Die Corona-Pandemie hat in den letzten zwei Jahren gezeigt, wie fragil viele Lieferketten sind. Sogar bei Nahrungsmitteln sorgt das für leere Regale und steigende Preise. Kann eine Umstrukturierung unseres Versorgungssystems Abhilfe schaffen?
Ein Gastbeitrag von Frederik Hagenauer
Europa steckt mitten in einer Versorgungskrise – globale Lieferketten stehen am Rande des Kollaps. Seit Ausbruch der Pandemie wird das ganze Ausmaß eines Problems deutlich, das Experten mehr und mehr Kopfzerbrechen bereitet. Von Beginn der Pandemie an hat die Nachfrage nach Dienstleistungen drastisch abgenommen, während die Nachfrage nach Waren enorm stieg. Dieses veränderte Kaufverhalten in Zeiten eines stark eingeschränkten Produktionsbetriebs hat für ungeahnte Lieferengpässe gesorgt – selbst bei Nahrungsmitteln, was in der Vergangenheit kaum vorkam. Die bis heute andauernde Situation macht deutlich, wie anfällig moderne Lieferketten bei Nachfrageschwankungen sind.
Noch sind die Engpässe – insbesondere in Deutschland – nicht allgegenwärtig, die aktuelle Lage zeigt aber, dass der Welthandel, auf den wir so gerne blind vertrauen, weniger verlässlich ist als angenommen. Da diese Situation Produzenten wie Konsumenten gleichermaßen betrifft, ist es dringend notwendig, die Art und Weise, wie wir Produkte beziehen und beschaffen, überdenken.
Auch entscheidende Infrastrukturen wie den Lebensmittelhandel betrifft dieses Problem, deshalb wird mehr denn je nach Lösungen gesucht, die unsere Lieferketten nicht nur widerstandsfähiger, sondern auch umweltfreundlicher und wirtschaftlicher machen. Rewe-Chef Lionel Souque sagt gegenüber der Deutschen Presseagentur kürzlich, dass der Konzern mit wachsenden Lieferproblemen zu kämpfen habe, aktuell werden weniger als 90 Prozent der bestellten Waren auch geliefert. Noch gibt es in Deutschland keine leeren Regale – ein Blick auf Großbritannien regt aber zum Nachdenken an. Aufgrund von Störungen der Lieferketten, beispielsweise durch fehlende LKW-Fahrer, kommt es in vielen britischen Supermärkten immer wieder zu leeren Regalen.
Wie könnten solche Situationen entschärft werden? Das Stichwort lautet hier: Dezentralisierung.
Die Lebensmittelproduktion muss überarbeitet werden
Will man Lieferengpässe bei Lebensmitteln vorbeugen, ist die Art und Weise, wie Waren vom Produzenten in den Handel gelangen, von essentieller Bedeutung. Insbesondere die Produktion ist stark fragmentiert. Aktuell ist der Weg vom Bauern in den Supermarkt nicht so wie man es sich vorstellt: Er erntet die Kartoffel und sie landet kurz darauf in einem Supermarkt in der Nähe. Dass der Produzent direkt in den Handel liefert, ist eher Ausnahme als Regel. Das fertige Lebensmittel wird stattdessen an viele verschiedene Einzelhändlerinnen und Lieferantinnen an verteilte Standorte transportiert. Kurzum: Die Lebensmittel durchlaufen eine Kette von Transporten an verschiedenste Orte, in verschiedene Lager um am Ende im Supermarkt zu landen.
Hier ist das Problem, dass auch durch suboptimale Kommunikation die Effizienz unter den vielen Einzelschritten leidet. Es kommt immer häufiger vor, dass multinationale Konsumgüterhersteller, um Geld zu sparen, auf einen eigenen Fuhrpark oder langfristige Verträge mit Logistikfirmen verzichten und stattdessen Transportkapazitäten kurzfristig und vor allem günstig einkaufen. Dadurch kam es häufiger zu Engpässen – auch durch das erhöhte Aufkommen an Lieferbestellungen durch die Pandemie, da so kurzfristig keine LKW verfügbar waren. Allein in Europa gibt es Millionen von Erzeugern, die ihre Produkte über den ganzen Kontinent verteilen – mit undurchsichtigen Zwischenhändlerinnen, die alle versuchen, ihre eigenen Gewinnspannen auf Kosten der Erzeugerinnen zu erhöhen. Der Preis dafür sind zum einen Ineffizienz und zum anderen der Ausstoß von vermeidbaren CO2-Emissionen. Vor Ort zu produzieren und zu liefern, würde dies mindern.
