Rafael Laguna soll Deutschland innovativ machen: „Billige, saubere Energie ist die Mutter aller Sprunginnovationen“

Wie kann man ein alterndes Industrieland wieder an die Weltspitze der Innovationen führen? Die Bundesagentur für Sprunginnovationen, die SPRIND, soll darauf Antworten finden. Wir haben mit ihrem Direktor, Rafael Laguna de la Vera, über den Unterschied zwischen echten Innovationen und Innovationstheater und die dringend notwendige Neuerfindung staatlicher Innovationspolitik gesprochen. Und über Wasserklosetts.

Ein Interview von Wolfgang Kerler

Für eine staatliche Agentur hat sich die SPRIND ein bemerkenswert ehrgeiziges Ziel gesetzt. Sie will „Heimat für radikale Neu:denkerinnen“ werden und Räume schaffen, „in denen Innovator:innen Risiken eingehen“. Wen und was sie damit meint, lassen die ersten von ihr geförderten Projekte erahnen: Sie unterstützt, zum Beispiel, einen sympathisch nerdigen Professor, der an einem Analogrechner arbeitet, der alle digitalen Computer übertreffen soll. An die neuartigen Windkraftanlagen eines über 90-Jährigen glaubt sie ebenfalls. Genau wie an einen vielversprechenden Wirkstoff gegen Alzheimer, ein Gerät, das Wasser ganz ohne Filter und Chemie reinigen kann, oder ein Holodeck, das virtuelle Kommunikation revolutionieren soll.

Einfach hat es die SPRIND allerdings nicht. Sie ist an gleich zwei Bundesministerien angedockt – das für Wirtschaft und das für Forschung –, was ihren bürokratischen Aufwand sicher nicht verringert. Sie verfügt über ein überschaubares Budget von 150 Millionen Euro für drei Jahre. Und sie musste sich inmitten einer globalen Pandemie formieren. Offiziell gegründet wurde sie erst im Dezember 2019. Ein paar Wochen später kam Corona. Trotzdem flatterten der Agentur bereits über 800 Projekteinreichungen herein. Immerhin 34 davon „könnten Potenzial für eine Sprunginnovation haben“, schreibt sie. Und meint damit Innovationen, die das Leben der Menschen und die Welt nachhaltig verbessern. Aufgabe der SPRIND ist es, derartige Innovationen voranzutreiben – und dafür zu sorgen, dass sie dann auch in Deutschland und Europa für Wohlstand und Arbeitsplätze sorgen.

Was macht Sprunginnovationen aus? Warum ist das Silicon Valley weniger innovativ ist, als es manchmal den Anschein hat? Wie kann Deutschland seine HIPOs, seine High Potentials, besser fördern kann? Und warum besteht gerade, weil wir es mit globalen Krisen zu tun haben, Grund für Optimismus? Alls das verrät Rafael Laguna de la Vera, der Direktor der SPRIND im Gespräch mit 1E9. Ausführlich aufgeschrieben hat er es außerdem zusammen mit Thomas Ramge im Buch Sprunginnnovation: Wie wir mit Wissenschaft und Technik die Welt wieder Balance bekommen , das in diesem Jahr erschienen ist.

1E9: In eurem Buch geht’s ums große Ganze. Ihr wollt die Welt schließlich mit Wissenschaft und Technik „wieder in Balance bekommen“. Zum Glück bleibt ihr dabei nicht permanent bierernst, sondern teilt auch weniger staatstragende Erkenntnisse. Zum Beispiel: Das Wasserklosett schlägt TikTok. Als kleinen Auftakt könntest du uns erklären, warum.

Rafael Laguna de la Vera: Im Buch versuchen wir klarzumachen, was wirkliche Innovationen sind, die uns Menschen voranbringen, und was nur Scheininnovationen sind. Ziemlich gut vermittelt das der Toilettentest, den der amerikanische Ökonom Robert Gordon regelmäßig mit seinen Studierenden macht. Dabei müssen sie sich zwischen zwei Optionen entscheiden, die ungefähr so aussehen: Wollen sie lieber einen zehn Jahre alten PC mit Windows 7, den damaligen Programmen und der damals üblichen Internetbandbreite haben – und dazu eine Toilette in ihrer Wohnung? Oder bevorzugen sie das neueste MacBook, das neueste Smartphone und Zugang zur neuesten Generation von Apps – aber dafür nur ein Plumpsklo im Hof? Die Wahl fällt fast immer auf die erste Option.

