Gegen Datenmonopole und die Verknappung von Wissen: HIPPO AI will Gesundheits-KI für alle

Künstliche Intelligenz könnte zu einer Gesundheitsrevolution führen. Bessere Medikamente, genauere Diagnosen, individuelle Behandlungen. Doch wer wird davon profitieren? Die gemeinnützige Organisation HIPPO AI kämpft gegen Datenmonopole, künstliche Verknappung von Wissen und undurchsichtige Forschung – aber für Gesundheits-KI für alle.

Von Wolfgang Kerler

Wenn Bart de Witte erklärt, wie Künstliche Intelligenz die Menschheit gesünder machen kann, bleibt kein Zweifel: Da spricht ein Überzeugungstäter. Mit großen Hoffnungen. Mit viel Energie. Die braucht er aber auch. Schließlich legt er sich mit mächtigen Gegnern an. Er kritisiert die Datenökonomie, die nun auch im Gesundheitswesen Einzug hält – und damit Konzerne, die über Zukäufe Datenmonopole aufbauen und Zugang zu lebensrettendem Wissen erschweren, sowie Politiker, die unter dem Einfluss von Lobbyisten genau diesen Datenkapitalismus fördern.

Früher gehörte Bart de Witte selbst zur Welt der Tech- Konzerne. Als Manager verantwortete er bei IBM das Thema Digital Health, wozu der Einsatz der KI-Plattform Watson im Gesundheitsbereich gehörte. Mit der von ihm gegründeten, gemeinnützigen Organisation HIPPO AI setzt er sich jetzt dafür ein, medizinische Durchbrüche durch KI allen Menschen zugänglich zu machen. Und wünscht sich, dass wir alle diese Mission unterstützen.

Expertenwissen – überall und zu niedrigen Kosten

„Künstliche Intelligenz ist die Technologie, die uns helfen kann, eine Brücke zwischen dem, was wir wissen, und dem, was wir nicht wissen, zu bauen“, sagt er im Gespräch mit 1E9. KI werde die Entwicklung neuer Medikamente beschleunigen, uns im Kampf gegen Krebs oder das Altern selbst voranbringen und zur weltweiten Verbreitung von medizinischem Wissen beitragen.

Inzwischen häufen sich Meldungen, die das immer weniger nach Science-Fiction klingen lassen. Hier nur ein paar Beispiele: Vor einem Jahr kündigte das britische Start-up Exscientia an, erstmals ein von einer KI entwickeltes Medikament an Menschen testen zu wollen. Im vergangenen Oktober entschied die US-Regierung, den Einsatz von zwei KI-Systemen zur frühzeitigen Erkennung von Schlaganfällen und zur Diagnose von Augenschäden durch Diabetes zu bezahlen, die bereits von der Aufsichtsbehörde FDA zugelassen wurden. Und das deutsche Start-up Ada Health erweiterte seinen KI-gestützten Gesundheits-Chatbot nach Beginn der Coronakrise schnell um Unterstützung bei der Identifizierung einer COVID-19-Erkrankung.

„Endlich können wir Ungleichheiten im Gesundheitswesen abbauen und Expertenwissen zu sehr geringen Kosten weltweit verbreiten“, sagt Bart der Witte. „Junge Ärzte in Afrika können mit Unterstützung durch KI fast genauso gute Diagnosen stellen wie europäische Radiologen, die ihre Augen und Gehirne 20 Jahre lang trainiert haben.“ Dafür bräuchten sie noch nicht einmal einen Internetzugang, weil die Programme direkt auf der Hardware vor Ort laufen könnten, wohl aber den anfänglichen Zugang zu modernen KI-Systemen. Genau da beginnen die Sorgen von Bart de Witte.

Denn Gesundheit ist gewaltiges Geschäft, insbesondere in den USA, wo die Ausgaben dafür schon jetzt bei weit über drei Billionen Dollar liegen und 18 Prozent der nationalen Wirtschaftsleistung ausmachen. Die wachsende Bedeutung von Künstlicher Intelligenz könnte auf diesem Markt für ungleiche Machtverhältnisse sorgen, wie wir sie im Internet erleben. Denn wieder spielen Daten eine entscheidende Rolle.

Wer die Daten hat, kann ein Riesengeschäft machen

Die Fortschritte, die KI im Gesundheitswesen bringt, basieren vor allem auf maschinellem Lernen. Simpel erklärt, lernen Algorithmen dabei, Muster und Logiken zu erkennen, zum Beispiel auf Röntgenbildern, in Messungen von Hirnströmen oder in genetischen Informationen. Damit die Systeme brauchbare Ergebnisse liefern, müssen sie allerdings trainiert werden. Und dafür braucht es Trainingsdaten – je mehr, desto besser, könnte man vereinfacht sagen.

