Waymo, Cruise, Zoox, Aptiv oder Drive.ai werden zu denVorreitern in Sachen autonomes Fahren gezählt. Die deutschen Autobauer sind zwar auch mit im Spiel – aber sie sind spät dran. Sie scheinen weit abgeschlagen. Doch stimmt das überhaupt? Und wenn ja, woran liegt es? Und was tun BMW, VW, Audi und Daimler, um doch noch im Rennen um das Roboauto aufzuholen?
Von Michael Förtsch
Es wirkt schon etwas wie Hexenwerk. Ein kleiner Mitsubishi i-MiEV rollt um eine Ecke, wechselt auf die rechte Fahrspur, bremst an einer Ampel. Dort wartet er auf das grüne Licht und surrt dann geräuschlos über eine Kreuzung hinweg, bevor er in eine Einfahrt biegt, einen Passanten vorbeigehen lässt und dann auf einem Parkplatz zum Stehen kommt. Dabei hatte er zwar einen Fahrer auf dem Steuersitz. Doch der legte kein einziges Mal die Hände an das Lenkrad. Das war vor mittlerweile drei Jahren in Singapur. Da hatte das Start-up nuTonomy – das mittlerweile zum Autozulieferer Aptiv gehört – gerade einen öffentlichen Pilottest für seinen autonomen Taxi-Dienst gestartet.
Eine Gruppe von Einwohnern der High-Tech-Metropole konnte sich via App eines der sechs automatisierten Taxis rufen und sich damit von A nach B chauffieren lassen. Ganz ähnliche Testbetriebe und Versuche gab es zwischenzeitlich auch von anderen Start-ups wie Drive.ai und der Google-Schwester Waymo in Städten wie Pittsburgh, San Francisco, Chandler und Phoenix in den USA – teils schon ohne Sicherheitsfahrer am Steuer. Bald wollen die ersten dieser Unternehmen ihre Dienste in den Regelbetrieb überführen und erstes Geld verdienen. Mancherorts sollen dann futuristische Zukunftsvisionen wie aus Total Recall (okay, das ist heute nicht mehr ganz so futuristisch), I, Robot oder Minority Report zur Wirklichkeit und der billionenschwere Mobilitätsmarkt aufgemischt werden.
Aber es geht nicht nur um Robotaxis. Andere Unternehmen arbeiten fieberhaft daran, dass gut verdienende Menschen zukünftig in ihren Luxusschlitten keinen Finger mehr rühren müssen; sie forschen an selbstfahrenden Paket- und Fastfood-Lieferwagen oder auch an Nachrüst-Sets, die jedes Auto nachträglich in einen selbstfahrendes Robofahrzeug verwandeln könnten. Alle von diesen autonomen oder zumindest hoch automatisierten Fahrzeugen werden schon getestet. Und das vor allem in Kalifornien. In und um das Silicon Valley sind rund 500 Geisterautos auf den Straßen unterwegs. Da kommt’s schon mal vor, dass gleich mehrere davon an einer Kreuzung stehen.
In Deutschland? Da scheinen solche Bilder momentan schwer vorstellbar. Während anderswo schon die selbstfahrenden Autos wie selbstverständlich herumsurren, wurden hierzulande gerade einmal erste Testfelder in und um Städte wie Dresden oder Karlsruhe, Bruchsal und Heilbronn eröffnet, auf denen Unternehmen ihre autonomen Fahrzeuge langsam an echten Verkehr gewöhnen können. Da könnte man fast auf die Idee kommen, dass Deutschland bei der Selbstfahrtechnik ziemlich hinterherhinkt, oder?
Verspielter Vorsprung
Die Idee des selbstfahrenden Autos, zumindest wie wir sie heute sehen, wurde in den USA geboren. Drähte in Highways und Funkwellen sollten, das war schon früh der Plan, die dicken Straßenschiffe sicher dahinrollen lassen. Aber mit die größten Sprünge machte die Technologie einst in Deutschland. Mit Millionenförderungen durch die Forschungsinitiative EUREKA ließen Entwickler von Daimler und der Universität der Bundeswehr Mitte der 90er umgerüstete Mercedes 500 SEL schon Tausende Kilometer sicher und unfallfrei über Autobahnen fahren. Ähnliches hatte Bosch mit einem Mercedes-Benz-410-Van geschafft. Das waren beeindruckende Erfolge und die entwickelten Technologien durchaus aussichtsreich.
