Kaum ein Tag, an dem nicht irgendein technologischer Durchbruch vermeldet wird. Aber welche Trends werden in diesem Jahr besonders wichtig? Genau das haben wir die Mitglieder der 1E9-Community gefragt und darüber abstimmen lassen. Herausgekommen sind diese fünf Entwicklungen: mRNA-Wirkstoffe, Batterien aus Deutschland, 3D-Drucker, Quantencomputer sowie Wasserstoff und Solar für die Energiewende.
Von Wolfgang Kerler und Michael Förtsch
Die Corona-Impfung war nur der Anfang: die mRNA-Revolution
Viele sehen in der mRNA-Technologie, der wir die ersten Impfstoffe gegen COVID-19 verdanken, auch die erste wirklich bahnbrechende Innovation seit Jahren. So zum Beispiel Rafael Laguna de la Vera, der Direktor der Bundesagentur für Sprunginnovation. Denn die Vakzine von BioNTech und Moderna dürften nur der Beginn einer medizinischen Revolution sein. An deren Ende könnten Krankheiten besiegt sein, gegen die es bisher keine wirksamen Impfungen oder Therapien gibt.
Grob vereinfacht handelt es sich bei mRNA um ein Biomolekül, das die „Bauanleitung“ für Proteine zwischen der DNA und den Proteinfabriken der Zellen transportiert. Mit mRNA kann man Zellen also den Auftrag geben, bestimmte Proteine zu produzieren. Nach jahrzehntelanger Forschung klappt das auch mit künstlicher mRNA. Bei der COVID-19-Impfung geht es dabei um das Spike-Protein des Coronavirus. Wird das von körpereigenen Zellen produziert, kann das Immunsystem dagegen Antikörper bilden.
Bei BioNTech führt der Erfolg des COVID-19-Impfstoffs auch dazu, dass die Mainzer Firma ein anderes Ziel mit noch mehr Nachdruck verfolgen kann: Vakzine und Therapien gegen Krebs. „Das war und ist immer noch unsere ursprüngliche Vision“, sagte Özlem Türeci, Mitgründerin von BioNTech, bei der 1E9-Konferenz im November 2021.
Eine ganze Reihe an Wirkstoffen gegen Krebs sind aktuell in der Produkt-Pipeline von BioNTech aufgelistet. Mehrere Impfstoffe, darunter einer gegen Schwarzen Hautkrebs, befinden sich bereits in der zweiten von drei klinischen Studienphasen. „In drei, vier oder fünf Jahren“, sagt Özlem Türeci, könnten die ersten Präparate zugelassen werden. Neben Krebs nimmt BioNTech mit mRNA auch Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose und andere Infektionen ins Visier, darunter HIV und Tuberkulose. Die erste klinische Studie eines Malaria-Impfstoffes will BioNTech Ende 2022 beginnen.
Vor wenigen Tagen startete der amerikanische mRNA-Vorreiter Moderna eine Phase-I-Studie zur Erprobung einer HIV-Impfung. Zwar gibt es inzwischen wirksame Medikamente, die nicht nur den Ausbruch von AIDS, sondern auch die Übertragung des Virus verhindern. Doch ein Impfstoff fehlt. Neben der HIV-Impfung arbeitet Moderna auch an Vakzinen gegen andere Viren, zum Beispiel Zika oder Epstein-Barr, den Erreger des Pfeifferschen-Drüsenfiebers. Schon in eine Phase-III-Studie hat es die Impfung gegen das Zytomegalievirus geschafft, das bei Babys zu Beginn der Schwangerschaft schwere dauerhafte Schädigungen verursachen kann.
Auch andere Firmen, darunter CureVac aus Deutschland, treiben die mRNA-Technologie voran. Dass es dabei in allen Fällen Fortschritte innerhalb von Monaten gibt – so wie beim COVID-19-Impfstoff – sollten wir jedoch nicht erwarten.
Batterien aus Deutschland: Jetzt also doch!
