Von Wolfgang Kerler
Naiv ist Jonathon Keats nicht. Er behauptet nicht, dass wir den angerichteten Schaden durch ein paar Samenbomben ungeschehen machen könnten. „Wir können die Radionuklide aus den vielen Atomtests nicht einfach verschwinden lassen“, sagt er im Gespräch mit 1E9. „Wir werden das Mikroplastik auch nicht einfach aufsaugen können.“ Auch die globale Erwärmung lässt sich nicht plötzlich umkehren.
Trotzdem weigert er sich, einfach aufzugeben. „Um mich herum spüre ich eine Lähmung, die aus einer tiefen Angst entsteht“, sagt er. „Aber wir haben die Kraft, die Zukunft zu verändern.“ Gemeinsam könnten die Menschen das Anthropozän zu einem kurzen Zwischenspiel, einem kleinen Exkurs machen. Sie könnten den Planeten in einen Zustand bringen, in dem Menschen und andere Spezies miteinander leben können, ohne sich zu zerstören. Deswegen gründete Jonathon Keats jetzt eine neue Bewegung: die Pioneers of the Greater Holocene .
Wo hat das Holozän überdauert?
Anfang September startete die Graswurzelbewegung in San Francisco. Die Pioniere dort konzentrieren sich zunächst auf zwei Aufgaben: Sie wollen systematisch Orte erfassen, an denen die Natur noch ziemlich intakt ist oder Mensch und Natur in ein gutes Miteinander gefunden haben. Und sie wollen mit dem Terraforming der Erde beginnen. Das heißt, sie wollen die Wildnis in die Stadt zurückholen.
„Zu den Orten, die wir suchen, gehören natürlich Nationalparks“, erklärt Jonathon Keats. „Aber es können auch Orte sein, die durch menschliches Handeln komplett zerstört waren, dann aber – mit Geld der Regierung aus der Zeit vor Trump – dramatisch saniert wurden.“ Dazu gehörten Mülldeponien, die zu Parks umgestaltet wurden und in denen eine neue Biodiversität entsteht.
Als Beispiel nennt er den Robert T. Matsui Waterfront Park in Sacramento. Er wurde auf dem Gelände eines Metall-Schrottplatzes gestaltet, der den Boden mit Schwermetall und Öl vergiftet hatte. „Solche Orte sind besonders wertvoll, weil sie als Modelle dafür dienen können, was auf dem ganzen Planeten geschehen muss.“ Ihm geht es um Ökosysteme, die nicht hierarchisch gestaltet sind – mit dem Menschen an der Spitze.
Es beginnt mit: Gras
Neben dem Aufspüren von Orten, an denen das alte Holozän noch oder das neue Holozän schon präsent ist, wollen die ersten Pioniere aber auch aktiv werden. Es geht dabei um Terraforming – erstmal im kleinen Stil. Die Aktivisten wollen in und um San Francisco eine heimische Grassorte ansähen – auf leeren Lagerplätzen, in Rissen im Asphalt oder auf Brachen am Straßenrand. Die Samenpakete dafür werden bereits verteilt.
„Natürlich ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir mit Gras-Samen die Wiederaufforstung von San Francisco einleiten, obwohl Wald tatsächlich mit Gras beginnt“, sagt Jonathon Keats. „Aber es geht hier um die Geste an sich. Die Menschen zeigen dadurch, dass sie die Sache in die Hand nehmen. Diese Aktion ist nur das Tor zu weiteren Aktionen.“ Ganz konkret arbeitet Jonathon Keats mit Mitstreitern an einer Formel, wie man Flechten, die die Luft reinigen, dazu bringen kann, auf Beton zu wachsen – und Beton aufzubrechen. „Auch dahinter steckt eine Geste: Wir zeigen, dass Menschen und Flechten zusammenarbeiten können“, sagt der Experimentalphilosoph. Für ihn gehören Pflanzen oder Tiere ebenfalls zu den neuen Pionieren. „Wir müssen uns fragen, wie wir mit anderen Spezies zusammenarbeiten können.“
Das Streuen von Pflanzensamen soll nur der Anfang sein. Zur „Verwilderung“, auf Englisch: dem Rewilding , der Städte und der Welt gehört für Jonathon Keats auch die Reduzierung der CO2-Emmissionen durch den Verkehr, neue Ansätze beim Bau von Gebäuden und in der Stadtplanung oder ganz neue Organisationsformen für Unternehmen.
Jonathon Keats hofft auf weltweite Mitstreiter
Nach dem Auftakt in San Francisco will Jonathon Keats die Pioneers of the Greater Holocene zu einer weltweiten Bewegung machen. Dazu soll auch ein dazugehöriges Institut gehören, das schon im kommenden Jahr an einer amerikanischen Universität gegründet werden soll. Dort sollen dann alle Informationen der einzelnen Chapter gesammelt werden, zum Beispiel über die modellhaften Orte.
Wer selbst aktiv werden möchte, kann das aber schon vor dem Start des Instituts tun. Jonathon Keats hofft sogar, dass sich viele andere Ortsgruppen bilden und neue, andere Ansätze entwickeln, über die sie sich untereinander austauschen können. „Ich stehe für alle, die dabei sein wollen, als Informationsressource zur Verfügung“, sagt er. „Vielleicht möchtet ihr ja in München oder Berlin oder anderswo ein Chapter starten?“
Teaser-Bild: Eine Pflanze erobert sich Lebensraum in der Stadt. Foto: Jonathon Keats