Daran kann man erkennen, dass das Wasserklosett eine echte Sprunginnovation ist, die uns Menschen unverzichtbar erscheint, während vieles von dem, was heute das Internet ausmacht, verzichtbar ist. In Bezug auf TikTok, was ja nur eine digitale Droge ist, könnte man fast noch weitergehen und sagen, dass es sich dabei um richtig übles Plattform-Business handelt, das über dunkle Wege junge Leute zum Konsum bewegen soll. Bringt uns das wirklich weiter? Ist das wirklich gut? Das ist die Frage. Klar war jedes neue Medium erstmal in der Kritik – „Fernsehen wird uns alle umbringen!“ –, aber hier erleben wir aus meiner Sicht etwas anderes. Deswegen dieser plakative Vergleich zwischen dem Wasserklosett und TikTok, der das Problem ganz gut ausdrückt.

Mit solchen Anekdoten untermauert ihr eine eher grundsätzliche These – und zwar die, dass wir vielleicht gar nicht in einer so innovativen Phase der Menschheitsgeschichte leben, wie wir meinen. Ihr sprecht sogar von einer Phase des „Innovationstheaters“, die wir erleben. Was meint ihr damit?

Rafael Laguna de la Vera: Wenn man einen einfachen Maßstab anlegen will, um echte Innovationen zu erkennen, könnte man ja postulieren, dass sie zum Wohle möglichst vieler Menschen beitragen müssen. Oder frei nach Jeremy Bentham: größtmögliches Glück für die größtmögliche Anzahl von Leuten stiften. Die im Silicon Valley gepredigten, oft libertären Plattformmodelle, fallen dann durch. Denn die sind nur gut für die Leute, die in dadurch entstehenden Monopolen und Oligopolen sitzen – und für den Rest der Welt schlecht.

Dort werden Milliarden an Venture Capital in irgendwelche Start-ups geballert, um mit Dumpingpreisen für Kunden und höherer Bezahlung für Lieferanten erst einmal alle auf die Plattformen zu locken – im Cowboy-Style und häufig unter Nichtbeachtung der lokalen Regulierung. Das hält man lange genug durch, bis die Konkurrenz platt ist. Dann dreht man den Spieß um und quetscht Kunden und Lieferanten aus.

Deswegen sind diese ganzen Dinge für uns Scheininnovationen, das Getöse darum Innovationstheater.

Klar stiften solche Modelle auch einen Nutzen, weil sie die Digitalisierung in alteingesessene, nicht allzu agile Branchen bringen – Taxis, Ferienwohnungen, Essenslieferungen und so weiter. Das ist praktisch, aber man könnte solche Dienste auch ohne diese erpresserischen Modelle machen. Deswegen sind diese ganzen Dinge für uns Scheininnovationen, das Getöse darum Innovationstheater. Wir sind aber optimistisch, dass die Zeiten sich gerade ändern…

…was wir uns für den Schluss unseres Gesprächs aufheben, damit wir ein Happy End haben! Lass uns den Scheininnovationen, über die du gerade gesprochen hast, jetzt die Sprunginnovationen entgegensetzen, für die ihr plädiert. Abgesehen vom WC: Was ist eine Sprunginnovation?

Rafael Laguna de la Vera: Wir haben eine schöne Liste der Top 50 Sprunginnovationen ins Buch aufgenommen, die 2013 im Atlantic erschienen ist. Angefangen mit dem Buchdruck über das Auto bis zum Internet und dem Smartphone. Vielleicht würde jeder ein bisschen umsortieren, aber im Großen und Ganzen wird man übereinstimmend feststellen: Ja, das sind Innovationen, die das Leben der Menschen und die Welt verändert haben. Durch die die Welt nachher nicht mehr so war, wie sie vorher war, was man zum Beispiel am steigenden Wohlstand oder an der besseren Bildung der Leute erkennen kann. In den 300 Jahren seit der Aufklärung haben wir einen wahrhaften Boom erlebt, der auf Sprunginnovationen zurückgeht.