Es ist daher kein Zufall, dass die Unternehmen, die das Sammeln und Nutzen von Daten perfektioniert haben, inzwischen auch auf den Gesundheitsmarkt drängen: Google, Amazon, Apple. Sie investieren Milliarden – und präsentieren regelmäßig Erfolge.

Eine von der Google-Schwesterfirma DeepMind entwickelte KI schnitt vor gut einem Jahr bei der Erkennung von Brustkrebs besser ab als menschliche Experten. Wenige Monate vorher übernahm die Google-Mutter Alphabet für 2,1 Milliarden Dollar den Hardware-Hersteller Fitbit, dessen Fitness-Tracker die Gesundheitsdaten von Millionen von Menschen aufzeichnen. Apple startete längst seine Health-App und stattete die Apple Watch mit einer EKG-Funktion aus. Und Amazon scheint für seine Plattform Amazon Care, die virtuelle Gesundheitsdienste für Mitarbeiter anbietet, große Pläne zu haben. Auch die Cloud-Infrastruktur oder die Sprachassistenten der Tech-Konzerne kommen bereits im Gesundheitssektor zum Einsatz.

Problematisch am wachsenden Einfluss von Big Tech im Gesundheitsbereich ist aus Sicht von Kritikern, dass sie ihre Daten und ihr Wissen meistens lieber für sich behalten.

„Wir brauchen einen Paradigmenwechsel!“

Bart de Witte sieht deshalb sogar Grundpfeiler der Wissenschaft in Gefahr: die Überprüfbarkeit und Reproduzierbarkeit von Studien. Gerade, wenn es um den Einsatz von Künstlicher Intelligenz im Gesundheitssektor geht, stammen inzwischen viele Veröffentlichungen von großen Tech-Konzernen wie Google. „Und die legen weder ihre Daten noch ihre KI-Modelle offen“, kritisiert Bart de Witte. „Das hat für mich mehr mit Marketing als mit Wissenschaft zu tun.“

Was er damit meint, verdeutlicht die Debatte über eine Studie von Google Health, die Anfang 2020 im Fachmagazin Nature veröffentlicht wurde, in der es um die oben bereits erwähnte KI ging, die Brustkrebs genauer erkennen konnte als Menschen. Aus Sicht einiger Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hielt Google zu viele Informationen über den Programmcode des Algorithmus, die verwendeten Daten und die Methodik zurück, um die Ergebnisse reproduzieren zu können. 31 von ihnen kritisierten dies in einem offenen Brief, der wiederum in Nature veröffentlicht wurde.

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„Wir brauchen einen Paradigmenwechsel“, fordert Bart de Witte. „Es darf nicht passieren, dass die Firmen, die die meisten Daten besitzen, am Ende eine künstliche Knappheit auf dem lebensrettenden Wissen aufbauen, über das sie verfügen, um daraus ein hochprofitables Geschäft zu machen.“ Dann würden höchstens die reichsten 40 Prozent der Weltbevölkerung von den Fortschritten durch KI profitieren. Die übrigen 60 Prozent gingen leer aus. Und das obwohl die Kosten von Therapien durch die Digitalisierung stark abnehmen könnten.

Was also tun, damit die Wissenschaft, aber auch möglichst viele, konkurrierende Unternehmen Zugriff auf Datensätze haben, mit denen sie im Wettstreit untereinander immer bessere KI-Modelle entwickeln können, die dann allen Menschen zugutekommen? Soll der Staat die Daten sammeln? Oder Wirtschaftsverbände? Nein, findet Bart de Witte. „Der Staat wird staatlichen Interessen dienen. Die Wirtschaft wird möglichst hohe Profite erzielen wollen“, sagt er. Deswegen brauche es eine unabhängige, globale, gemeinnützige Organisation, die nicht nach Gewinn strebt – und zwar HIPPO AI.

Creative Commons für Gesundheitsdaten

„Wir sehen uns selbst als eine Data Liberation Machine“, sagt der Gründer von HIPPO AI. „Wir bekommen Spenden – sowohl Geld als auch Datenspenden – und erstellen damit anonymisierte Datensätze unter einem neuen Lizenzmodell.“ Als Vorbild diene dabei die Creative-Commons-Lizenz für Texte, Bilder, Musik oder Videos. „Die Daten stehen also allen zur Verfügung. Aber alle, die sie nutzen, müssen sich dazu verpflichten, die damit entwickelten KI-Modelle in ein Register einzutragen, die Codes offenzulegen und damit auch das neue Wissen zu teilen.“

Wie die Öffentlichkeit für die Bedeutung von Daten und die Idee von frei zugänglichen Datensätzen sensibilisiert und zur Spende der eigenen Daten mobilisiert werden kann, testete HIPPO AI im vergangenen Jahr mit einer ersten Kampagne: Viktoria 1.0, deren Ziel es war und ist, den größten offenen Datenpool zu erschaffen, mit dem KI zur besseren Erkennung von Brustkrebs entwickelt werden kann. Benannt wurde sie nach Viktoria Prantauer, bei der vor etwa eineinhalb Jahren Brustkrebs diagnostiziert wurde. Sie würde zur Botschafterin des Aufrufs.