Doch nachdem die Fördersummen versiegten und die Technik als zu teuer und unreif abgeurteilt wurde, verschwand auch das Interesse, weiter konzentriert daran zu forschen. Und das fast ein ganzes Jahrzehnt.
Zwar waren deutsche Autos und Ingenieure bei den Selbstfahrwettbewerben der DARPA in den 2000er-Jahren vertreten. Auch unterstützen manche Autobauer und deren Labore einzelne Projekte. Darunter etwa Shelley, ein selbstfahrender Audi TT, der am Dynamic Design Lab der Stanford University entwickelt wurde. Der orientierte sich vor allem mittels GPS und erklomm den legendären Pikes Peak. Aber an die Zukunft der Technik im Alltag glaubten in den Manageretagen offenkundig nur wenige. Viel eher ging es dort um die Zyklen-hafte Perfektionierung bestehender Technologien und Fertigungsprozesse sowie den Ausbau des Luxusimages der Autos aus deutscher Produktion.
In Deutschland fand die Forschung an autonomen Fahrzeugen in dieser Zeit daher mit begrenzten Mitteln und Ressourcen an den Universitäten und in mittelständischen Betrieben statt. Beste Beispiele? Die Wagen Spirit of Berlin und MadeInGermany, die an der der FU Berlin entstanden, der Passat-Kombi Leonie der TU Braunschweg oder auch der Passat des Team Lux von Sensorhersteller Ibeo. Das waren bemerkenswerte, aber kleine Schritte.
Damit wurde ein großer Vorsprung verspielt – nicht nur in Sachen Technologie, sondern auch, was Expertise und Sachverstand angeht. Erst als 2010 öffentlich bekannt wurde, dass Google über sein Zukunftslabor X offenbar Millionensummen in die Technologie für ein selbstfahrendes Auto investiert, wurden die etablierten Autobauer wieder richtig aufmerksam – nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan, Frankreich, Großbritannien, den USA, China und sonst rund um die Welt.
„Es ist ein Fehler, dass Autos vor den Computern erfunden wurden“, sagte Google-Chef Eric Schmidt Ende 2010 auf einer Konferenz. „Autos sollten sich selbst steuern, das ist einfach sinnvoll.“
Zu diesem Zeitpunkt waren die vom deutschen Stanford-Professor und KI-Forscher Sebastian Thrun für Google entwickelten Fahrzeuge schon mindestens ein Jahr auf den Straßen unterwegs. Sie wurden zwar von vielen Leuten gesehen, wurden mit ihrem drehenden Laserscanner auf dem Dach aber mal für neue Street-View- und 3D-Mapping-Fahrzeuge oder sogar für Autos mit Windturbinenantrieb gehalten. Fast unbemerkt hatten sie bis Ende 2010 schon über 225.000 Kilometer – davon jeweils rund 1.600 Kilometer am Stück ohne menschliches Eingreifen – an automatisierten Testfahrten absolviert. In der gleichen Zeit reichte Google zahlreiche Patente für Konzepte und Technologien rund um das autonome Fahren ein.
Dass sich so unbemerkt (oder zumindest unbeachtet) ein völlig neuer Player einen technologischen Vorsprung erarbeiten konnte, wird von den großen Autobauern eher ungern eingestanden und wenn, dann mit blumigen Worten umschrieben. Volkswagen-Chef Herbert Diess sagte etwa, dass Waymo, das aus dem einstigen Google-Car-Projekt hervorging, bei fahrerlosen Autos den hiesigen Herstellern vielleicht „ein bis zwei Jahre“ voraus sei. Branchenexperten sprechen hingegen eher von drei, fünf oder noch mehr Jahren. Denn Google und andere spezialisierte Start-ups wie nuTonomy, Cruise, das inzwischen zu GM gehört, Zoox und Drive.ai haben nicht nur Zeit und Geld investiert, sondern auch rechtzeitig die KI- und Sensor-Experten angeheuert, die schon über viele Jahre an den aktuellen Herausforderungen forschten. Sie haben Erfahrungs- und Datenbasen geschaffen, die sich selbst mit dem Einsatz von Milliardensummen nicht einfach aufholen lassen.