Als Daimler im Jahr 2015 die einzige deutsche Fabrik schloss, die Batterien für Elektrofahrzeuge herstellen konnte, schien die Haltung von Deutschlands Leitindustrie klar: Wer E-Autos baut, kann sich die Batterien dafür günstig bei asiatischen Zulieferern kaufen. Wozu eigene Werke?
Inzwischen hat sich der Wind gedreht. Die deutsche Industrie hat Angst vor Abhängigkeiten und Lieferengpässen – und will sich das Milliardengeschäft mit Energiespeichern nicht entgehen lassen. Überall im Land werden also Batteriefabriken gebaut, bei denen Autobauer oft direkt oder indirekt involviert sind.
Nur drei Beispiele: In diesem Jahr will der chinesische CATL-Konzern, an dem über ein Joint Venture auch BMW beteiligt ist, sein Werk bei Erfurt eröffnen. In Kaiserslautern investieren der Opel-Mutterkonzern Stellantis, Daimler und der Energiekonzern Total in eine Fabrik, die ab 2023 Batteriezellen liefern soll. Und Volkswagen will an seinem Standort Salzgitter, dessen Herz derzeit noch ein Werk für Verbrennungsmotoren ist, zusammen mit Bosch ab 2024 Batterien bauen.
Außerdem entsteht in Grünheide, Brandenburg, natürlich nicht nur eine Autofabrik von Tesla. Auch Batterien will der amerikanische E-Auto-Pionier dort produzieren. Angesichts all dieser Projekte dürfte Deutschland, so erwarten es viele, zum Zentrum der europäischen Batterieindustrie werden. Bis 2030 könnte sich der Kontinent selbst versorgen – mit der Hälfte der Produktion in Deutschland.
Bei fast allen im Bau befindlichen Projekten geht es noch um die Herstellung der derzeit üblichen Lithium-Ionen-Akkus. Doch die sind längst nicht perfekt: Der Bedarf an problematischen Rohstoffen ist hoch. Die Energiedichte noch zu gering. Ladezeiten dafür zu hoch. Klar ist also, es braucht eine neue Generation von Batterien – und bei der möchten deutsche Unternehmen von vornherein dabei sein.
So hat sich Porsche mit dem Itzehoer Batterie-Start-up Customcells zusammengetan, um in Baden-Württemberg Hochleistungs-Lithium-Ionen-Batterien zu bauen, die auf Anoden aus Silizium setzen. Sie sollen weniger Rohstoffe brauchen, dennoch die Energiedichte enorm steigern und die Ladezeit verkürzen. Derweil investieren Volkswagen in ausländische Firmen, die an Feststoffbatterien arbeiten – in QuantumScape beziehungsweise Prologium. Und das deutsch-estnische Start-up Skeleton, das an einer neuartigen Superbatterie arbeitet, konnte sich Anfang 2022 weitere Millionen von Investoren sichern.
Ach ja, das australisch-deutsche Start-up Vulcan Energy plant hierzulande sogar die Lithium-Ionen-Förderung im großen Stil – per Geothermie-Bohrungen.
Bau, Raumfahrt, Medizin, Essen oder Mobilität: 3D-Drucker erobern viele Branchen
In den vergangenen Jahren hat sich im 3D-Druck einiges getan. Es wurde viel experimentiert und mehrfach bewiesen, dass 3D-Druck klassische Fertigungs- und Baukonzepte bereichern oder sogar ersetzen kann. Erst im vergangenen Jahr ist die erste amerikanische Familie in ein mehrheitlich mittels 3D-Druck gebautes Haus eingezogen. Und das Unternehmen, das das erste vollständig im 3D-Druck gebaute Haus in Deutschland errichtet hat, hat jetzt ein Tochterunternehmen für Gebäudedruck gegründet, das in bereits in diesem Jahr das nächste 3D-Druck-Haus hochziehen will.
