Ein WHO-Komitee will Regeln, um die Gen-Dystopie zu verhindern

Eingriffe in menschliches Erbgut könnten viele Krankheiten verhindern und Leben retten. Aber sie könnten auch Schaden anrichten, wenn sie ungeregelt und unüberwacht stattfinden. Ein Komitee der WHO hat daher nun Vorschläge für Regeln und Leitlinien erarbeitet.

Von Michael Förtsch

Ende des Jahres 2018 sorgte der chinesische Wissenschaftler He Jiankui für großes Aufsehen in der Welt der Wissenschaft. Auf einer Konferenz enthüllte er, dass er das Erbgut zweier Kinder mit der Gen-Schere CRISPR manipuliert hatte. Er und ein Team an der Southern University of Science and Technology im chinesischen Shenzhen hätten die zwei Embryonen modifiziert und ihre sogenannten CCR5-Rezeptoren ausgeschaltet, bevor sie in die Gebärmutter einer Frau eingesetzt wurden. Neun Monate später wären die Kinder „so gesund wie jedes andere Baby zur Welt“ gekommen – allerdings, wie der mittlerweile inhaftierte Jiankui behauptete, mit einer Resistenz gegenüber dem HI-Virus. Der Fall hatte zu heftigen Debatten geführt – und zu Forderungen nach klareren und strengeren Regeln, was Eingriffe in das menschliche Erbgut angeht.

Nun scheinen diese Regeln auch auf globaler Ebene erstmals Form anzunehmen. Ein Beraterkomitee der Weltgesundheitsorganisation WHO verfasste zwei Berichte mit Einschätzungen und Vorschlägen, die einen ethischen Rahmen für den Umgang mit und der Forschung an genetischem Material beim Menschen definieren sollen. „Wir wollen, dass die Leute sich anschauen, was jetzt passiert und was wir tun müssen, um die Art und Weise festzuschreiben, wie die Forschung fortschreiten wird“, sagte die Ethikforscherin Françoise Baylis gegenüber dem Wall Street Journal.

Das Komitee stellt in seinen Berichten fest, dass wissenschaftliche Errungenschaften wie die Gen-Schere CRISPR-Cas9 mächtige Werkzeuge darstellen, die großes Potential haben. Insbesondere, um Krankheiten zu heilen und um zukünftigen Bedrohungen wie Pandemien zu begegnen. Allerdings gäbe es auch noch „Lücken im wissenschaftlichen Verständnis“ dieser Werkzeuge. Sie müssten daher mit großer Vorsicht und Sorgfalt weiterentwickelt werden. Sonst könnte aus einem großen Nutzen schnell ein großer Schaden entstehen. Genau daher drängt das Komitee darauf, zügig aber auch wohl überlegt internationale und nationale Leitlinien zu definieren, die auch von entsprechenden Stellen auf ihre Durchsetzung und Einhaltung kontrolliert werden.

Ganz konkret schlägt das Komitee vor, dass Versuche der Gen-Manipulation an Menschen nicht einfach durchgeführt werden können, sondern im Einzelnen von entsprechenden Räten beurteilt und genehmigt werden müssen. Genetische Manipulationen, die keine medizinische Notwendigkeit oder keinen therapeutischen Nutzen haben, sollten erst gar nicht durchgeführt werden. Beispielsweise Eingriffe, die künstlich die „athletische Leistungsfähigkeit“ steigern. Ebenso sollte von genetischen Manipulationen abgesehen werden, die die Patienten an ihre Kinder weitergeben und diese möglicherweise schädigen oder benachteiligen könnten. Aus diesem Grund sollte auch eine globale Datenbank aufgebaut werden, die alle genetischen Eingriffe katalogisiert und nachvollziehbar macht, um auch langfristige Folgen nachverfolgen zu können.

Ebenso gibt das Komitee mehrere Vorschläge, wie sich verhindern ließe, dass Pharmaunternehmen und Forscher ihre Verfahren an der Bevölkerung ärmerer Länder erproben. Oder, dass Kliniken in Ländern mit schwachen Kontrollinstanzen möglicherweise unsichere oder illegale Verfahren anbieten – beispielsweise, um die körperliche Konstitution oder die kognitiven Fähigkeiten eines Menschen zu verbessern. In diesem Zusammenhang fordern die Wissenschaftler, Rechtsforscher und Ethiker der WHO auch eine Praxis zu schaffen, die es Whistleblowern ermöglicht, „vertrauliche Meldung über möglicherweise illegale, nicht registrierte, unethische und unsichere Human-Genome-Editing-Forschung und andere Aktivitäten“ zu melden.

