Viele spannende und neue Verkehrskonzepte sollen die Mobilität umkrempeln und verändern, wie wir Menschen uns bewegen. Doch dabei wird übersehen, dass es schon längst das Fortbewegungsmittel gibt, das die Zukunft sein könnte. Nämlich das Fahrrad.
von Michael Förtsch
Wir leben in einer aufregenden Zeit. Einer Zeit der Umbrüche – vor allem, was die Mobilität betrifft. Das Automobil wird immer selbstständiger; kann uns schon jetzt (fast) ohne Hilfe umherfahren. Multikopter tragen bald nicht mehr nur kleine Kameras, sondern auch Menschen durch die Luft. Start-ups kommen der Verwirklichung des Traums vom Hyperloop, dem ultra-schnellen Vakuum-Röhrenzug, immer näher. Langsam aber sicher kommen auch die E-Scooter und E-Roller zum Leihen und Sharen an – wenn auch begleitet von Widerständen.
Doch ein anderes Gefährt wird in der Debatte gerne vernachlässigt. Nämlich das, das wohl mit den größten Einfluss auf die urbane Mobilität der Zukunft haben könnte. Einfach, weil es schon in der Gesellschaft angekommen ist und allzu gewohnt erscheint. Nämlich das Fahrrad, das schon jetzt tagtäglich und auf allen Kontinenten etliche Hundert Millionen Menschen zuverlässig von A nach B bringt. Tatsächlich ist das Fahrrad in einer urbanen Gesellschaft in vielen Situationen das vollkommen überlegene Fortbewegungsmittel – und könnte daher die Zukunft bestimmen.
Das Rad entwickelt sich immer weiter
Ein Fahrrad ist in seiner simpelsten Ausführung günstig zu haben. Es braucht zunächst nur die eigene Muskelkraft, um auf annehmbare Reisegeschwindigkeiten zu kommen. Es ist sogar für Handwerkslaien (wie mich, mit meinen zwei linken Händen) gut wartbar. Und selbst im höheren Alter sind Menschen mit einem Fahrrad immer noch gut und sicher unterwegs. Vor allem Senioren können davon profitieren, dass das Radeln dank der Elektrifizierung mit E-Bikes weniger kraftaufwändig geworden ist. Obwohl es vor über 200 Jahren erfunden wurde, ist das Fahrrad immer noch offen für Innovationen.
Neue Technologien machen das Rad stetig zugänglicher, effektiver und zunehmend für Langstrecken tauglich. Etliche Hersteller setzen etwa verstärkt auf wartungsarme und langlebige Riemenantriebe statt Ketten. Dazu kommen gänzliche neue Antriebstechniken wie Driven, das gleich einem Kegelradgetriebe funktioniert und minimale Reibung und maximale Kraftübertragung verspricht. Und Zusatzsysteme wie Balance-Assissteten sollen selbst unsichere Menschen auf das Red heben. Aber vor allem: Die Digitalisierung macht das Fahrrad zu einem immer sozialeren und massentauglicheren Fortbewegungsmittel, das niemand mehr unbedingt selbst besitzen muss, um es regelmäßig oder auch ganz spontan nutzen zu können.
Mit dem Smartphone, Mobile-Payment-Diensten, GPS, QR-Codes und anderen Techniken sind Bike-Sharing-Dienste nämlich seit einigen Jahren überraschend zuverlässig, niedrigschwellig und komfortabel nutzbar geworden. Räder können an festen Stationen in den Städten für einige Cent pro Minute beziehungsweise Euro pro Stunde ausgeliehen und dort wieder zurückgeben werden. Immer öfter stehen sie auch frei auf Gehsteigen, Plätzen oder Straßenecken, wo sie einfach mit einer App entsperrt und dann genutzt werden können.
Diese Angebote werden immer stärker angenommen – zu einem Großteil auch von jenen, die bislang kaum Radler waren. Zumindest laut einer 2017er Studie aus Großbritannien hat fast ein Viertel der britischen Leihradnutzer in den fünf Jahren zuvor auf keinem Rad gesessen. Fast ein Fünftel hätte, wenn es kein Leihradangebot gegeben hätte, das Auto genommen. Ähnliches zeigen auch Beobachtungen in Peking und Schanghai. Dort wurde prototkolliert, dass nach der Einführung von Bike-Sharing-Angeboten stetig mehr Menschen bei Kurzstrecken unter fünf Kilometern lieber zu einem Leihrad statt zum Auto greifen.