Aber natürlich kommen nicht nur Häuser aus dem 3D-Drucker. Das Unternehmen Relativity Space, zum Beispiel, will 2022 die erste Rakete mit einem Motor aus dem 3D-Drucker starten – und damit eine Revolution anstoßen. Denn das könnte die Preise für Raketenantriebe dramatisch senken und den Zugang zum Weltraum noch günstiger machen.
In der Medizin spielen 3D-Drucker auch eine immer wichtigere Rolle. So vermarktet das Münchner Start-up Kumovis einen 3D-Drucker für Medizinprodukte und Implantate, der den Reinraum schon integriert hat. Und das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt ließ den Astronauten Matthias Maurer auf der ISS gerade einen handlichen Biotinten-3D-Drucker testen, der ein bisschen wie eine Pistole aussieht. Mit diesem Bioprint FirstAid sollen sich auf Hautverletzungen Gewebestrukturen aus eigenen Zellen der Betroffenen auftragen lassen. Das Ziel: schnellere Wundheilung.
Auch im Alltag vieler Menschen könnte 3D-Druck schon in diesem Jahr präsenter werden – selbst, wenn sie nichts davon merken. Unter anderem hat das Start-up Redefine Meat damit begonnen, mittels 3D-Druck gefertigtes „Fleisch“ auf Pflanzenbasis in ersten Restaurants in Europa anzubieten. Restaurants in Deutschland sollen es laut dem Start-up ebenfalls „bald“ auf der Speisekarte führen. Auch der Geflügel-Frittierer KFC interessiert sich für 3D-Druck und arbeitet mit einem russischen Unternehmen, das Chicken Nuggets aus gezüchtetem Kulturfleisch drucken will.
Fahrrad- und Autobauer wollen in Zukunft noch stärker auf 3D-Druck-Teile setzen, um weniger von Zulieferern abhängig zu sein. Die Hochschule Eslohe will 3D-Druck auf den Stundenplan setzen. Und selbst Ikea steigt in den 3D-Druck ein. Unter dem Namen Flamträd sind beispielsweise ein Deko-Kopf, der als Kopfhörer-Halter dienen kann, Hände und eine Gesichtsmaske im deutschen Online-Shop zu bekommen – allesamt stammen sie aus Industrie-3D-Druckern.
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Jetzt Mitglied werden!Quantencomputer: Doppelt so viel Qubits und Milliardeninvestitionen
Das Potential von Quantencomputern ist riesig. Sie setzen nicht auf „normale“ Bits, die nur die Werte 0 oder 1 annehmen können, sondern auf Qubits. Und die können 0 und 1 und jeglichen Überlagerungszustand dazwischen darstellen – und sich zusätzlich auf „spukhafte“ Weise, wie Einstein sagte, miteinander verschränken. In der Theorie lässt sich damit eine Rechenleistung erzielen, die heutige Supercomputer in den Schatten stellt – und die Entwicklung neuer Medikamente und Materialien oder die Lösung von komplexen Optimierungsproblemen ermöglicht.
Abseits von einzelnen experimentellen Setups konnte diese „Quantenüberlegenheit“ aber noch nicht erzielt werden. Quantencomputer verfügen noch über zu wenig Qubits und machen zu viele Fehler. Es wäre deshalb „ziemlich schockierend“, wenn Quantencomputer schon 2022 ein nützliches Problem lösen könnten, meint daher der amerikanische Forscher Scott Aaronson von der University of Texas. Zumindest in Bezug auf general purpose Quantencomputer, die nicht für einen ganz spezifischen Anwendungsfall konstruiert wurden.