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Ein wichtigen Punkt sehen die WHO-Experten auch darin, dass durch die genetische Forschung das Macht- und Vermögensgefälle zwischen Industrieländern und aufstrebenden Nationen weiter wachsen könnte. Da die genetische Forschung und entsprechende Eingriffe und Therapien teuer und aufwendig sind, könnten viele Länder und weite Teile der Weltbevölkerung keinen Zugriff auf diese Verfahren haben und abgehängt werden. Es sei jedoch wichtig, dass alle Menschen von den Errungenschaften der Gen-Forschung profitieren. Und dafür sei es notwendig, dass internationale Kooperationen stattfinden und die gesamte Weltbevölkerung ein Mitspracherecht dabei hat, ob und wie die Gen-Technik genutzt werden soll.

Um die Gen-Forschung sicher und ihre Errungenschaften zugänglich und fair zu gestalten wäre es auch unerlässlich, dass Forscher, Unternehmen, Politiker und Institutionen transparent und verständlich darüber debattieren und aktiv Vertreter aus verschiedenen Nationen und Bevölkerungsgruppen einbeziehen. Es brauche Gespräche zwischen Wissenschaft und Politik und der Bevölkerung. Die Mitglieder des Komitees schreiben ganz offen, dass ihre Vorschläge natürlich nicht so ohne Weiteres umgesetzt werden können. Dafür brauche es einen drastischen „kulturellen Wandel“. Und das nicht nur in der Welt der Wissenschaft, sondern auch auch der internationalen Politik.

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Dazu gibt es einiges zu sagen. Vielleicht morgen.

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Gerne! Ist ein faszinierendes Thema.

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Kommentar zu den „Human genome editing: recommendations“ der WHO

„Nichts Neues, aber dafür von höchster Stelle“
schrieb mir eine Kollegin zur Stellungnahme der WHO.
Jennifer Doudna, eine der Entdeckerinnen der CRISPR-Cas Methodik, gehörte zu den ersten, die davor warnten, ethische Grenzen zu überschreiten und sie schlug Richtlinien für diese Grenzen vor. Das war notwendig und besonders wichtig, weil es von einer Expertin wie ihr kam.
Doch seit dem suhlt sich die westliche Welt blind in ihrer Moralität. Ich weiß nicht, wie viele Expertenräte, Ethikkommissionen und sonstige hochrangige Gremien zu inhaltlich fast gleichen Schlussfolgerungen gekommen sind. Welchen Wert diese „Beschlüsse“ haben, zeigt sich an mindestens drei Ereignissen:

  1. Unmittelbar nach dem Desaster mit He Jiankuis „CRISPR-Babys“ erklärt der chinesische Wissenschaftler Hui Yang „ethisch einwandfreie CRISPR-Babys“ zu produzieren. Ebenso wie He Jiankui will er sie HIV resistent machen.
  2. Der russische Wissenschaftler Denis Rebrikoff erklärt ebenfalls, dass er „nach den Gesetzen der Ethik“ CRISPR Babys machen will – ebenfalls durch Editierung von CCR5.
    Beide Arbeiten liegen jenseits der vorgeschlagenen ethischen Grenzen, weil die Vorteile eines solchen Eingriffs in keinem Verhältnis zu den Risiken stehen. Zudem wären Keimbahneingriffe nicht erforderlich, weil eine medikamentöse Behandlung von HIV zur Verfügung steht.
  3. Das dritte Ereignis ist eigentlich ein Nicht-Ereignis. In China existieren drei Kinder, deren Keimbahn editiert wurde. Die Kinder sind jetzt etwa drei Jahre alt (wenn sie noch leben). Weder die Medien scheinen sich für das Schicksal der Kinder zu interessieren noch scheint die Wissenschaft sich zu bemühen, in Erfahrung zu bringen, welche Effekte die Eingriffe hatten. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, dass die Ergebnisse unter ethisch nicht vertretbaren Umständen erzielt wurden und man sie deshalb nicht auswerten will. Andererseits fordert auch die deutsche Ethikkommission, dass weitere Forschung zur Sicherheit nötig ist.
    Die Daten liegen vor, denn unbeabsichtigt hat He Jiankui alle Fehler gemacht, die man machen kann: er hat falsch editierte Gene, er hat halbwegs richtig editierte Gene und er hat alle Embryonen implantiert. Daraus resultierten Heterozygote und Homozygote und Mosaike die aus editierten und nicht editierten Zellen bestehen. Zu dem dritten Kind, das in Deutschland weitgehend ignoriert wurde, sind praktisch keine Daten bekannt.
    Man will in der westlichen Welt hochkarätige Forschung, weil unter bestimmten, strengen Bedingungen eine Keimbahneditierung nicht ausgeschlossen werden soll. In China liegen durch eine Grenzüberschreitung, Ergebnisse vor, die unter unseren ethischen Prämissen niemals erzielt werden können, die aber Antworten auf viele Fragen geben könnten. Sicherlich tritt hier ein ethisches Dilemma auf: macht man sich gemein mit einer Forschung, die nach unseren moralischen Richtlinien nicht akzeptabel ist, wenn man ihre Ergebnisse auswertet? Nach meiner Ansicht nicht, eine kritische Auswertung bedeutet keineswegs eine Anerkennung oder eine Rechtfertigung der Methoden. Um zu erforschen, wie sicher und realisierbar Keimbahneditierung ist, müssen sehr aufwendige Arbeiten geleistet werden, die u.a. Tierversuche einschließen. Tierversuche sind nach dem deutschen Gesetz jedoch nicht genehmigungsfähig, wenn vergleichbare Ergebnisse bereits aus anderen Studien vorliegen.
    Wie dem auch sei, für den Fall, dass von den Ethikkommissionen befürchtet wird, dass aus einer Analyse der chinesischen Daten ein ethischer Konflikt entsteht, dann sollte das offen angesprochen und diskutiert werden. Die Existenz der Kinder einfach zu ignorieren ist ethisch und menschlich auch fragwürdig.
    Statt dessen werden Nebenschauplätze untersucht, die man aus anderen Entwicklungen längst kennt:
    „Wenn Keimbahneditierung erlaubt würde, müssten alle, weltweit, sofort Zugang dazu haben.“ Schön wäre es. Die Corona-Pandemie zeigt, dass das unrealistisches Wunschdenken ist. Arme Länder haben bisher kaum Impfstoff. In der Regel kommen die Entwicklungen aus den reichen Ländern am Ende doch, wenn auch mit Verspätung, auch in armen Ländern an. In manchen Fällen mag dies sogar ein Vorteil sein: die reichen Länder dienen als „Versuchspersonen“.
    „Bis Keimbahneditierung als sicher angesehen werden kann, brauchen wir einen weltweiten Konsens zu einem Moratorium.“ Träumt weiter! Die russischen und chinesischen Regierungen mögen sogar eine Vereinbarung unterschreiben – sie meinen aber etwas anderes damit und werden, nach ihrem Verständnis, „ethisch einwandfreie“ Editierung machen. Andere Länder (USA, Israel?) vermutlich auch – sie reden nur nicht so laut darüber.
    „Editierungs-Tourismus muss verboten werden“. Sobald das Thema in einer Stellungnahme genannt wird, zeigt sich bereits, dass es den „weltweiten Konsens“ nicht geben wird. Und damit wird auch der Tourismus stattfinden – ebenso wie bei Eizellspenden, Leihmüttern usw.
    „Geneditierung für athletische Leistungen ist zu verbieten“. Ja gut. Doping ist auch verboten. Man sucht halt nach Doping-Methoden, die schwerer nachweisbar sind. Gen-Doping ist nicht nachweisbar. Wer soll da richten?
    Ich sage nicht, dass man sich keine ernsthaften Gedanken machen muss. Ich sage nur, dass man sich nicht hinter moralischen Nebelkerzen verstecken und vor allem nicht unsere westliche Ethik als allein gültiges Dogma betrachten darf.
    Das Tor zur Keimbahneditierung ist aufgestoßen. Wenn die Methode funktioniert (das ist tatsächlich noch nicht klar, vor allem wenn man die chinesischen Kinder ignoriert), wird sie nicht aufzuhalten sein. Und viele Spielregeln werden sich drastisch ändern.
    Darüber muss man sich Gedanken machen!
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Danke für die ausführliche Einschätzung @serigala!

Ist denn irgendetwas darüber bekannt, ob die drei Kinder in China untersucht und gegebenenfalls auch unterstützt werden?

Mich würde dazu noch interessieren, ob schon jetzt absehbar ist, dass die möglichen Chancen der Keimbahneditierung so gewaltig sind, dass umfangreiche Versuche gerechtfertigt wären? Oder ist hier auch noch viel theoretisches Wunschdenken dabei?