Aufholen, aber wie?
Den Vorsprung, den Waymo, Cruise und andere vorgelegt haben, muss und will die deutsche Autobranche nun verkürzen. Einerseits, um den Käufern ihrer Fahrzeuge zukünftig ebenfalls futuristischen Komfort bieten zu können. Aber auch, weil das Auto selbst langsam, aber sichtbar seine Bedeutung als Statussymbol verliert. Wichtiger dürfte wohl Mobilität als Dienstleistung werden – zumal mit selbstfahrenden Taxis und Shuttles. Und die ist weniger vom Fahrzeug selbst, sondern mehr von Software-Plattformen, digitalen Ökosystemen, Vernetzung und Daten getrieben. Fallen die Autobauer da zurück, könnten sie zu reinen Fahrzeuglieferanten degradiert werden, deren Wagen von Mobilitätsdienstleitern umgerüstet und mit bunten Logos beklebt werden.
Es wäre falsch, zu behaupten, die deutschen Autobauer hätten nach den ersten Google-Erfolgen nichts unternommen, um bei autonomen und vernetzen Fahrzeugen und Mobilitätsdiensten ebenfalls eine wichtige Rolle zu spielen. Schon 2015 sauste der hoch automatisierte Audi-Prototyp Jack über ein Teilstück der A9 bei Ingolstadt – inklusive selbstständiger Überholmanöver. Ich selbst saß bei einer Pressetour hinter dem Steuer und war davon angetan, wie sicher sich der Wagen im fließenden Verkehr bewegte.
Auch fuhren automatisierte Audi-Fahrzeuge bereits Rekordzeiten auf Rennstrecken ein. Und auch andere Hersteller legten nach. Auf der Messe CES in Las Vegas ließ Mercedes Benz 2015 den futuristischen Prototypen F 015 umher rollen und noch im selben Jahr beim Intelligent World Drive, einem weltweiten Testevent, umgerüstete S-Klassen selbstfahrende in fünf Kontinenten herumkurven. Selbstfahrende Wagen von BMW drehen schon seit einiger Zeit auf Strecken in und um München, bei Shanghai und im Silicon Valley ihre Kreise. Mehrere autonome Golfs von Volkswagen sind auf den Straßen deutscher Großstädte wie Hamburg und München unterwegs und mit MOIA hat VW einen Ridesharing-Dienst gestartet, der, wenn die Technik bereit ist, ohne Fahrer auskommen soll.
Die deutsche Autoindustrie ist in den vergangenen Jahren also durchaus vorangekommen. Aber nicht weit genug, wie manche Kritiker meinen.
Im Vergleich abgeschlagen
Das Ranking der kalifornischen Verkehrsbehörde Department of Motor Vehicles, die festhält im Abstand wie vieler Kilometer die Sicherheitsfahrer bei autonomen Testfahrzeugen eingreifen muss, fiel für 2018 ziemlich eindeutig und fast schon schockierend aus. Ein Waymo-Fahrzeug konnte hier im Durchschnitt rund 17.846 Kilometer zurücklegen, ohne dass der Mensch aktiv werden muss. Eines der GM-Tochter Cruise 8.327 Kilometer. Und bei Zoox waren es immerhin 3.076 Kilometer. Noch hinter Autobauneulingen wie SF Motors, dem Grafikkartenhersteller NVIDIA und eher unbekannten Start-up-Namen wie PlusAI landeten BMW mit 7,3 Kilometern und Mercedes Benz mit 2,3 Kilometern. Seit diesen Zahlen dürfte sich manches getan haben, sicher. Dennoch: Die Werte der US-Behörde geben einen guten Eindruck der Gesamtgemengelage.
