Wie sieht die Zukunft interaktiver Unterhaltung aus? Die US-Firma Genvid Technologies hat dafür eine Antwort: wie eine Mischung aus Fernsehen und Games. „MILE“ heißt ihr Konzept, das ein wichtiger Bestandteil des Metaversums werden soll. Was steckt dahinter? Und was hat das mit Pokémon zu tun?
Von Achim Fehrenbach
Das Ganze dauerte exakt 16 Tage, sieben Stunden und 45 Minuten. Dann, am 1. März 2014, hatten hunderttausende Gamer über die Livestreaming-Plattform Twitch gemeinsam den Game-Boy-Titel Pokémon Red durchgespielt – die Einzelspieler-Kampagne, wohlgemerkt. Möglich war die Twitch Plays Pokémon getaufte Aktion nur, weil ein australischer Streamer die technischen Voraussetzungen dafur schuf. Im Chat von Twitch konnten User verschiedene Steuerbefehle posten, nämlich „up“, „down“, „left“, „right“, „a“, „b“ oder „start“; ein IRC-Bot übersetzte die Kommandos dann so, dass der Game-Boy-Emulator VisualBoyAdvance damit etwas anfangen konnte. Währenddessen konnten die User den Spielfortschritt im Stream verfolgen – und auch die Eingaben aller anderen User im Chat sehen.
An den 16 Spieltagen wurden insgesamt 122 Millionen Steuerbefehle gepostet, 1,16 Millionen Twitch-User nahmen aktiv teil – und 80.000 verfolgten durchschnittlich den Stream. Nach einer knappen Woche wurde sogar noch ein Tool eingeführt, dass die User entscheiden ließ, ob die eingegebenen Befehle im Anarchie-Modus unverzüglich umgesetzt werden sollen – oder im Demokratie-Modus erst nach einer Abstimmung darüber. Twitch Plays Pokémon erhielt große Aufmerksamkeit, die Medien bezeichneten es wahlweise als „soziales Experiment“, „wunderschönes Chaos“ oder „Autounfall in Zeitlupe“. Eines war jedenfalls klar: Ein interaktives Event dieser Größenordnung hatte es davor noch nie gegeben.
Wenn Chris Cataldi heute über Twitch Plays Pokémon spricht, ist seine Begeisterung spürbar. „Das war ein neues Spielerlebnis, bei dem ein Millionenpublikum gemeinsam ein Game in Echtzeit via Livestream spielt“, sagt der COO des Start-ups Genvid Technologies im Interview. In den Jahren 2015 und 2016 arbeiteten Cataldi und seine Kollegen Jacob Navok, Fabien Niñoles und Jocelyn Houle für Shinra Technologies, die Cloud-Gaming-Tochter von Square Enix. Sie dachten viel über ein mögliches Alleinstellungsmerkmal von Games in der Cloud nach, die direkt im Internet gespielt werden können.
„Wir entwickelten die Idee, dass ZuschauerInnen, die nicht selbst spielen, als Kundschaft von zentraler Bedeutung sein könnten“, so Catali. Twitch Plays Pokémon sei da eine große Inspiration gewesen: „Uns wurde klar, dass es noch eine andere Möglichkeit gab, die Leistungsfähigkeit der Cloud zu nutzen und dadurch fesselnde, unterhaltsame Erlebnisse zu erschaffen – ohne Software-Download und Installation seitens der User.“ Die passende Übertragungstechnologie würde solche Experiences auf nahezu jedem Endgerät nutzbar machen. Dadurch könnte ein riesiges Publikum erreicht werden. „So wurde das MILE-Konzept geboren“, erinnert sich Catali. Als Shinra dann allerdings mangels Investoren von Square Enix aufgelöst wurde, gründeten Cataldi und Co. ihr eigenes Unternehmen: Genvid Technologies. Das hat seitdem weit über 100 Millionen US-Dollar an Investitionen eingesammelt – und bereits mehrere MILE-Projekte auf den Weg gebracht. Aber was sind überhaupt „MILEs“?