Das könnte auch für Deutschland machbar sein. Denn hier werden viele Fahrten mit dem Auto erledigt, die mit dem Rad genauso gut oder besser zu bewältigen wären. „Nach Untersuchungen in deutschen Großstädten führen 40 bis 50 Prozent der Autofahrten über eine Strecke von weniger als fünf Kilometer Länge“, heißt es dazu beim Umweltbundesamt. „Sie liegen damit in einem Entfernungsbereich, in dem das Fahrrad sogar das schnellste Verkehrsmittel ist.“ Aber auch insgesamt, so die Bundesbehörde, könnten „in Ballungsgebieten bis zu 30 Prozent der Pkw-Fahrten auf den Radverkehr“ verlagert werden.
Das bedeutet langfristig: Weniger CO2 und Feinstaub in der Luft, kürzere Stauzeiten und vielleicht sogar weniger Autos in den Städten insgesamt. Aber natürlich müssten dafür erst einmal genug Menschen aufs Rad umsatteln.
Mehr Flexibilität bringt mehr Menschen auf das Fahrrad
Im Jahr 2017 gab es weltweit schon über 1.250 verschiedene Bike-Sharing-Anbieter, die zusammen mindestens 10.000.000 Räder zum Verleih stellten. Führend dabei: China. Dort sollen 2018 schon fast 40 Prozent aller Menschen mit einem internetfähigem Smartphone mindestens einmal einen Bike-Sharing-Dienst genutzt haben. In den USA waren es im gleichen Zeitraum immerhin fast acht. In Deutschland? Lediglich 2,5 Prozent. Das ist nicht viel – aber hat Gründe.
Zum einen existiert in vielen deutschen Haushalten zumindest ein Fahrrad – je nach Bundesland sogar in bis zu 91 Prozent. Damit gibt es in Deutschland fast dreimal soviel Räder im Privatbesitz wie beispielsweise in Großbritannien. Wer ein Rad braucht, der könnte also das eigene nehmen.
Dazu gibt es in deutschen Städten überwiegend noch Stations-gebundene Leihradsysteme, die von lokalen Verkehrsbetrieben unterhalten werden. Die sind gut nutzbar aber vergleichsweise unflexibel – ebenso wie der Öffentliche Personen Nahverkehr mit U-Bahn, S-Bahn und Bus. Mit ihnen kommt man nicht von A nach B, sondern muss die nächste Station als Zwischenstopp einlegen und den Restweg irgendwie anderweitig schaffen.
Als asiatische Start-ups wie oBike mit ihren Stations-unabhängigen und günstigen Leihrädern kamen, überschwemmten sie deutsche Städte wie Frankfurt am Main und München. Denn es gab vorab weder große Regulierungsanstrengungen noch Angebote zur Zusammenarbeit.
So kam es zu Bildern von mit Leihrädern zugestellten Plätzen und Bordsteinen und gelb-schwarzen Fahrrädern, die in Mülltonnen gestopft, in Flüsse und Gebüsche geworfen worden waren. Es folgten lautstarke Proteste und harsche Schritte gegen die Radanbieter. Und das hallt nach. Dabei können die free floating Räder eigentlich gut mit Nachfrage, Platz und Stadtstruktur harmonieren – mit den richtigen Auflagen und Werkzeugen. Das zeigen chinesische Städte, US-Städte wie Seattle aber auch europäische Metropolen wie Florenz, die beispielsweise aktiv mit MoBike kooperieren und dessen Fahrradflotte in den Nahverkehr integrieren.
Würde hier mehr Engagement und Überzeugungsarbeit geleistet werden, könnten Stations-lose Mieträder (aber auch E-Scooter) schon bald vollends akzeptiert und damit auch häufiger genutzt werden. Klar, wir werden immer erleben, dass Räder sinn- und planlos auf Gehwegen und Häuserecken abgestellt werden. Aber das ist kein inhärentes Problem der Technik und des Beförderungsmittels. Das ist ein gesellschaftliches Problem, das mit zunehmender Nutzung und sozialer Kontrolle automatisch kleiner werden dürfte. Und wenn nicht ob der Höflichkeit der Nutzer, dann vielleicht, weil Leihräder zukünftig selbst zu ausgewiesenen Parkmöglichkeiten rollen.