Das Smartphone wirkt zwar noch relativ neu, ist es aber gar nicht. Das erste iPhone ist 15 Jahre her, vorher gab es schon andere Geräte. Seitdem gab es keinen Neuzugang auf der Liste. Eine eher magere Ausbeute…

Rafael Laguna de la Vera: Eine neue Sprunginnovation haben wir gerade erlebt: Die mRNA-Plattform, der wir den Corona-Impfstoff verdanken. Denn obwohl die sich selbst beschleunigende Finanzierungsmaschine im Silicon Valley, die eher zweifelhafte Innovationen in kurzer Zeit skaliert, weiterläuft, werden auch echte Innovationen finanziert. Die brauchen aber Zeit, weshalb keiner so genau hinschaut. Krisen, in denen man diese Innovationen ganz plötzlich braucht, können den Durchbruch beschleunigen. Denn dann lassen sie sich auch endlich monetarisieren. So geschehen mit der mRNA-Technologie, die über 20 Jahre lang entwickelt wurde mit der Heilung von Krebs als Ziel. Die Unternehmen haben mit Wissenschaftsfinanzierung, der DARPA und Gates Foundation und schließlich mit viel Geld von Family Offices und einer ordentlichen Portion Glück überlebt, um jetzt in der globalen Krise mit den mRNA-Impfstoffen ins Rampenlicht zu rücken.

Das klingt fast als wären Sprunginnovationen ein historischer Zufall.

Rafael Laguna de la Vera: Nein, das würde ich nicht sagen. Denn hinter den Sprunginnovationen stecken Leute, die von ihrer Idee besessen sind, die Tag und Nacht daran arbeiten, für ihre Sache brennen und nicht kaputtzukriegen sind. Bei der SPRIND nennen wir sie High Potentials oder liebevoll HIPOs. Özlem Türeci und Uğur Şahin von BioNTech gehören dazu, aber auch Ingmar Hoerr von CureVac. Solche Leute sagen, wenn sie reich werden: Prima, jetzt können wir mehr Geld in unsere Firma stecken. Was sie eigentlich interessiert, sind ihre Investitionsmöglichkeiten in ihre Vision. Diese Leute haben eine außergewöhnliche Persistenz, die sie auch Rückschläge einstecken lässt. Also kann man durchaus sagen, dass ihre Sprunginnovationen kein Zufall sind, aber wann und welche genau ist schwer vorherzusagen.

Und es kommt noch ein Faktor dazu, der kein Zufall ist: staatliche Finanzierung und ein unternehmerischer Staat. In den USA gibt es seit 1958 die DARPA, die Defense Advanced Research Projects Agency, die den Auftrag hat zu verhindern, dass die USA von technologischen Trends überrascht werden. Schon 2011 hatte die DARPA eine neue Technologie, die Nanolipide, im Gepäck, die jetzt von allen erfolgreichen mRNA-Impfstoffen verwendet wird. Damals hat die ARPA zehn Firmen abgeklappert, darunter BioNTech, Moderna und CureVac – und wer einen Scheck wollte, musste sich auch dazu verpflichten, sich mit KollegInnen und anderen Unternehmen auszutauschen.

Damit hätten wir gleich zwei Faktoren identifiziert, die uns aus der innovationsarmen Phase heraushelfen, in der wir stecken: HIPOs und der Staat. Schauen wir uns zuerst die HIPOs genauer an. Was macht diese fabelhaften Wesen aus?

