Vernetzter EM-Ball: Dieser Technologie aus München verdankt Deutschland das Viertelfinale

Den Hand-Elfmeter im Achtelfinale gegen Dänemark hätte Deutschland vielleicht nicht bekommen, wäre der Spielball nicht mit Sensoren ausgestattet. Die Technologie stammt von der Münchner Firma Kinexon, die nicht nur im Fußball, sondern auch in der NBA führend ist – und auch die Industrie beliefert. 1E9 hat mit einem der Gründer gesprochen.

Von Wolfgang Kerler

Den Einzug ins Viertelfinale der Europameisterschaft im eigenen Land hat die deutsche Mannschaft kleinen Sensoren zu verdanken. Nur 3 Gramm wiegt die Elektronik – und sie ist verbaut im offiziellen Spielball von Adidas: „Fußballliebe“ wurde er getauft. Die Sensoren bilden das Herzstück der „Connected Ball Technology“, die erstmals bei einer EM zum Einsatz kommt.

Konkret heißt das: Die Sensoren im Ball sammeln und senden in Echtzeit präzise Daten, auf die unter anderem die Videoschiedsrichter zugreifen können. Wo auf dem Spielfeld befindet sich der Ball, mit welcher Geschwindigkeit fliegt er, wann findet ein Ballkontakt statt. Die Empfänger dafür sind rund ums Spielfeld verteilt und erinnern an WiFi-Router.

Ohne diese Sensoren wäre das Achtelfinale Deutschland-Dänemark am 29. Juni vielleicht ganz anders ausgegangen: Denn als die Hand des Dänen Joachim Andersen in der 52. Minute dem Ball nach einer Flanke von David Raum kurzzeitig sehr nahekommt, ist es für menschliche Augen kaum zu sehen, ob wirklich ein Handspiel stattgefunden hat oder nicht. Klarheit bekommt Schiedsrichter Michael Oliver erst, als er den Video-Assistenten konsultiert. Dann seine Entscheidung: Hand. Elfmeter für Deutschland. Es folgt das 1:0.

Auch das Publikum erfährt, warum so entschieden wurde: Eingeblendet werden die Daten der Sensoren in Form einer Kurve. Der Ausschlag bei der Berührung des Balls ist eindeutig zu erkennen.

Die Münchner Firma hinter den Ball-Sensoren

An die große Glocke wird es nirgends gehängt. Doch wer ein bisschen recherchiert, findet heraus, wer hinter der Sensortechnik steckt, die Deutschland das Viertelfinale rettete: Sowohl Adidas als auch der DFB nennen in ihren Pressemitteillungen zum offiziellen EM-Ball die Münchner Firma Kinexon. Und die hat in den letzten Jahren eine echte Erfolgsgeschichte geschrieben.

Alles fing an, als die späteren Gründer Oliver Trinchera und Alexander Hüttenbrink bei einem Spiel des FC Bayern an einer Führung in der Münchner Allianz Arena teilnahmen. „Damals bekamen wir als Fans ja schon Informationen darüber, wie viele Kilometer Schweinsteiger gelaufen ist, wie die Passquote war, welche Mannschaft mehr Ballbesitz hatte“, erinnert sich Oliver Trinchera im Gespräch mit 1E9. „Ich habe mich immer gefragt, wie diese Daten eigentlich entstehen.“

Die Antwort damals: mit Technologie, aber auch mit viel Handarbeit – Fehler inklusive. „Damals waren 24 HD-Kameras in der Arena installiert, deren Material in einem riesigen Serverraum zusammenlief.“ Doch, was auf dem Spielfeld tatsächlich passierte, das konnte die damalige Technik nur rudimentär automatisch verarbeiten. „Sie konnte Farbkleckse erkennen“, sagt Trinchera.