Das Problem: Autostadt
Die wichtigste Hürde für den Durchbruch des Rads als urbanes Fortbewegungsmittel der Zukunft sind jedoch die Städte selbst. Denn auch wenn in Deutschland genügend Fahrräder vorhanden sind und in Deutschland fast 77 Prozent schon einmal auf einem Rad gesessen haben: Im Vergleich nutzen, so der Fahrrad-Monitor 2017 des Verkehrsministeriums, lediglich 13 Prozent ihr Fahrrad täglich und nur 21 Prozent mehrmals die Woche. Und das zumeist, nämlich in 71 Prozent der Fälle, für Einkäufe oder sonstige kurze Erledigungen. In Großstädten wie Hamburg werden Räder von 34 Prozent der Einwohner nie und von zehn Prozent nur selten genutzt.
Denn die Städte sind überwiegend alles andere als radfahrfreundlich – und das nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Kein Wunder, wurden Städte doch über Jahrzehnte hinweg um das Auto als primäres Verkehrsmittel herum gebaut – und damit Fußgänger, E-Scooter-Nutzer und eben auch Radfahrer heute strukturell benachteiligt. Es fehlt an Radstreifen – vor allem an welchen, die die Radler vom Autoverkehr abschirmen und damit schützen –, an Ampelschaltungen, die die Radfahrer nicht diskriminieren oder durch Abbieger in Gefahr bringen, an Optionen, um das Rad sicher abzustellen oder ganz allgemein gesagt: Es fehlt eine durchdachte Infrastruktur, die das Radfahren angenehmer, komfortabler und sicherer macht. Wer in Großstädten auf das Rad steigt, bringt sich oft auch in Gefahr.
Doch inzwischen tut sich auch schon etwas. Die dänische Hauptstadt Kopenhagen ist die radfreundlichsten Stadt überhaupt, weshalb über 60 Prozent der Einwohner mit dem Zweirad zur Arbeit und Schule kommen. Die Stadt investiert mittlerweile pro Kopf und Jahr 23 Euro in die Fahrradinfrastruktur – in Deutschland sind es meist nicht einmal 5 Euro. Damit entstehen Brücken und Unterführungen für Radler, breite Radwege und Abstellplätze in der Nähe von Schulen, Büros und Einkaufsmöglichkeiten. In Amsterdam läuft derzeit ein großer Plan an, der die niederländische Metropole mit breiten Zusatzspuren für Radler und modernen Parkmöglichkeiten für Räder ausstatten soll. Mehrere große Kreuzungen sollen komplett neugestaltet werden, um den Weg der Radler sicherer zu machen.
Geht’s nach einer Studie aus Neuseeland, ist ein derartiges Engagement für den Radverkehr auch langfristig der einzig richtige Weg. „Wir haben festgestellt, dass erhebliche Infrastrukturinvestitionen erforderlich sind, um den dämpfenden Effekt der Angst vor der Sicherheit beim Radfahren zu überwinden“, sagt die Studienautorin Alexandra Macmillan. Würden Städte auf wichtigen Strecken separate Radwege anbieten und den Autoverkehr entschleunigen, könnte die Menge der Radler um bis 40 Prozent gesteigert werden . Denn dadurch würde die Gefahr, von unvorsichtigen Autofahren an- und umgefahren zu werden, deutlich gesenkt.
In Deutschland sind derart tiefgreifende Maßnahmen noch nicht in Sicht. Aber dennoch rückt das Rad langsam in den Fokus. In Berlin gibt’s seit diesem Jahr eine erste Protected Bike Lane, die Radfahrer mit Pollern vor den Autos abschirmen. In der selbsternannten Radlhauptstadt München soll der Radverkehr mit einem Maßnahmenpaket unterstützt werden. Tatsächlich werden in der bayerischen Hauptstadt nun Parkplätze durch Radstreifen ersetzt und ein Radschnellweg geplant, der vom Karlsplatz bis in an den Stadtrand führen soll. Später könnten weitere Schnellwege folgen und bis in die Gemeinden im Münchner Umland hinausführen.
