Wir haben Corona kaum in den Griff gekriegt, wie wollen wir da die Klimakrise meistern? Ganz einfach: besser. Und das können wir auch. Dafür brauchen wir eine gemeinsame Zukunftsvision, die nicht nur darin besteht, durch Verzicht Schlimmeres zu vermeiden. Sie darf ruhig ein wenig nostalgisch sein.
Ein Kommentar von Wolfgang Kerler
Bei 1E9 haben wir uns vorgenommen, Zukunftsoptimismus zu verbreiten. Aber ist der nach so einem Horrorjahr noch angebracht? Wäre es nicht an der Zeit für nüchternen Realismus? Oder gar Pessimismus?
In den vergangenen Tagen musste ich viel über einen Satz nachdenken, der in einer der unzähligen Corona-Talkshows gefallen ist. Er stammt vom Bundestagsabgeordneten und Epidemiologen Karl Lauterbach. Als er gefragt wurde, ob ihn die Coronakrise verändert habe, gab er eine überraschende Antwort. „Ich bin in einem Punkt extrem pessimistisch geworden“, sagte Lauterbach. „Und das betrifft den Klimaschutz.“
Denn, so der SPD-Politiker, ohne die „technische Lösung“ hätten wir in Europa das Coronavirus nicht besiegt. Nur der Impfstoff wird uns vor noch mehr Kranken und Toten bewahren. Wir als Gesellschaft waren schließlich nicht in der Lage das umzusetzen, was vernünftig gewesen wäre. „Und es wird keine Impfung gegen CO2 geben.“
Ja, dachte ich. Da hat er Recht. Während andere Länder die Pandemie meistern, schleppen wir uns mit einem zweiten Shutdown ins neue Jahr und verlieren auf dem Weg viel zu viele Menschenleben. Wenn wir schon an einer Pandemie scheitern, wie wollen wir da jemals die Klimakrise bewältigen?
Resilienz bringt nostalgische Gefühle zurück
Dann allerdings bin ich eher durch Zufall über einen Artikel in The New Republic gestolpert, der berichtet, mit welcher Botschaft die kanadische Politikerin Sonia Furstenau den Parteivorsitz der Grünen in der Provinz British Columbia ergatterte. Es war ein nostalgischer Appell für Klimaschutz, der viel mit einem Begriff zu tun hatte, der uns auch bei 1E9 in diesem Jahr immer wieder beschäftigt hat: Resilienz.
Die Definition davon leihe ich mir wieder bei unserem Kolumnisten @sebastianhofer und bei @felixbeer vom Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung aus, der mit mir im Juni ein Interview geführt hat.
Resilienz
Substantiv, feminin (von lateinisch resilire „zurückspringen“, „abprallen“)
- Widerstands- und Anpassungsfähigkeit unserer Gesellschaft in Zeiten von stetigem Wandel und Unsicherheit;
- die Kunst, Krisen erfolgreich zu meistern und die gemachten Lernerfahrung für die eigene Entwicklung positiv zu nutzen.
Aber was hat Resilienz mit Nostalgie zu tun? Aus Sicht von Sonia Furstenau kann nur eine resiliente Gesellschaft die nostalgische Sehnsucht nach einem Gefühl stillen, das viele zwar privat aus ihrer Kindheit oder ihrer Dorfgemeinschaft kennen, das uns aber auf gesellschaftlicher Ebene abhanden gekommen ist. Durch Globalisierung und Digitalisierung. Durch Fake News und Finanzcrashs. Und nicht zuletzt durch die drohende Klimakrise.
Es geht um das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit in einer unsicheren Welt – und um die Gewissheit, zu einer solidarischen Gemeinschaft zu gehören, die sich durch Krisen nicht aus der Bahn werfen lässt.
Wer den Klimawandel stoppen will, sollte demnach nicht nur auf die Vernunft der einzelnen Menschen bauen. Und auch nicht nur Verzicht predigen. Sonst könnte Karl Lauterbach mit seiner pessimistischen Vorahnung richtig liegen. Denn die Herzen der Menschen lassen sich dadurch nicht gewinnen.
Doch wenn der Kampf gegen die Klimakrise verknüpft wird mit der Aussicht auf eine resiliente Gesellschaft, die uns von unserer permanenten Zukunftsangst befreit, ließen sich vielleicht Mehrheiten organisieren. Dann besteht Klimaschutz auch nicht nur aus Abgasgrenzwerten, EEG-Umlagen und Ladesäulen, sondern auch aus Politik, die gesellschaftlichen Zusammenhalt fördert und Raum für Innovationen und Experimente schafft.
