Diese Innovation aus Japan könnte (ungesundes) Nachsalzen von Essen überflüssig machen: Ein Getränke- und Health-Konzern und eine Uni haben gemeinsam „elektrisches Besteck“ entwickelt, das per Stromfluss Salzgeschmack simuliert. Björn Eichstädt und Camilla Shiori Oura-Müller von unserem Medienpartner J-BIG haben sich mit der Forscherin Ai Sato von KIRIN und dem Meiji-Universitäts-Professor Homei Miyashita über die Erfindung unterhalten.
Ein Interview von Björn Eichstädt und Camilla Shiori Oura-Müller
Ob im Restaurant oder zuhause – wenn beim Essen das gewisse Etwas fehlt, salzen wir gerne nach. Doch zu viel Salzkonsum kann auch gefährlich werden: das Risiko an ernährungsbedingten Krankheiten wie Bluthochdruck, Nierenerkrankungen oder Hyperlipidämie zu erkranken, steigt nämlich massiv. Und das passiert nicht nur Köchinnen und Köchen, die sich verliebt haben. Ein großer Teil unserer Gesellschaft nimmt durchschnittlich doppelt so viel Salz zu sich, wie es die Weltgesundheitsorganisation WHO als Maximum empfiehlt.
Die Situation ist in Japan ähnlich. Doch wer will schon auf leckeres Essen verzichten, nur um gesund zu leben? Das sieht der Getränke- und Health-Konzern KIRIN aus dem ostasiatischen Gourmet-Land genauso, der mit der Meiji-Universität kooperierte, um das smarte Besteck zu entwickeln.
J-BIG: Sie befassen sich mit der Entwicklung von elektrischem Besteck – begonnen hat alles mit Stäbchen. Was muss man sich unter elektrischen Stäbchen vorstellen?
Ai Sato: Unsere Geschmackswahrnehmung findet im Kopf statt – Sinneszellen innerhalb der Mundhöhle nehmen Geschmacksrichtungen wie süß, sauer, salzig, bitter und umami auf und leiten ein Signal an unser Gehirn weiter.
Die von uns zuerst entwickelten elektrischen Stäbchen funktionieren so: Das Ende der Stäbchen ist mit einem Kabel an einem Uhr-ähnlichen Gerät am Handgelenk verbunden und kommt dadurch in Kontakt mit dem Körper. Die Spitze der Stäbchen wiederum berührt den Körper, wenn das Essen in den Mund geführt wird. So schließt sich ein Stromkreis. Mit Hilfe von sehr schwacher Elektrizität, die keinerlei Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit hat, wird der Salzgeschmack an der Zunge simuliert. Dieses Geschmackserlebnis ist in vier Intensitätsstufen einstellbar.
J-BIG: Was war die ursprüngliche Idee?
Ai Sato: KIRIN begann als Brauereiunternehmen und hat sein Geschäft inzwischen auf die Bereiche Medizin und Health ausgeweitet. Wir leben in einem Zeitalter der Langlebigkeit, in dem viele Menschen über 100 Jahre alt werden. In Japan ist die durchschnittliche Lebenserwartung bereits ziemlich hoch – gleichzeitig leiden jedoch 15 Prozent der gesamten Bevölkerung an Erkrankungen, die direkt mit dem Lebensstil, wie etwa der Ernäherung, zusammenhängen.
In Japan und in anderen asiatischen Ländern ist die tägliche Salzaufnahme hoch. Sojasoßen, Misopasten und einige Reistoppings enthalten viel Salz. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO ist der maximal sinnvolle Salzkonsum etwa 5 Gramm pro Tag. Der Durchschnitt in Japan liegt jedoch bei 10,9 Gramm bei Männern und 9,3 Gramm bei Frauen, also doppelt so hoch. Bislang wurden Patienten, die an Zivilisationskrankheiten erkranken, zu einer Änderung ihrer Ernährung aufgefordert. Vielen fällt es aber nicht leicht, einen Ernährungsplan einzuhalten, der Gerichte enthält, die nicht schmecken. Also brechen sie ihren Plan ab.