Rafael Laguna de la Vera: Darauf gibt’s keine Schwarz-Weiß-Antwort. Du kannst nicht Stempel für HIPOs und Nicht-HIPOs verteilen, das ist eher ein gradueller Übergang. Aber ein paar Gemeinsamkeiten zeichnen sich schon ab. Erstens: Komplette Interessengetriebenheit, das eigene Ding umzusetzen. Es geht nur darum, die Sache, für die man brennt, auf die Straße zu bekommen. Zweitens: Jede Stunde, die sie nicht an dieser Sache arbeiten, ist für sie verschwendete Zeit. Die wollen in der Schule keine Erdkunde lernen, wenn sie das nicht interessiert. Deshalb sind HIPOs häufig auch außerhalb ihres Interessengebietes keine guten Schüler. Drittens: Sie lassen sich von Rückschlägen nicht abbringen. Zu guter Letzt: Häufig sind HIPOs Menschen, die zu bestimmten Themen, zu denen es eigentlich eine Art öffentlichen Konsens gibt, eine andere Meinung haben. Das heißt nicht, dass sie deswegen immer Recht haben. Manchmal sind sie auch ein bisschen anstrengend. Aber sie sind auf jeden Fall immer interessante Geschäftspartner.

Die gute Nachricht ist: HIPOs sind zwar seltene Wesen, aber so unendlich viele brauchen wir davon auch gar nicht.

Ist das HIPO-Dasein gottgegeben, genetisch vorbestimmt – oder können wir als Gesellschaft irgendetwas dafür tun, dass es mehr davon gibt.

Rafael Laguna de la Vera: Was ist Nature , was ist Nurture ? Was ist genetisch bestimmt, was kommt durch Umweltfaktoren? Diese Frage werden wir wohl nie abschließend beantworten können. Natürlich sind HIPOs in der Regel Menschen, die über eine überdurchschnittliche Intelligenz verfügen – über deren Messung und Aussagekraft man auch wieder streiten könnte. Also sagen wir: Sie sind mit der Fähigkeit ausgestattet, logisch denken zu können, was gerade im Bereich der Naturwissenschaften hilfreich ist.

Darüber hinaus können wir HIPOs auf jeden Fall fördern. Insbesondere, indem wir ihnen das Leben nicht noch absichtlich schwer machen. Sie müssen, zum Beispiel, in einem Elternhaus aufwachsen, das es ihnen erlaubt, neben der Spur zu laufen. Die Eltern müssen dann auch abfedern, wenn von der Schule nicht gerade positive Rückmeldungen kommen. Nicht wenige fliegen von der Schule oder brechen ihr Studium ab, ob Steve Jobs, Bill Gates oder die Gründer von Google.

Okay, gehen wir also davon aus, dass ihr einen – von Eltern und Mitmenschen bestärkten – HIPO mit einem relevanten Forschungs- oder Entwicklungsthema identifiziert habt. Dann müsste ja der „unternehmerische Staat“ ins Spiel kommen, den ihr in eurem Buch fordert. Jetzt haben wir knapp zwei Jahre Pandemie hinter uns, in denen viel darüber diskutiert wurde, wie ausgerechnet dieser Staat die Digitalisierung nicht gebacken kriegt. Wie soll der denn die wichtigen Innovationen vorantreiben?

Rafael Laguna de la Vera: Manchmal ist es schwer, nicht in Zynismus zu verfallen. Dennoch sollten wir trotzdem auch mal sagen: So schlecht ist alles auch wieder nicht. Wenn man hinter den Kulissen sieht, in welch erstarrtem System ein Kanzler und ein Kabinett arbeiten müssen, ist es erstaunlich, wie viel trotzdem funktioniert. Man muss bedenken: Wir haben seit über 75 Jahren keinen Krieg mehr – und wir wollen auf keinen Fall welche. Aber das heißt, dass der Staat sich gar nicht mit komplett neuen Strukturen rebooten, komplett neustarten konnte. Jetzt müssen wir das anders hinkriegen.