„Man kann direkt reinspringen und losspielen“
Nun, die Abkürzung steht für „Massive Interactive Live Events“. Also cloud-basierte Live-Übertragungen, bei denen beliebig große Zielgruppen mit dem gestreamten Content interagieren können. „MILES unterscheiden sich von herkömmlichen Videospielen in vielerlei Hinsicht“, erläutert Cataldi. „Zum Beispiel gibt es keinerlei Downloads oder Installationen. Man kann direkt reinspringen und losspielen, Updates werden sofort wirksam. Außerdem hat man flüssiges Video und Gameplay – und zwar auf jedem Gerät, das Videostreams über eine einfache 3G-Verbindung beherrscht.“ Das Entscheidende: Alle User haben das exakt gleiche Spielerlebnis. „Es ist also nicht wie bei einem Live-Konzert in Fortnite , das sich zwar wie eine riesige kollektive Erfahrung anfühlt, jedoch auf viele Shards verteilt ist“, so Cataldi. Außerdem beeinflusst der Input jedes einzelnen Users, was alle sehen und erleben – ähnlich wie beim Vorbild Twitch Plays Pokémon . „MILES sind immersive, geteilte, alternative Realitäten, für die man kein Headset braucht“, fasst der Genvid-COO zusammen. „Außerdem sind sie weniger zeit- und aufmerksamkeitsintensiv als herkömmliche Videospiele.“
Das erste MILE, das Genvid schuf, hieß Rival Peak . Die animierte, interaktive Reality-Show mit virtuellen TeilnehmerInnen lief von Dezember 2020 bis März 2021 bei Facebook Originals – und zwar rund um die Uhr. Rival Peak funktionierte folgendermaßen: Die zwölf KI-gesteuerten Avatare der Show wurde in einem Waldgebiet des Pazifischen Nordwesten ausgesetzt, am Fuß eines mysteriösen Berges, dessen Geheimnis es zu lüften galt. Am Ende jeder Woche musste diejenige KI-Figur die Show verlassen, mit der das Publikum am wenigsten interagiert hatte. Facebook-User konnten im Live-Stream jederzeit zwischen den Figuren hin- und herschalten, um deren Aktivitäten zu verfolgen.
Die Interaktionsmöglichkeiten waren vielfältig: User unterstützten einzelne Figuren – durch die Vergabe von Energiepunkten – bei täglichen Survival-Aufgaben, etwa beim Holzhacken, Feuermachen oder Sammeln von Nahrung. Sie halfen den Figuren auch per Abstimmung, bestimmte Entscheidungen zu treffen – etwa, ob sie anderen KI-KollegInnen ihre „Gefühle“ offenbaren sollten oder nicht. Darüber hinaus konnten die User auch über Rätsel lösen und über Rahmenbedingungen wie das Wetter am Folgetag abstimmen. Die wichtigsten Ereignisse jeder Woche rekapitulierte eine Begleit-Show namens Rival Speak , die vom Schauspieler Wil Wheaton gehostet wurde. Wer die Premiere von Rival Peak verpasst hat, kann die Ereignisse in einem Wiederholungsmodus hier nachträglich miterleben.
Der KI beim Holzhacken helfen: Ist das reizvoll?
Nun stellen sich natürlich gleich mehrere Fragen. Erstens: Was ist so reizvoll daran, KI-Figuren beim Überleben in der virtuellen Wildnis zu unterstützen? Zweitens: Inwieweit dient Rival Peak als Startpunkt für weitere, womöglich viel ausgefeiltere MILEs? Und drittens: Was hat das Ganze mit einem – wie auch immer gearteten – Metaversum zu tun?
Frage 1 lässt sich nicht allgemein beantworten. Schließlich sind die Spielegeschmäcker höchst unterschiedlich. Ob Rival Peak überhaupt ein Spiel im engeren Sinne ist, ließe sich ebenfalls ausführlich diskutieren. Klar, man kann die Handlung durch Punktevergabe und Abstimmungen beeinflussen, allerdings auch nur mittelbar – denn letztlich zählen die kumulierten Entscheidungen einer großen User-Masse. Vor allem aber läuft die Show auch dann weiter, wenn man sich tage- oder wochenlang ausklinkt. Das Ganze wirkt wie eine Mischung aus Big Brother , Lost und Casual-Gaming-Elementen.