Eines der Videos zur Kampagne Viktoria 1.0

„Wir wollen Patientinnen und Patienten eine Stimme geben“, sagt Bart de Witte. „Wir wollen der Gesellschaft die Möglichkeit geben, ihre eigene Zukunft zu definieren.“ Völlig zufrieden war er mit der Aufmerksamkeit, die Viktoria 1.0 bekam allerdings noch nicht. „Wir haben gute Kontakte aufgebaut dadurch, haben aber auch einiges gelernt“, fasst er zusammen, „zum Beispiel, dass Influencer immer Geld kosten – egal wie gut der Zweck ist.“

Bei den nächsten Kampagnen werde man den höheren Zweck dahinter noch besser erklären, stärker auf Videointerviews mit Betroffenen setzen, das Thema noch besser visualisieren. Das Ziel von HIPPO AI ist jedenfalls klar: „Wir wollen so viele freie Datensätze generieren, um das ganze System zu hacken.“

Bart de Witte live bei „Reclaim the Future!“ am 25. Februar 2021:

Ihr wollt noch tiefer ins Thema einsteigen? Dann schaltet am Donnerstag, den 25. Februar 2021, um 16:30 Uhr zum nächsten digitalen Reclaim the Future! Event von 1E9 und dem FUTURE FORUM by BMW Welt ein. Das Thema: „How AI and Big Data are Shaping The Healtcare of Tomorrow.“ Alle Infos zu den Speakern und zum Stream findet ihr hier.

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Eine wichtige Mission zu open source und open data in der Medizin; es ist wichtig dem Thema mehr Aufmerksamkei zu verschaffen! In der Regel sind Unternehmen jedoch profitorientiert. Ich denke, open data ist hier leichter durchzusetzen als open source; zumindest nicht beides. Durch die unterschiedlichen Datenplattformen (NFDI health, Datenzentren der Medizinformatik Initiative usw.) und die (forschungskompatible) elektronische Patientenakte mit einer Option zur Datenspende sind erste Schritte getan. Auch GAIA-X kann hier eine wichtige Rolle spielen. Hoffentlich wird der öffentliche Zugang zu gemeinwohlrelevanten Daten hier weiter forciert. Bei der Datenstragie der Bundesregierung ist das ein wenig ins Hinterfeld geraten. Es gilt halt wie so oft beim politischen Interessensaugleich einen tragbaren Kompromiss zu schaffen. Denn es sind nicht nur die Profitinteressen von Unternehmen, die dem entgegnen, sondern auch übervorsichtige Datenschutzinterpretationen.

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Klar müssen Unternehmen Profite generieren. Im Fall von KI und Datengeschäftsmodellen, denke ich aber ist es für Europa sicherlich der richtigere Ansatz wie hier vorgeschlagen allerhand Daten freizustellen.

Ich sage das für Europa, weil ich mir keine Hoffnung mache gegen Apple, Google und co, oder gegen Pharmakonzerne auch nur den Hauch einer Chance zu haben.

Gleichzeitig glaube ich aber auch, dass Verfügbarkeit der Ressource Daten nicht dazu führen wird dass weniger Innovation stattfindet. Vielleicht machen sich große Konzerne weniger daran damit Produkte zu bauen weil die Profite für sie zu gering sind. Aber eine Vielfalt an Innovation würde stattfinden und vor allem der Nutzer solcher Applikationen in den Fokus gerückt. Die User Experience würde mehr entscheiden und das beinhaltet die Ärzte, Fachpersonal die damit arbeiten würden wie auch Menschen selbst zu Hause.

Vielleicht kann man sich vergleichbare Geschäfte ansehen: wo ist es schwer IP zu sichern, oder Hürden aufzubauen, aber einfach Produkte „nachzumachen“ ?

Mein Traum ist es vielleicht 50 Euro im Monat zu zahlen und dann aber ein Bündel an personalisierten KI Services zu haben, die mich gesund halten oder frühzeitig erkennen, dass etwas „schief“ läuft. Datenmonopole stehen dem entgegen. Und mir, und auch nur sehr wenigen ist geholfen, wenn man Health Business auf Datenmonopolen zulässt.

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