In unserem Bier- und Getränkegeschäft beschäftigen wir uns schon seit vielen Jahren mit dem Thema „Genuss“ und haben uns überlegt, wie wir Technologie und unser Wissen zur Lösung dieses Problems einsetzen könnten.
J-BIG: Wie ist die Kooperation zwischen KIRIN und der Meiji Universität bei diesem Projekt entstanden?
Homei Miyashita: Die generelle Idee, den Geschmack durch elektrifiziertes Besteck wie Gabel, Messer oder Stäbchen zu steuern, war bereits 2010 Teil meiner Forschung. Im folgenden Jahr wurde die Arbeit „Augmented gustation using electricity“ veröffentlicht.
Durch die Begegnung mit KIRIN, wurde es jetzt erstmals möglich, diese Technologie in der Praxis umzusetzen und als Lösungsansatz für ein gesellschaftlichen Problem einzusetzen.
Ai Sato: Als ich und meine Kollegen vom Forschungszentrum von KIRIN nach einer konkreten Technologie suchten, fanden wir Professor Miyashita, der über mehrere Jahre an der Nutzung von Elektrizität zur Reproduktion und Übertragung von Geschmack forschte. Im Jahr 2019 begannen wir eine Kooperation mit dem Ziel, ein soziales Problem mit einer konkreten Methode zu lösen. Inzwischen sind wir an dem Punkt angekommen, dass unser gemeinsames Produkt marktreif ist und der Gesellschaft tatsächlich helfen könnte.
Homei Miyashita: Bereits im Jahr 2010 hatte ich einen einfachen Prototyp entwickelt: eine kleine Batterie, die direkt mit Besteck verbunden ist. Man merkte damit, dass sich der Geschmack verändert, aber es war noch sehr wie ein Spielzeug. Ähnliche Prototypen wurden damals über Crowdfunding verkauft. Das Produkt von KIRIN ist natürlich viel fortschrittlicher. Es wird von einem Computer gesteuert und die Wirkung ist unvergleichbar.
J-BIG: Was war besonders herausfordernd bei der Entwicklung?
Ai Sato: Bei der Software ist es wichtig, die Wellenform des elektrischen Stroms zu regulieren. Wenn ein großer Strom zur Geschmacksregulierung eingesetzt wird, kann der Benutzer ein Kribbeln oder ein leicht schmerzhaftes Gefühl empfinden. Wie man Elektrizität wahrnimmt, ist von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich. Deshalb haben wir eine Stromwellenform entwickelt, die bei möglichst geringem Reizstrom hochwirksam ist. Die wichtigsten Punkte sind die Einstellbarkeit, die hohe Wirksamkeit und der geringe Stromverbrauch.
Der erste Stäbchen-Prototyp mit Kabel und Wearable. Bild: KIRIN
Was die Hardware betrifft, so ist es wichtig, einen Stromkreis zu bilden, durch den der Strom fließt. Gleichzeitig mussten die Form des Bestecks und die Platzierung der Elektroden so gestaltet sein, dass sie leicht zu handhaben sind. Die Elektroden waren in der Regel von der Art, die wie in medizinischen Anwendungen befestigt werden, aber das war zwangsläufig schwierig zu benutzen. Deshalb haben wir dieses Mal eine Technologie entwickelt, bei der eine freiliegende Elektrode verwendet wird, die fest auf der Haut haftet und den Stromfluss ermöglicht.
Der Prototyp hat die Form eines Kabels, das das Wearable mit dem Besteck verbindet. Es gab jedoch die Meinung, dass ein Kabel die Benutzung während der Mahlzeiten erschweren würde. Daher besteht eine unserer größten Herausforderungen für die Zukunft darin, die Gebrauchstauglichkeit des Bestecks in Bezug auf die Form zu verbessern, um den täglichen Gebrauch zu erleichtern. Wie wir die Technologie kabellos machen können, ist eine der ganz großen Herausforderungen.