Auch die Fachleute der Beratungsfirma Deloitte prophezeien, dass in diesem Jahr „weniger als ein Dutzend Firmen weltweit Quantencomputer in ihrem Tagesgeschäft einsetzen“ dürften. Gleichzeitig erwarten sie 2022 große Fortschritte in der Branche: Investitionen von fünf Milliarden Dollar und eine Verdoppelung der Qubits in den Quantenprozessoren. Vielleicht geht sogar noch mehr. Nachdem IBM im November 2021 seinen Eagle getauften Quantencomputer mit 127 Qubits vorstellte, soll dieses Jahr laut der Roadmap des Konzerns mit Osprey ein System mit 433 Qubits folgen. Und auch wenn es für den oben erwähnten Allzweck-Quantencomputer ein Vielfaches an Qubits brauchen dürfte, setzen nicht nur große Player wie IQM, sondern auch europäische Start-ups wie IQM oder Qu&Co auf Quantenprozessoren für ganz bestimmte Anwendungen. Die könnten schon deutliche schneller nützlich werden.
Allein seit Mitte Januar wurden neue – und für Nicht-Quantenphysiker mal mehr und mal weniger nachvollziehbare – Durchbrüche und Meilensteine vermeldet, die exemplarisch zeigen, wie schnell die Entwicklung voranschreitet. Am 17. Januar wurde am Forschungszentrum Jülich ein 5.000-Qubit-Quantenannealer – Achtung, kompliziert: nicht zu verwechseln mit den „echten“ Quantenrechnern von IBM oder Google – in Betrieb genommen. Am 19. Januar vermeldeten Forschungsteams aus den Niederlanden, Japan und Australien, dass sie siliziumbasierte Quantensysteme konstruiert haben, deren Zuverlässigkeit bei über 99 Prozent lag. Und am 28. Januar wurde in München das Munich Quantum Valley gegründet, ein Zusammenschluss verschiedener Universitäten und Forschungseinrichtungen, dessen Ziel ein Quantencomputer „Made in Bavaria“ ist.
Solarkraft und Wasserstoff: Mehr Tempo bei der Energiewende
Um die schlimmsten Folgen des Klimawandels abzuwenden, muss die Energiewende gelingen. Dazu dürften zwei Technologien einen wesentlichen Beitrag leisten: Solarkraft und Wasserstoff. Wie sich in den vergangenen Jahren zeigte, schlummert in der Solarenergie ein vielfach verstecktes Potential. Solarpaneele können nicht nur als Solarfarmen auf Feldern und Aufbauten auf Dächern elektrischen Strom liefern. Neue Herstellungsprozesse ermöglichen transparente Zellen, die Wolkenkratzer mit ihren riesigen Fensterflächen in Kraftwerke verwandeln können.
Das Start-up Ubiquitous Energy hat bereits Fenster der Michigan State University mit solchen Zellen ausgestattet und will Mitte 2022 die Ergebnisse des Testbetriebs veröffentlichen. Auch sollen in diesem Jahr die ersten echten Solar-PKW auf den Marktkommen. Fahrzeuge wie der Lightyear One verfügen über genügend Zellen, um sich selbst zu laden und können dadurch das Stromnetz entlasten oder sogar stützen.
Elektrischer Strom aus sauberen Quellen genügt aber nicht, um die Energiewende zu stemmen. Die grüne Energie muss auch gespeichert und gelagert werden. Batterien? Klar, das ist eine Möglichkeit. Eine weitere und sehr wichtige ist Wasserstoff, der in großen Mengen ökologisch produziert und sauber verbrannt werden kann. In diesem Jahr sollen die Weichen für zahlreiche „grüne“ Wasserstofffabriken gestellt werden – sowohl in Deutschland als auch dem Rest der Welt.
Deren Erzeugnisse sollen auch in so manchen Tank fließen. Nicht unbedingt den von PKWs, die zukünftig wohl mehrheitlich von Batterien getrieben werden, aber in den von Bussen – wie sie 2022 in Oldenburg erprobt werden sollen. Und auch Wasserstoff-LKW sollen in diesem Jahr über die deutschen Straßen rollen, das plant zumindest der Fahrzeugumrüster Quantron. Ebenso soll ein Pilotprojekt starten, das beweisen könnte, dass Wasserstoff taugt, um selbst energieintensive und sonst sehr dreckige Industrien wie die Stahlherstellung zu befeuern.
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