Inhaltliche Spannung erwächst zum einen daraus, wie die KI-Figuren ungeskriptet miteinander interagieren – also welche Geschichten dabei live entstehen. Zum anderen ist es durchaus faszinierend, wie aus den kumulierten User-Aktionen so etwas wie eine Schwarmintelligenz (oder auch das Gegenteil davon) entsteht – und wie man sich selbst in dieser Willensbildung verortet. Bei Twitch Plays Pokémon war das Überraschende, dass das Spiel tatsächlich durchgespielt werden konnte – trotz kakophoner Eingaben, konzertierter Sabotage-Akte und unzähliger Rückschläge. An Rival Peak überraschte dann, dass das Crowd Gaming eine dramaturgisch akzeptable Handlung produzierte. Die allerdings auch sehr geschickt in Rival Speak nachbereitet wurde. Zu Beginn der Show war das User-Interesse noch verhalten, wuchs dann aber immer rasanter – am Ende der drei Monate hatte der Livestream mehr als 100 Millionen Viewer-Minuten angehäuft.
In puncto Interaktivität unterscheidet sich Rival Peak deutlich von den digitalen Parallelwelten, die derzeit heftig expandieren – ob das nun Fortnite , Roblox , Dual Universe oder VRChat ist. In allen diesen Welten können User direkt miteinander interagieren, Inhalte selbst erschaffen und teils auch mit ihnen Handel treiben. Das klingt zunächst irgendwie spannender als ein vor sich hin laufendes Live-Event, das sich nur mittelbar beeinflussen lässt. Und doch sollte man dessen Anziehungskraft nicht unterschätzen: Rival Peak ist so etwas wie ein digitales Zierfisch-Aquarium, um das man sich nach Lust und Laune versammeln kann – ohne den permanenten Schaffens- und Kommunikationsdruck, der von den oben genannten Welten ausgeht. Diese legere Unverbindlichkeit kann in Zeiten knapper Aufmerksamkeit eine große Faszination ausüben – auch deshalb, weil der Einstieg überaus niedrigschwellig ist.
Kollektiver Horror im Wald – mit ausgefeilterer Interaktion
Das soll jetzt aber nicht heißen, dass Rival Peak das MILE-Konzept schon ausschöpfen würde. Für das Team von Genvid war es vor allem ein Testballon für nachfolgende Projekte und ein Belastungstest für die zugrunde liegende Server-Technologie. Das Unternehmen will nämlich nicht nur eigene MILEs entwickeln, sondern auch Software Development Kits, also eine Entwicklungsplattform zur Verfügung stellen, mit denen jeder einen interaktiven Livestream für Millionen User anbieten kann.
Was inhaltlich noch möglich ist, hat Genvid mit Project Raven angedeutet. „Project Raven ist ein Prototyp, der zeigt, wie zukünftige MILEs aussehen und sich anfühlen werden“, sagt Chris Cataldi. „Er versetzt eine Gruppe Teenager in die bewährte Horrorkulisse einer alten Hütte, die tief in einem gruseligen Wald steht, in dem überall Monster lauern. Die ZuschauerInnen können wählen, ob sie den Teenagern helfen möchten – oder sie terrorisieren, indem sie den Monstern helfen.“ Project Raven wirkt deutlich polierter als Rival Peak – mit realistischer aussehenden Charakteren und auch deutlich mehr Interaktion. Cataldi betont, dass Project Raven sich inhaltlich noch stark verändern könnte, falls es denn tatsächlich umgesetzt würde. In diesem Fall werde man es auf eine bestehende IP aufbauen, „also mit einer Welt und mit Charakteren, die einem bekannten Film-, Fernseh-, Comic- oder Computerspiel-Franchise entstammen, das eine große, bereits bestehende Fan-Base hat“.
Mit seinem Konzept-Trailer erinnert Project Raven ein wenig an das Horrorspiel Until Dawn. Auch da geht es darum, die Geschicke verschiedener Charaktere zu beeinflussen, die sich in einer einsamen Jagdhütte in den Bergen versammelt haben. Until Dawn ist allerdings ein klassisches Solo-Spiel, während Project Raven – zumindest nach bisherigem Wissensstand – das Crowd-Gaming von Rival Peak ausbaut. Dramaturgisch könnte Project Raven natürlich auch noch andere Akzente setzen – zum Beispiel dann, wenn die Crowd unter Zeitdruck darüber entscheidet, ob eine Figur in den monsterverseuchten Wald geschickt wird.