Genau das finde ich äußerst faszinierend. Man könnte fast meinen, dass diese Grenzüberschreitung in irgendeiner Weise ein (jetzt in ganz vielen Anführungsstrichen) ein „Glücksfall“ war. Denn einerseits wurde dadurch die Debatte wieder angestoßen, es liegen Ergebnisse vor, die unter ethisch einwandfreien Praktiken nie zustande gekommen wären … und vielleicht wichtig für die Zukunft der Gen-Forschung sind. Es ist fast wie bei einer Naturkatastrophe … nur wenn sie stattfindet, kann man sich gegen sie rüsten. Ich weiß nicht, ob das vielleicht etwas zu sehr differenziert ist. Aber ich finde den Gedankengang sehr interesant.

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Ich bin sicher, dass die Kinder Tag und Nacht beobachtet und von Kopf bis Fuß, von innen und außen untersucht werden - man erfährt nichts davon und es scheint sich auch kaum jemand dafür zu interessieren. Ich halte es für möglich, dass dabei weitere Grenzen überschritten werden: wir haben keine Ahnung, ob die Kinder Beeinträchtigungen durch die Eingriffe haben. Selbst wenn das der Fall ist möchte ich unterstellen, dass sie „auf Teufel komm raus“ am Leben erhalten werden, weil sie „wissenschaftlich von unermesslichem Wert sind“ (beachte Anführungszeichen! Meine Aussage ist ethisch grenzwertig!")
Bei der Keimbahneditierung ist viel Wunschdenken - aber auch viel berechtigte „Hoffnung“ (wiederum zweischneidig!). Dabei ist zu beachten, dass Keinbahneditierung technisch deutlich einfacher ist, als eine somatische Gen-Therapie. Und sie erlaubt deutlich einfachere und bessere Überprüfung der Embryonen vor der Implantation.
Das ist schon sehr verführerisch.
Nach meiner Ansicht wird diese „Verführung“ (die positive und negative Implikationen haben kann) von der ethischen Diskussion mit unrealistischen Forderungen zugekleistert.

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Ich habe mir einige Gedanken bei der Formulierung gemacht - Missverständnisse sind da fast vorprogrammiert …
Ich stimme dir mit den Anführungszeichen zu und würde das He Jiankui - Experiment als „(Un-)Glücksfall“ bezeichnen.
Die essentielle Frage ist, ob man (nach unser Ethik) unzulässige Experimente auswerten darf oder ob das auch eine ethische Grenzüberschreitung ist.
Noch ein interessantes „Beiwerk“: offiziell existiert das Experiment gar nicht! Die Publikation von He Jiankui wurde von mehreren Zeitschriften abgelehnt (wegen der Nicht-Einhaltung ethischer Regeln). Die experimentellen Daten die wir haben, beruhen auf Mitschriften von Teilnehmern des Kongresses, auf dem He Jiankui das alles vorgestellt hat!
Möglicherweise tun sich hier ganz neue Aspekte einer Ethikdebatte auf.

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Um das Dilemma noch deutlicher zu machen, hier ein konstruiertes und übertriebenes Beispiel:

Gegen eine schwere Krankheit steht ein potenzielles Medikament in der Diskussion.

Wissenschaftler in Land A halten sich an den „internationalen Ethik-Konsens“. Sie führen Experimente in Zellkultur durch. Alles sieht gut aus. Sie führen Tierversuche durch. Alles sieht gut aus. Die Ergebnisse werden in einer internationalen Peer-reviewed Zeitschrift veröffentlicht.
Der Weg zu klinischen Studien am Menschen ist frei.

Wissenschaftler in Land B halten sich nicht an den „internationalen Ethik-Konsens“ sondern stellen eigene Regeln auf. Sie verabreichen das potenzielle Medikament an 100 Menschen. 50 davon sterben. Die Publikation in einer internationalen Zeitschrift wird wegen Verstoß gegen den „internationalen Ethik-Konsens“ abgelehnt. Offiziell existiert die Studie damit nicht. Die Ergebnisse sind in der wissenschaftlichen Community aber mehr oder weniger durch Mund-zu-Mund Information bekannt.

Soll Land A mit klinischen Studien am Menschen fortfahren? Nach „internationalem Ethik-Konsens“ wäre das gerechtfertigt. Oder soll sich Land A an ethisch nicht akzeptablen Experimenten orientieren und die Studien einstellen?

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