Handshake mit anderen Modulen ein optimales Objekt, das anschließend produziert wird. Außerdem brauchen wir eine neue Form des Handels. Anstatt physische Gegenstände zu verschiffen, handelt man in Zukunft mit den Algorithmen, die diese Gegenstände erzeugen. Geld fließt, wenn die Produkte digital hergestellt werden.
Die Keynote von Lin Kayser bei der 1E9-Konferenz 2019
Gehst du davon aus, dass die aktuelle Corona-Krise den Technologien zur digitalen und automatisierten Fertigung und dem 3D-Druck schneller zum Durchbruch verhelfen wird?
Lin Kayser: Eine solche Krise ist immer ein zweischneidiges Schwert. Einerseits entsteht Druck für Veränderung. Andererseits entzieht eine solche Krise dem Markt auch immer die Liquidität, um Innovationen umzusetzen. Ich arbeite jetzt seit 25 Jahren im Start-up-Umfeld und habe viele Krisen miterlebt. Unterm Strich haben sie immer zu mehr Innovation geführt. Im konkreten Fall bin ich fest davon überzeugt, dass wir am Ende einen großen Schritt nach vorne getan haben, weil die Vorteile Flexibilität, Innovationsfähigkeit und Dezentralität in der jetzigen Krise eine große Bedeutung haben.
Aber würde die Umstellung auf Digitale Physische Produkte nicht möglicherweise zu Massenarbeitslosigkeit in den Ländern führen, die heute als Werkbank der Weltwirtschaft gelten? Oder ergeben sich auch für Entwicklungs- und Schwellenländer neue Chancen?
Lin Kayser: Die Werkbank ist ein Auslaufmodell. Das war sie aber schon vorher. Bisher konnte man sich als Entwicklungs- oder Schwellenland mit dem Angebot billiger Arbeitskräfte etwas Zeit kaufen und Geld ins Land bringen. Früher oder später wurden die Mitarbeiter dann zu teuer, um sie für regelrechte Sklavenarbeit auszubeuten – und man musste sich ein neues Modell suchen. Der Übergang zu Digitalen Physischen Produkten beschleunigt das, bietet aber gleichzeitig große Chancen. Über digitale Zusammenarbeit kann geistiges Eigentum überall auf der Welt entstehen und global gehandelt werden.
Ich habe auf meinen Reisen viele Menschen kennengelernt, die aufgrund der Beschränkungen des physischen Handels und der Lieferketten in ihrer Region keine Chance hatten, mit ihren Ideen an der Weltwirtschaft zu partizipieren. Auf der anderen Seite sehen wir seit Jahren Menschen überall auf der Welt gemeinsam an digitalen Produkten arbeiten – ganz unabhängig von ihrem Standort. Wir haben jetzt die Chance das Digitale mit dem Physischen zu kombinieren. Das Resultat wird für uns alle sehr positiv sein.
Titelbild: Ein Raketentriebwerk, dessen Form sich von der bisher von Menschen konstruierten Varianten deutlich unterscheidet – entworfen von der Hyperganic-Software und dann per 3D-Druck produziert. Hyperganic