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Jetzt Mitglied werden!Das erinnert dann an Experimente aus den Neunzigern, als das Kinopublikum per Button am Kinosessel über den Fortgang der Handlung entscheiden konnte. Computerspiele wie Game of Thrones von Telltale Games, Heavy Rain oder Late Shift setzen ebenfalls auf verzweigte Handlungsstränge, allerdings nur im Solo-Modus. Lediglich bei Telltale kann man im Nachhinein die eigenen Entscheidungen mit der Globalstatistik vergleichen. 2018 sorgte Netflix mit Black Mirror: Bandersnatch für Aufsehen – vor allem deshalb, weil es auf Videostreaming-Plattformen zuvor noch keine Story-Interaktion gegeben hatte. Aber auch Bandersnatch war, obgleich es aus der Cloud kam, letztendlich ein Solo-Erlebnis. Die Beispiele zeigen: MILEs etablieren eine neue Entertainment-Kategorie, die Einzel- und Gruppenerfahrung gleichzeitig ist.
Werbetafeln als Gaming-Monitore
Um die obige Frage 2 zu beantworten, ob Rival Peak nur der Anfang ist: Ja, denn das Potenzial der MILEs ist noch lange nicht ausgeschöpft – und zwar für verschiedene Weiterentwicklungen. Zuletzt brachte Genvid etwa zwei Projekte an den Start, die nicht story-lastig sind, sondern den Event- und Community-Charakter der Technologie unterstreichen. Das eine war Project Monarch : Am 8. und 9. September konnten Passanten am New Yorker Times Square auf einer riesigen Reklametafel das Koop-Game Bake 'n Switch spielen: Um spontan teilzunehmen, musste man nur mit dem Smartphone den QR-Code von der Reklametafel scannen und sich in den nahen 5G-Hotspot einloggen. Das andere Projekt heißt Pac-Man Community und ist gerade erst auf Facebook Originals gestartet: User können dort nicht nur im Koop-Modus Pac-Man spielen und Level selbst entwerfen, sondern auch KI-Matches verfolgen und Streamern beim Spielen zuschauen. Die Casual-Lastigkeit dieser beiden Projekte sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch sie die MILE-typischen Elemente integrieren: nämlich Livestreaming, Interaktivität und Crowd-Gefühl.
Auch für den E-Sport eröffnen MILEs neue Möglichkeiten. Was Online-Turnieren derzeit noch fehlt, ist die Stadion-Atmosphäre physischer Events. Sobald aber Feedback-Kanäle eingezogen werden, in denen Fans ihre Lieblingsteams anfeuern können, ist bei Online-Turnieren sogar so etwas wie ein „Heimvorteil“ denkbar. Zudem hat Genvid bereits in verschiedenen CS.GO-Events demonstriert, wie sich E-Sport-Übertragungen individualisieren lassen. „Das reichte von benutzerdefinierten Maps bis zur Möglichkeit, die Farbe und Größe der Fadenkreuze an den Waffen der Profis in Echtzeit zu ändern“, berichtet Chris Cataldi.
Bausteine für das Metaversum?
Bleibt die Frage, ob MILEs als Bausteine eines künftigen Metaversums taugen. Dass es sich nach und nach organisch zusammenfügen wird, hat der Vordenker Matthew Ball in einem Essay von 2020 gut nachvollziehbar dargelegt. „Das Metaversum wird zahllose neue Technologien, Protokolle, Firmen, Innovationen und Entdeckungen erfordern“, schreibt Ball. "Es wird auch nicht schlagartig zu existieren beginnen; es wird keine klare Trennlinie zwischen ‚vor dem Metaversum‘ und „nach dem Metaversum’ geben.“ Stattdessen werde es sich langsam herauskristallisieren, wenn unterschiedliche Produkte, Dienste und Fähigkeiten zusammenwachsen.
Zu diesen Produkten könnten auch MILEs gehören. Aus Sicht von Chris Cataldi erfüllen sie jetzt schon einige der zentralen Eigenschaften, die Ball für das Metaversum definiert – zum Beispiel den Echtzeitcharakter und die fehlende Obergrenze für simultane User. Dass Genvid immer wieder die Nähe zu Facebook sucht, überrascht auch nicht wirklich – schließlich ist es Mark Zuckerbergs erklärtes Ziel, aus Facebook ein Metaversum-Unternehmen zu machen. Man mag von „Zucks“ Plänen nun halten, was man will. Wie Genvid das MILE-Konzept weiter ausrollt, ist in jedem Fall spannend.
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