In einer parallelen Kundenbefragung haben wir außerdem festgestellt, dass Menschen, die sich natriumarm ernähren, mit dem leichten Geschmack von Ramen-Nudeln und -Suppen sehr unzufrieden sind. Aus diesem Grund haben wir dann auch noch elektrische Schüsseln und Löffel entwickelt. Die Schalen und Löffel werden mit eingebauten Elektroden hergestellt, und sie lösen auch das Problem des Kabels bei den elektrischen Essstäbchen.
J-BIG: Wie haben die Menschen reagiert, als sie das erste Mal das Gerät verwendet haben. Hatten sie keine Angst vor einem Stromschlag?
Ai Sato: Bei einer Befragung von 36 Personen aus der breiten Öffentlichkeit im Rahmen einer Konferenzpräsentation hatten wir den Eindruck, dass erstaunlich wenige Menschen Angst vor Elektrizität haben. In letzter Zeit wird Strom immer häufiger in verschiedenen Elektromuskelstimulationen (EMS Training) für Muskeltraining und Schönheitsbehandlungen eingesetzt. Dies hat die psychologische Hürde für die Allgemeinheit gesenkt, mit Strom in Kontakt zu kommen. Außerdem haben wir von denjenigen, die das System tatsächlich ausprobiert haben, die Rückmeldung erhalten, dass sie sich während der Anwendung sehr wohl und sicher gefühlt haben.
Wir hatten auch viele Kunden, die das Produkt direkt in Form des Prototyps kaufen wollten. Viele Menschen suchen nach Möglichkeiten, den Salzkonsum zu verringern, zumal die Japaner ohnehin schon viel Salz konsumieren. Wir planen das Produkt nicht für den medizinischen Gebrauch in Krankenhäusern zu verkaufen, sondern gleich an ein breites Spektrum von Menschen.
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Jetzt Mitglied werden!J-BIG: Ab wann und wo wird das Produkt in Zukunft verkauft?
Ai Sato: Bezüglich der elektrischen Löffel und Schüsseln führen wir momentan Demonstrationstests mit Nutzern durch, um festzustellen, ob das Produkt wirklich den Bedürfnissen entspricht. Unser Ziel ist, das elektrische Besteck nächstes Jahr auf den Markt zu bringen.
Japan ist ein Land, in dem die Esskultur einen hohen Stellenwert hat. Wir können uns also gut vorstellen, dass in Zukunft jeder von uns ein sogenanntes „Smart-Besteck“ mit sich herumtragen wird, genauso wie Smartphones oder Smartwatches. Jeder passt sich den Geschmack seines Gerichts über ein Device individuell an – so könnte das Essen in unserem Land in naher Zukunft aussehen.
Bei einigen Gelegenheiten wurden die Prototypen getestet. Bild: KIRIN
J-BIG: Herr Miyashita, bitte erzählen Sie uns noch etwas mehr über Ihr Forschungsgebiet.
Homei Miyashita: Ich betreibe umfangreiche Forschungen im Bereich der Informatik unter Verwendung von AR und VR. Computer geben normalerweise audiovisuelle Informationen aus, aber wenn ich an die Zukunft denke, bin ich motiviert, sie so weiterzuentwickeln, dass sie sogar in der Lage sind, Geschmack auszugeben. Zu den bisherigen Forschungsarbeiten zum Thema Geschmack gehören zum Beispiel „Fernseher, die schmecken, wenn man über den Bildschirm leckt“, „ein Lebensmitteldrucker, der Geschmacksrichtungen druckt und serviert“ oder „Handschuhe, die den Geschmack von Lebensmitteln verändern“ und vieles mehr.
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