Deswegen freut es mich, dass der Begriff des Entrepreneurial State , des unternehmerischen Staats, der nicht von uns, sondern von der Ökonomin Mariana Mazzucato geprägt wurde, immer mehr Traktion findet. Und, dass man endlich damit aufhört, das alte Märchen vom Markt, der alles richtet, zu erzählen – und vom Turbokapitalismus des Silicon Valleys, der uns angeblich all diese Innovationen beschert hat. Das stimmt einfach nicht. Das Silicon Valley ist Nutznießer von Innovationen, die alle staatlich finanziert wurden. Ohne die hätte es gar kein iPhone geben können.

Und warum brauchen wir den Staat, um solche Innovationen zu finanzieren? Weil sie für private InvestorInnen zuerst überhaupt kein Business Case sind. Am Anfang sind sie meist unberechenbar. Man weiß nicht, wie viel Zeit und Geld es braucht und ob es überhaupt klappt. Diese Risiken muss der Staat ausschalten, gerade wenn es um Deep Tech geht, also forschungsintensive Technologien, zum Beispiel medizinische Wirkstoffe oder auch Raketensysteme. Dort muss der Staat eingreifen.

So ist es auch bei SpaceX von Elon Musk geschehen. Die meiste Knete dafür kam von der NASA. Auch Tesla hätte in den letzten zehn Jahren kein Geld verdient, wenn der Staat nicht den Handel mit CO2-Zertifikaten ermöglicht hätte. Der Staat muss manche Technologien einfach über das „Tal des Todes“ bringen – zwischen der abgeschlossenen Grundlagenentwicklung bis hin zur Marktreife von Produkten.

Und wie soll er das machen? Durch Subventionen? Indem der Staat als Kunde auftritt?

Rafael Laguna de la Vera: Da muss man aus allen Rohren feuern. Gerade in Deutschland und Europa wird aber die Rolle des Staats als Kunde total unterschätzt, was eine Katastrophe ist. Wir machen immer noch keinen strategischen Einkauf. In den USA ist das anders.

Gerade in Deutschland und Europa wird die Rolle des Staats als Kunde total unterschätzt.

Die DARPA hängt nicht umsonst am Verteidigungsministerium, das ein Budget von 700 Milliarden Dollar pro Jahr hat. Sie hat 3,5 Milliarden pro Jahr, die sie in die Entwicklung von Technologie investiert – also Forschungs- und Entwicklungsförderung – und sobald sich ein Produkt abzeichnet, das das Verteidigungs- oder das Energieministerium oder eine andere Behörde interessiert, wird es gekauft. Bevor es überhaupt auf dem Markt ist! Die entwickelnde Firma hat dann gleich zwei Schecks auf dem Tisch liegen: einen für die Technologieentwicklung, einen für die Bestellung. Damit wird es auch leichter, private Investoren zu gewinnen. Das Risiko, dass aus der Technologie nichts wird, wird überbrückt und es gibt erste Kunden. Genau so muss man es machen. Das ist der unternehmerische Staat.

Bei uns hapert es dabei aber nicht nur beim Einkauf. Wir vergeben auch Zuwendungen zur Entwicklung von Technologie kaum an kleine Unternehmen. Die Anträge, die gestellt werden müssen, sind viel zu komplex, Auszahlungen sind zu erratisch und es dauert viel zu lange, bis tatsächlich Geld fließt. Das ist völlige ungeeignet für junge, agile Firmen. Aber: Das alles lässt sich ja weiterentwickeln – und genau das tun wir als SPRIND auch. Bei der SPRIND Challenge zur Entwicklung antiviraler Wirkstoffe, die wir im Sommer ausgerufen haben, dauerte es vom Ende der Bewerbungsfrist im September 2021 bis zur Auszahlung der Mittel an die ausgewählten Projekte im November nur zwei Monate.

Du erwähnst immer wieder die amerikanische DARPA als Positivbeispiel. Mit einem Budget von 150 Millionen Euro für die ersten drei Jahre und eurer Positionierung unter gleich zwei Bundesministerien, dem für Wirtschaft und dem für Forschung, seid ihr noch deutlich schlechter ausgestattet als euer Vorbild. Dafür gibt’s auch immer wieder Kritik. Wie könnte die SPRIND schlagkräftiger werden?