Oder anders gesagt: Ja, die deutschen Autobauer liegen, wie sich sehen lässt, immer noch zurück.
Um zügig Boden gut zu machen, braucht es mehr. Vor allem mehr Fahrzeuge, die ihre Systeme aktiv in echten städtischen und ländlichen Umgebungen trainieren. „Es geht darum, möglichst viel Erfahrung in der Praxis zu sammeln“, konstatiert beispielsweise Stefan Bratzel, Direktor des Center of Automotive Management, im Handelsblatt. Erst dadurch könne sich wirklich zeigen, welche Defizite bestehen und wo die Geldspritze angesetzt werden muss. Ebenso brauche es zahlreiche Entwickler, die an der feingliedrigen Ausarbeitung der Fahrsoftware, den Vernetzungsmöglichkeiten und auch den noch unbekannten Herausforderungen des automatisierten Fahrens arbeiten. Musteranalyse, maschinelles Sehen, KI-gestütztes Erkennen und Voraussagen von Bewegungen und Objekten sind da nur einige Schlagworte.
So wollen Daimler, VW und Co. aufholen
Die Kritik kommt allmählich an. Audi gründete vor zwei Jahren das Tochterunternehmen AID, das mit „der Agilität eines Start-ups“ die Technologie vorantreiben und erste Fahrzeuge mit Level-3-Autonomie auf die Straße bringen soll. Volkswagen machte Ende 2019 überdies den Start von Volkswagen Autonomy öffentlich, das zum „weltweit best-finanzierte“ Start-up werden und vom Ex-Apple-Entwickler Alexander Hitzinger geleitet werden soll. Die neue Einheit soll „sämtliche Aktivitäten zum Autonomen Fahren ab Level 4“ für Volkswagen verantworten, heißt es.
BMW ist, wie Alejandro Vukotich, Bereichsleiter autonomes Fahren von BMW, im Interview mit 1E9 sagt, „seit geraumer Zeit sehr konsequent an dem Thema“ dran und hat in diesem Jahr seinen Autonomous Driving Campus bei München eröffnet. „Mittlerweile haben wir hier am BMW Group Autonomous Driving Campus in Unterschleißheim bald rund 1.800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Bord“, führt Vukotich weiter aus. Und auch eigene Data Center hat BMW in diesem Jahr in Deutschland und China in Betrieb genommen, die, wie der BMW-Mann sagt, „das Herz des Data Driven Development bilden“ und Daten von bald knapp 130 Testfahrzeugen speichern sollen.
Dazu haben sich die Bayerischen Motorenwerke öffentlichkeitswirksam mit dem Konkurrenten Daimler zusammengetan. Die beiden Rivalen im Luxus-PKW-Segment wollen ihre Ressourcen bündeln, um statt „individueller Insellösungen“ ein „zuverlässiges Gesamtsystem“ für das autonome Fahren auszuarbeiten, wie der heutige Daimler-Vorstandsvorsitzender Ola Källenius sagte. Dadurch sollen Forschung und Entwicklung für beide Unternehmen günstiger werden, es schneller vorangehen und die Chance auf wichtige Durchbrüche bei Hard- und Software gesteigert werden.
Gut, aber auch gut genug?
Die deutschen Autobauer können ihre eigenen Vorstöße durchaus werbewirksam vermarkten. Aber ganz auf die Hilfe von außen können sie nicht verzichten. Denn ihnen fehlten und fehlen stellenweise immer noch so manche Grundlagen – was natürlich auch darin begründet liegt, dass Daten und digitale Systeme lange Zeit nicht ihr Geschäft gewesen waren. Darum hatten sich BMW, VW und Daimler schon 2015 zusammengetan, um den Kartendienst Here von Nokia zu kaufen. Denn hochauflösendes Kartenmaterial, da sind sich sowohl Ingenieure als auch Forscher einig, könnten letztlich neben der Künstlichen Intelligenz der Schlüssel zum automatisierten, teil- und voll-autonomen Fahren sein. Die sogenannten HD Maps von Here sind bis auf wenige Zentimeter genau, werden schon jetzt von den Autobauern genutzt, täglich mit Millionen Änderungen aktualisiert und gelten derzeit als die besten der Branche.