Das alles sind nur Anfänge, die aber bereits auf kreative Weise weitergedacht werden. Das geschieht jährlich auf der Bicycle Architecture Biennale in Amsterdam auf der Architekten hypothetische wie auch realisierte Projekte für und um das Fahrrad vorstellen. Seien es unterirdische und kompakte Radparkhäuser, die bis zu 3.000 Räder fassen und die Radler dank Kameras direkt zu freien Stellplätzen lenken. Oder Radwege, die direkt in und auf Neubauten integriert und so zum Bestandteil einer Fahrrad-getriebenen Infrastruktur werden.
Hyperloops für Fahrräder?
Das größte Manko des Fahrrads ist, dass der Radler damit meist Wind und Wetter nahezu schutzlos ausgeliefert ist. Bei starkem Regen, in sommerlicher Rekordhitze und im winterlichen Schnee macht das Radfahren keine Freude – und kann sogar zum Gesundheitsrisiko werden. Genau hierfür braucht es noch Lösungen. Die existieren eigentlich schon. Sie müssten nur ernsthaft erprobt und dann umgesetzt werden. Beispielsweise: lange Tunnel, wie sie schon vor drei Jahren in London vorgeschlagen wurden, beleuchtete und beheizte Radweg oder Fahrrad-Highways mit flexibel schwenkbaren Dächern, die bei bestimmten Witterungsbedingungen auf- und ausgefahren werden und die nötige Energie vielleicht sogar noch selbst durch Solarpaneele erzeugen.
Ein ziemlich durchdachtes Konzept, das solche Ideen bündeln würde, hatte eine Technologieforschungsgruppe von BMW in Shanghai, China, ausgetüftelt. Der sogenannte BMW Vision E3 Way soll eine röhrenförmige Hochstraße vorrangig für E-Bikes und E-Roller werden. Über Strecken von bis zu 15 Kilometer soll sie sich spannen. Jeweils am Ein- beziehungsweise Ausgang der mit Regenwasser klimatisierten Strecke sollen zudem E-Bikes und E-Roller bereitstehen, die dort ausgeliehen und am Ende der Strecke wieder abgestellt und aufgeladen werden. Laut BMW ist die Chance auf eine Umsetzung noch nicht begraben. Es gäbe momentan zumindest einen Austausch mit möglichen Partnern über eine eventuelle „Pilotierung“ von E3 Way.
Ähnlich aber noch futuristischer: Der Google-Gründer Larry Page stieß 2015 bei seinem Unternehmen ein Verkehrsprojekt namens Heliox an. Das hatte eine über 55 Kilometer lange Röhre zum Ziel, die von rund 50 Meter hohen Pfeilern getragen werden sollte. Darin sollten Radler bequem von San Francisco nach Mountain View fahren können. Sie sollten dabei stetig von einem künstlichen Rückenwind aus Helium und Sauerstoff nach voran gepustet werden. Quasi ein Hyperloop für Fahrräder, der auch Langstrecken bequem bewältigbar gemacht hätte – ob mit dem normalen Rad oder einem E-Bike. Die Idee kam jedoch nicht über einen Prototyp eines Röhrenelementes hinaus. Aber was nicht ist, das kann ja noch werden – auch ohne Google und Larry Page.
Das Rad schafft gesunde Menschen und grüne Städte
In den kommenden Jahren werden wir wahrscheinlich immer öfter von selbst selbstfahrenden Autos, Flugtaxen und Hyperloop-Bahnen hören, die unsere Mobilität weiter verbessern sollen. Und einiges davon werden wir dann wohl auch real erleben und bestaunen können. Doch das Fahrrad hat ebenfalls das Potential, das urbane Verkehrsmittel der Zukunft zu werden.
Mehr Fahrräder sorgen nicht nur für weniger Abgase und weniger Lärm, sondern auch für Menschen, die gesünder, fröhlicher, scharfsinniger sind und zudem länger und besser leben. Für jeden Euro, der in neue Fahrradstreifen investiert wird, ließe sich das 24fache an Kosten für die Folgen von Luftverschmutzung, Autoverkehr und ungesunden Lebensstilen einsparen. Jedenfalls hat sich das bei einer Studie gezeigt, die Infrastrukturprojekte im neuseeländischen Auckland verfolgte, entsprechende Folgen protokollierte und in Beziehung zu Regierungsausgaben setzte.
Also … weg mit dem Autoschlüssel und rauf auf das Fahrrad.
Teaserbild: smartboy10 / Getty Images