Rafael Laguna de la Vera: Wir haben dafür verschiedene Vorschläge gemacht, die ich so zusammenfassen würde: Zum einen sollte die hoheitliche Aufgabe des Findens, Förderns und der Finanzierung von Sprunginnovationen auf die SPRIND übertragen werden, damit wir nicht mehr als Unterbeauftragte von Ministerien in Form von Verwaltungsverfahren gemanagt werden. Durch die dauert alles viel, viel länger und ist wesentlich teurer. Zum anderen brauchen wir ein mehrjähriges Budget, damit wir nicht immer vom jährlichen neuen Bundeshaushalt abhängig sind. Dadurch entstehen Limbo-Phasen, in denen keiner genau weiß, wie es danach weitergeht – worunter dann wieder die Förderung von Projekten und Zuwendungen leidet.

Darüber hinaus müssen wir unbedingt auf Bundesebene und auf Ebene der EU rechtliche Regeln ändern. Wir wählen in einem aufwendigem Prozess HIPOs mit guten Themen aus. Wenn wir ihnen dann aber Geld geben wollen, kollidieren wir mit dem Vergabe- und Beihilferecht. Theoretisch müssten wir eine europaweite Ausschreibung machen, was kompletter Stuss wäre. Es geht schließlich erstens um ganz bestimmte HIPOs und zweitens wollen wir nicht in die Welt posaunen, was wir mit ihnen vorhaben. Da geht es auch um Geheimhaltung. Geld direkt in ihre Firmen zu geben, scheitert am Beihilferecht. Hier muss sich also etwas ändern. Bis dahin können wir trotzdem einiges erreichen, aber wir müssen die Instrumente der SPRIND einfacher und agiler machen.

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Kommen wir jetzt zum versprochenen Happy End des Gesprächs. Du wolltest gleich am Anfang erklären, warum ihr bei der SPRIND optimistisch seid, dass wir die innovationsarme Zeit gerade hinter uns lassen. Warum?

Rafael Laguna de la Vera: Über einen Grund haben wir schon gesprochen. Mit der mRNA-Plattform haben wir endlich wieder ein Beispiel für gute Innovation und wirkliche Disruption, die unser aller Leben betrifft. Und sie ist nicht irgendwo entstanden, sondern zu einem Gutteil hier in Deutschland. Das ist einfach nur genial.

Außerdem bekommt die – neben der Pandemie – zweite große globale Krise immer mehr Aufmerksamkeit, die wir nur mit besserer Technologie lösen können: die Umwelt- und Klimakrise. Bei der SPRIND sehen wir gerade wahnsinnig viele Projekte, zu denen wir sagen: Wow, wenn das klappt! Und das passiert dreimal die Woche. Etliche davon beschäftigen sich mit Energie. Nehmen wir nur die Kernfusion, die gerade einen Boom erlebt. Mehr als 30 Firmen weltweit arbeiten daran, mindestens zwei davon im deutschsprachigen Raum.

Billige, saubere Energie ist die Mutter aller Sprunginnovationen. Damit löst du einen Sack voll Probleme. Deswegen müssen wir in diesem Bereich alle Chancen, die wir haben, gleichzeitig nutzen und diese Technologien entwickeln. Von der Sorte gibt’s gerade jede Menge. Das stimmt mich positiv, dass da gerade was Großes im Sinne der Menschen am Start ist.

Ganz zum Schluss ein ganz kurzer Blick in die Zukunft: Wenn du in 30 oder 40 Jahren die Leitung der SPRIND erfolgreich abgibst und dich in den Ruhestand erfolgreich verabschiedest, was wäre die Innovation, die du dann am liebsten vorangebracht hast?

Rafael Laguna de la Vera: Ich erlaube mir, zwei zu sagen. Eine davon wäre nämlich die Voraussetzung dafür, dass ich mich erst in 40 Jahren zur Ruhe setze.