Ebenso hat VW 2,6 Milliarden US-Dollar in das von Bryan Salesky gestartete Start-up Argo AI investiert. Das Unternehmen hat zahlreiche Pioniere der Selbstfahrtechnologie der Carnegie Mellon University gewinnen können. Deren Software wird sowohl von Volkswagen Autonomy als auch von AID erprobt werden. BMW hat sich zudem nebst Daimler mit der Intel-Tochter Mobileye zusammengetan. Das Unternehmen aus Jerusalem ist einer der erfahrensten und erfolgreichsten Entwickler von Video-basierten Fahrassistenzsystemen. Und auch mit Tencent kooperiert die BMW Group. „Wir sind überzeugt, dass kein Unternehmen die enorme Herausforderung alleine bewältigen kann“, heißt es von Alejandro Vukotich von BMW zu den Partnerschaften.
Dazu kommen Programme wie der Future Mobility Incubator, die BMW Start-up Garage, Daimlers Lab 1886, die Startup Autobahn und vergleichbare Inkubator- und Innovationsinitativen der deutschen Autobauer. Durch diese werden junge Unternehmen mit aussichtsreichen Technologien und Konzepten ausgemacht, früh mit Geld, Aufträgen aber auch Entwicklungshilfe gefördert. Das amerikanische Start-up Lunewave arbeitet beispielsweise an Antennen- und Sensortechnologie für automatisierte Fahrzeuge und Embotech aus dem schweizerischen Zürich an Software, die autonome Autos besonders energieeffizient und vorausschauender Fahren lassen soll.
Bereits verloren?
Die deutsche Autobauer befinden sich derzeit in einem hektischen Aufholrennen, das mit viel Geld und Personaleinsatz geführt wird. Wobei sie aber, anders als Waymo oder Uber, nicht nur mit einem einzelnen Läufer antreten. Denn, wie Alejandro Vukotich von BMW im Gespräch mit 1E9 anmerkt, muss bei autonomer Mobilität eigentlich zwischen „zwei Dingen unterschieden werden.“ Nämlich Selbstfahrsystemen, die für Services wie Robotaxis oder autonome Shuttle-Busse genutzt werden, und jenen „Systemen, die man an den Kunden verkauft“, weil sie zukünftig in den privaten PKW integriert sind. Die deutschen Autobauer wollen und machen beides.
Erstere Systeme, die für Robotaxis und Shuttle-Busse, müssen zu Beginn eventuell nur in fest abgesteckten Arealen oder auf wenigen Stecken funktionieren – etwa bei der VW-Tochter Moia. An solchen Systemen arbeitet auch Waymo und fokussierte sich zuvorderst auf Orte mit mildem Wetter sowie übersichtlichen und dezent befahrenen Straßennetzen, die von den Wagen nicht verlassen werden. Dadurch sind sie nicht unbedingt einfacher zu entwickeln aber deutlich schneller abzustimmen und fahrfertig zu machen. Das Feintuning ist weniger aufwendig, denn die Autos können gesondert auf die Verkehrs-, Straßen- und Wetterlage in der Gegend geschult werden, in der sie eingesetzt werden. Taxis und Busse müssen schließlich auch oft nur in einer bestimmten Stadt oder einem bestimmten
Landkreis genutzt werden.