Ein Überdenken von Abläufen und das Umsetzen eines dezentralen Modells würden zum einen Kosten sparen, aber auch Wachstum generieren. Grundsätzlich meint dezentral, dass ein Unternehmen nicht ein einziges Zentrallager führt, von dem aus verschiedene Standorte beliefert werden, sondern seine Filialen so gut es geht direkt von regionalen Erzeugern beliefern lässt. Nimmt man hier wieder den Kartoffelbauern als Beispiel, würde das bedeuten, dass die Kartoffeln, die der Bauer beispielsweise in Schleswig-Holstein erntet, nicht in ein anderes Land über verschiedene Zwischenhändler geliefert werden, sondern in Schleswig Holstein gelagert und verkauft werden.
Somit lassen sich Zentrallager sowie unnötige Wege und Abhängigkeiten vermeiden. Außerdem kann so das Einkaufserlebnis der Kundinnen auf ein neues Level gehoben werden, denn auch auf Kundenseite ist das Verlangen nach Lokalem gestiegen. Angesichts einer drohenden Klimakatastrophe hat sich bei einem Teil der Verbraucherinnen ein Umweltbewusstsein entwickelt, dass sich auch maßgeblich auf ihr Konsumverhalten auswirkt.
Technologie kann helfen, lokale Erzeuger mit Einzelhändlern zu verbinden
Lokale Erzeugerinnen mit lokalen Händlerinnen verbinden. Das klingt simpler als es in der Praxis tatsächlich aussieht. Wie lassen sich dennoch dezentrale, direkte Lieferketten etablieren? Software oder Apps, die zum Austausch dienen, um Produkte, Preise, Rechnungen und Bestellungen abzugleichen, ermöglichen es, Zwischenhändlerinnen zu umgehen.
Unternehmen, die dieses Problem bereits anpacken, sind zum Beispiel foodcircle oder das Startup Hier Foods, in das Speedinvest vor kurzem investiert hat. Bei Hier Foods handelt es sich um eine App, die den gesamten Bestellvorgang von Lebensmitteln inklusive Kommunikation übernimmt. Somit wird es Händlern vereinfacht, direkt mit lokalen Herstellern zu kommunizieren und Produkte aus der Region anzubieten.
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Jetzt Mitglied werden!Das senkt nicht nur Transportkosten, sondern reduziert auch Emissionen und Abfälle. Außerdem wird der Anteil lokaler Produkte in Supermärkten erhöht. Einmal in die lokale Lebensmittelbeschaffung eingebettet, kann moderne Technologie tatsächlich neue Verbindungen zwischen Angebot und Nachfrage schaffen. Das Ziel von all dem ist letztlich, zum einen die Art und Weise wie und wo wir Lebensmittel kaufen, zu verbessern. Zum anderen kann durch kurze Lieferketten Lieferengpässen vorgebeugt werden.
Auch im Bereich der Logistik setzen Start-ups auf digitale Technologien, um die Zuverlässigkeit zu erhöhen und gleichzeitig die Komplexität zu reduzieren. Dazu gehört die Firma Forto, die eine Softwareplattform entwickelt hat, die es Unternehmen ermöglichen soll, Lieferketten durch strategische Beschaffung und Frachtweiterleitungen zu optimieren.
Widerstandsfähige Lieferketten
Eine Studie des McKinsey Global Institute legt dar, dass Krisen wie die Covid-19-Pandemie den Trend Reshoring und Nearshoring aufleben lassen. Damit ist gemeint, dass die Produktion wieder regionaler stattfindet. Die Pandemie macht nur deutlich, dass Produktionsausfälle aufgrund von Lieferengpässen Unternehmen erheblichen Schaden zufügen können. Im Schnitt treten alle 3,7 Jahre solche Produktionsausfälle aus, welche zu einem Verlust von 40 Prozent des Jahresgewinns eines Unternehmens führen können.
Somit ist die Wichtigkeit eines dezentralen Lebensmittelsystems, das die Stabilität der Lieferketten gewährleistet, nicht nur aus ökologischer, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht nicht zu unterschätzen. Ein dezentrales System ist deutlich ressourcensparender. Es braucht weniger Treibstoff, aber auch weniger Logistik – und damit weniger LKW-Fahrer, die immer knapper werden. Daher kann Technologie die Lebensmittelverteilung weniger anfällig für Schocks in der Lieferkette machen und dazu beitragen, die Ernährungssicherheit zu gewährleisten.
Klingt alles ganz gut. Aber ist das überhaupt umsetzbar? Klare Antwort: ja. Schließlich gibt es bereits einige Start-ups, die genau dieses Problem erkannt haben und an Lösungen arbeiten oder diese sogar schon anbieten.
Frederik ist Principal im SaaS Team bei Speedinvest und investiert primär in Frühphasenfirmen mit B2B-Gschäftsmodellen. Neben Lebensmitteln und Supply Chains interessiert er sich unter anderem für Dekarbonisierung und wie man Technologie verwenden kann, um die Klimakatastrophe abzuwenden. Vor seiner Zeit als Investor war er selber Gründer eines VC-finanzierten Startups im Bildungsbereich und Entrepreneur in Residence beim Londoner Company Builder Entrepreneur First.
Titelbild: Leere Supermarktregale in Großbritannien, Getty Images
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