Wir sind wahrscheinlich schon weiter als wir dachten
Warum ich angesichts dieser Überlegungen der Meinung bin, dass wir optimistisch ins nächste Jahre starten können, hängt damit zusammen, dass wir vieles von dem, was eine resiliente Gesellschaft ausmacht, schon haben. Denn die Pandemie hat nicht nur unsere Schwächen aufgezeigt, sondern auch unsere Stärken.
Klar, es wäre schön gewesen, wenn wir alle gemeinsam so vernünftig gewesen wären, dass es keinen zweiten Lockdown gebraucht hätte. So bleibt uns eben nur der Impfstoff. Aber wir haben einen Impfstoff! Und er ist sogar in Deutschland entwickelt worden. Wir verfügen über das Wissen, um akute Probleme schnell zu lösen.
Gegen den Klimawandel können wir uns nicht impfen. Auch klar. Aber es mangelt uns nicht an Ideen, wir wir ihn bremsen oder besser mit seinen Folgen umgehen können. Täglich wird in Start-ups und Forschungseinrichtungen, in NGOs und selbst in dem ein oder anderen Großkonzern bewiesen, welche Kreativität und Innovationskraft in uns steckt. Bei 1E9 haben wir in diesem Jahr oft von Beispielen dafür berichtet.
Es gibt schon heute Technologien, um CO2 aus der Luft zu saugen und daraus langlebige Produkte zu machen. Wir können Elektroautos aus Müll herstellen. Flugzeuge könnten in Zukunft mit grünem Wasserstoff fliegen, Frachtschiffe mit riesigen Segeln vom Wind angetrieben werden. Außerdem wird an allerlei Stromspeichern gearbeitet, um die Energiewende zu vollenden. Das klimaschützende und pandemiefeste Fahrrad, eine altehrwürdige Technologie, erlebt eine Renaissance.
Außerdem haben wir gerade am eigenen Leib erfahren, dass wir uns die ein oder andere Dienstreise dank virtueller Alternativen sparen können. In Zukunft könnten sogar ganze Lieferketten digitalisiert werden.
Auch am Wunsch, sich einzubringen, und an gesellschaftlicher Solidarität mangelt es aus meiner Sicht nicht. Viele von uns wünschen sich mehr Transparenz, um nachhaltiger konsumieren zu können. Einer neuen Generation von Gründerinnen und Gründern geht es nicht nur um Gewinn. Sie wollen die Welt besser machen. Und abertausende Menschen haben zu Beginn der Coronakrise bewiesen, dass sie anpacken möchten. Zum Beispiel beim #WirVsVirus-Hackathon. Daraus lässt sich doch was machen!
Auch auf die Politik kommt es an
Was oft noch fehlt, ist der politische Gestaltungswille, aus den vielen Ideen und dem Engagement vieler Menschen etwas zu machen – die optimistische Zukunftsvision einer resilienten Gesellschaft und eine Plattform, die eine aktive Beteiligung der Bürgerschaft ermöglicht.
Bevor wir uns in diesem Jahr über Maskenpflicht, Beherbergungsverbot oder Glühweinhopping zerstritten haben, gab es einen überzeugten #FlattenTheCurve-Konsens, der auch die Gesellschaft erfasste. Er bröckelte erst, als er in die Mühlen der ambitionslosen Tagespolitik geriet, die schon lange verlernt hat, an die Zukunft zu denken. Die Zukunft ist aber kein Verwaltungsakt. Wie wäre es zur Abwechslung mit Aufbruchstimmung?
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Jetzt Mitglied werden!Doch selbst da gibt es Grund zur Hoffnung. Schließlich wird 2021 gewählt. Und vielleicht nimmt sich dabei jemand im Wahlkampf ein Beispiel an Anne Hidalgo, der Bürgermeisterin von Paris. Sie wurde gerade wiedergewählt – und das, obwohl sie zehntausende Parkplätze für neue Fahrradwege opferte. Doch sie betonte nicht, worauf die Menschen verzichten müssen. Sie betonte, was die Menschen dadurch gewinnen.
Wir alle sehnen uns doch gerade nach einer Welt, in der wir in Ruhe ein erfülltes (und gerne spannendes) Leben führen können – ohne permanente Zukunftsangst, ohne schlechtes Gewissen, ohne tägliche Hiobsbotschaften. Der Schlüssel dazu ist aber kein Zurück in eine fiktive Vergangenheit, wie sie Populisten propagieren.
Stattdessen könnten wir in eine resiliente, von einem angenehm nostalgischen Geborgenheitsgefühl erfüllte Gesellschaft aufbrechen. Wir sind von ihr auch gar nicht so weit entfernt. Wenn das kein Grund für Zukunftsoptimismus ist, was dann?
Titelbild: Getty Images