Wer welcher Spieler ist, welche Aktionen auf einem Spielfeld stattfinden können und wie sie aussehen, all das musste manuell klassifiziert werden. Mit der Maus mussten zwei Menschen damals noch den Ball auf dem Bildschirm verfolgen. Und bis alle Daten vorlagen, dauerte es acht Stunden. „Willkommen in einem High-Tech-Land!“

Die beiden Gründer, die damals noch an der Technischen Universität München promovierten, hatten eine Idee: „Die Daten haben großen Wert – nicht nur für Zuschauer, auch für Trainer und Vereine, um die Spieler besser zu trainieren und vor Verletzungen zu schützen“, sagt Trinchera. „Also wollten wir eine Möglichkeit entwickeln, Daten hochpräzise, vollautomatisiert und in Echtzeit zu erfassen.“ Das taten die beiden dann auch.

Sie gründeten ihre Firma und etablierten innerhalb weniger Jahre ein Set aus Sensoren – für Bälle, aber auch zum Tragen am Körper für Spieler – und einer eigenen Cloud-Software, die die physische Welt in einen digitalen Zwilling übersetzt und diesen mit Daten anreichern kann. Damit lassen sich in Echtzeit Analysen erstellen, so wie aktuell bei der EM, aber auch im Training. Live-Ball-Tracking in Fußball und Handball, Spieler-Belastungsanalysen, kabelloses Player-Tracking sind die Schlagworte zu den Fähigkeiten des Systems.

„Der Coach sieht, wie die Performance seiner Spieler ist: Wie gut sind die Sprints, wie gut ist die Ausdauer, läuft jemand Gefahr, eine Verletzung zu erleiden“, erklärt Trinchera. „Auch für die taktische Analyse von Spielzügen wird unsere Technologie verwendet.“ Um im Basketball Würfe auszuwerten, kommt bereits KI zum Einsatz. Außerdem stammen Informationen, die TV-Zuschauer erhalten, oft von Kinexon-Systemen.

Auch die Industrie braucht Sensor- und Echtzeitdaten

Weltweit setzen laut Firmenangaben 400 Teams auf die Technologie aus München – von den Denver Nuggets bis zu RB Leipzig. In der amerikanischen Basketball-Liga NBA liegt der Marktanteil demnach bei über 80 Prozent. Auch die großen internationalen Handball- und Fußballverbände vertrauen auf Kinexon. Eine Voraussetzung für diesen Erfolg: Die Technik wurde jahrelang erprobt und umfangreich getestet – vom Unternehmen selbst, aber auch von Partnern.

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Genau genommen besteht Kinexon inzwischen aus zwei Firmen: einerseits Kinexon Sports, andererseits Kinexon Industries. „Wir haben gemerkt, dass der digitale Zwilling und die Automatisierung von Prozessen ein sehr großes Thema in der Industrie sind“, erinnert sich Oliver Trinchera. Wo in der Fabrik befinden sich Stapler und Roboter, welche Palette muss wann von A nach B gebracht werden: „Es gab damals kein Betriebssystem, um all die beweglichen Dinge zu vernetzen und automatisch zu orchestrieren.“

Also passte das damalige Start-up seine Technologie für Industriekunden an – und zählt mittlerweile Konzerne wie BMW oder SAP zu seinen Partnern. Auch in den USA läuft das Geschäft. „Ich glaube, wir haben für den Bereich Industrial Internet-of-Things bewiesen, dass man den Spieß umdrehen kann“, sagt Trinchera. „Wir können in Deutschland durchaus Champions aufbauen, die dann auch in den USA erfolgreich sind.“

Im Fußball hat es die Technologie aus München übrigens ebenfalls an die Weltspitze geschafft. Bei der WM in Katar war sie bereits im Einsatz – hat der deutschen Nationalmannschaft damals aber nicht zu einem besseren Abschneiden verholfen.

In diesen Artikeln erfährst du mehr über den Sport der Zukunft:

Titelbild: Der offizielle EM-Spielball, Adidas

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