Das erste wäre eben saubere Energie, die so günstig herstellbar ist, dass sich die Abrechnung nicht mehr lohnt, und die so modular ist, dass wir sie in alle Winkel der Welt bringen können, damit alle Menschen Energie im Überfluss haben. Damit kannst du saubere Luft machen, sauberes Wasser, bessere Bildung und fast alles andere. Eine Sache allerdings nicht, deswegen mein zweiter Wunsch: Medizinischer Fortschritt. Ich wünsche mir, dass wir Altern als Krankheit begreifen und diese dann heilen. So geben wir Menschen die Selbstbestimmtheit über ihr Leben. Dabei geht’s gar nicht um ewiges Leben, sondern um gesund alt werden.

Davon abgesehen sollte ich diesen Job auf keinen Fall machen, bis ich 97 bin. Aber das ist wieder eine andere Geschichte…

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Ich kannte bislang weder das Wort „Sprunginnovation“ (danke für den Erkenntismoment), noch wusste ich um die Existenz einer Bundesagentur für so etwas…
Und schon das erste Lesen der Wörter „Scheininnovationen“ und „Innovationstheater“ hat zu einer Art angenehmen Erdung geführt, entlarvend und beruhigend, ein Augenöffner mit dem Grundgefühl von „ich hab´s doch geahnt“.
Schätze, für solche Artikel bin ich hier gelandet - wundere mich aber auch etwas über die fehlende Resonanz auf diese schöne Horizonterweiterung.
Oder bin ich mal wieder verpeilt und das Gespräch spielt sich woanders ab?

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Ja, ich möchte Dank sagen für diesen Artikel! Er behandelt ein Thema, dessen Wortschöpfungen im Artikel mir auch nicht bekannt waren, aber die Schübe in der menschlichen Entwicklung durch Innovationen sind doch bewußt. „Not macht erfinderisch“ heißt es so schön. Besser die Menschheit erkennt die aufziehenden Gewitter, bevor die Not eintritt. Beim Klimawandel wissen wir es schon lange und sind trotzdem nicht konsequent eingestiegen. Die Folgen, solange woanders, werden aus dem „Jetzt“ von den meisten ausgeblendet. Auch DARPA und SPRIND und ihre Funktionen waren keine Begriffe für mich, verbreitete Information darüber wünschenswert. Ich muss gestehen, dass ich durch den Begriff „Wasserklosett“ neugierig geworden bin. Braucht das uns beliebte WC nicht eine Sprunginnovation. Unser Trinkwasser gehört zu dem Besten der Erde und der Großteil dieser Erde hat keine vergleichbare Qualität zum Trinken. Wir benutzen aber diese Qualität, unsere „Abgaben“ wegzuspülen. Hier habe ich mich schon öfter gefragt, geht das nicht anders (kein Plumsklo)! Sicher wird dieses Wasser bei uns recht gut zurückgewonnen, doch ist es durch Hormone, Mikroplastik u.ä. weit weg vom Urzustand.

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Das ist genial denn es hebelt 2 der größten Probleme für Investoren hier in Europa sofort aus: CAPEX intensive Technologieentwicklung und Validierung eines neuen Marktpotentials (bzw Relevanz eines noch nicht im Markt existierenden Problems).

Was ich aber nur schwer nachvollziehen kann: Warum wird im Kontext des Energieproblems ständig von Kern-Fusion gesprochen. Klar ist es cool. Der reine Wille eines oder von 30 HIPOs wird die Gesetze der Physik aber nicht verbiegen können. Darüber hinaus gibt es doch so enorm viele spannende Möglichkeiten Energie zu speichern, erneuerbar von Sonne / Wasser / Wind aus der Erdwärme schon jetzt zu erzeugen, dass ich mich Frage ob nicht eine einfache „Innovation“ wie das Klo, das von draußen nach drinnen gewandert ist hier schon ausreichen würde. Also einfach massiv dezentral erzeugen, speichern und verbrauchen und smarte Geschäftsmodelle Modelle finden das zu finanzieren, bzw zu katalysieren!

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Tolles Interview, hat mich auch sofort motiviert, das Buch zu bestellen…Danke! Und der Begriff „Innovationstheater“ fasst griffig, was ich seit längerem so im Hinterkopf habe.

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