Ein Privat-PKW mit automatisierten Fahrfähigkeiten sollte hingegen an möglichst vielen Orten und unter verschiedensten Bedingungen funktionieren – und seine Passagiere sicher ans Ziel bringen: nämlich immer dort, wo der Fahrer eben unterwegs ist. Sei es auf der Autobahn, der Landstraße, dem Feldweg oder dem Dorf – und das möglichst auch im Ausland, wo nicht nur andere Regeln, sondern auch eine andere Fahrkultur vorherrschen. Genau das fordert viel größere Menge an Daten, Trainingseinheiten, Anpassungen und Spezialisierungen durch die Entwickler. Selbst wenn die Software-Plattform die gleiche ist, sind die Herausforderungen und Voraussetzungen also gänzlich verschiedene.
Daher glauben BMW, Daimler und Audi zwar durchaus, dass zwischen 2020 und 2021 die ersten Luxus-PKW mit einem „Autopiloten“ von ihnen kommen werden. Darunter die Serienumsetzung des BMW Vision iNext, der dann wahrscheinlich i5 heißen wird, oder der neue Audi A8, der die nötige Technik und Software bereits an Bord hat und dann für das selbstständige Fahren freigeschaltet würde. Aber diese Edelkarossen sollen mit der Autonomie-Stufe von Level 3 vorerst nur die vergleichsweise gut überschaubare und langweilige Autobahn sicher befahren können. Erst nach und nach würden neue Einsatzgebiete dazu kommen – nämlich wenn es sicher ist. 2021 könnten ebenso auch die ersten Test-Robotaxis der deutschen Premiumhersteller „in Städten und Ballungszentren“ auf die Straßen kommen. Aber eben erst nur dort.
VW hingegen plant mit marktreifen selbstfahrenden Autos ab „Mitte des kommenden Jahrzehnts“. Zumindest würden sie, nach den Kriterien von Volkswagen, erst dann im „großen Maßstab“ für den Markt tauglich und sicher genug sein.
Die deutsche Autobauer fahren also eine Doppelstrategie - eine, die riskant und teuer, aber wohl auch nötig ist, um in den kommenden Jahrzehnten sowohl als Fabrikant als auch als Mobilitäts- und vielleicht sogar Software- und Plattformdienstleister relevant zu sein und zu bleiben. Langfristig könnte es aber sogar ein Vorteil sein, Technologie für selbstfahrende Shuttles und Taxis, die nur in ganz bestimmten Gebieten zum Einsatz kommen, und Technologie für private PKW, die überall fahren sollen, zu entwickeln. Denn obschon die Fahrzeuge der deutschen Hersteller dann nicht die ersten autonomen Wagen und Robotaxis auf den Straßen sein werden, die viele Leute bewegen, könnten sie letztlich jene werden, die die meisten Verkehrs- und Witterungslagen sowie Situationen meistern. Um auf möglichst vielen Märkten zu bestehen, könnte das eine Voraussetzung werden.
Letztlich geht es vielleicht auch gar nicht darum, wann genau selbstfahrende Autos auf den Straßen herumkurven. Sondern wie sicher und zuverlässig sie das tun werden. Und auch das könnte der Industrie hierzulande in die Hände spielen. Wie Alejandro Vukotich von BMW sagt, haben sich hier in Deutschland über Jahrzehnte „viel Wissen und Erfahrung zum Thema Sicherheit angesammelt“, was gewiss nicht unterschätzt werden sollte.
Zudem könnte es beim autonomen Fahren auch kommen wie bei den Computer- und Smartphone Betriebssystemen: Nur die größten und zuverlässigsten Plattformen und Anbieter werden in der Breite angenommen und genutzt. Und nur die größten Unternehmen werden es sich leisten können, ihre Produkte und Infrastrukturen aktuell zu halten und nachhaltig zu warten. Und unter diesen dürfte wohl, wenn es um Ressourcen und Finanzeinsatz geht, fast zwangsläufig ein deutscher Autobauer sein. Aber eben nur, wenn sie weiter aufholt. Was natürlich nicht nötig gewesen wäre, wenn sie ihren anfänglichen Vorsprung genutzt hätte.
Dieser Artikel ist Teil des 1E9-Themenspecials: Fahren 2035. Wir und die Roboterautos. Alle Texte und Diskussionen und Mobilitäts-Expertinnen und -Experten aus unserer Community findest du hier!