Ein Künstler hat KI und Überwachungskameras genutzt, um Influencer zu finden, die für Selfies posen

Der belgische Künstler Dries Depoorter hat bereits Politiker bloßgestellt, die im Parlament lieber aufs Handy schauen statt an Debatten teilzunehmen. Nun hat er mit Künstlicher Intelligenz die Bilder von öffentlichen Überwachungskameras durchforstet und Szenen gefunden, in denen bekannte Influencer für ihre Selfies posen.

Von Michael Förtsch

Sie sind ein vollkommenes Klischee. Aber jeder hat sie schon gesehen und die meisten haben sie wohl auch schon selbst gemacht: Selfies vor den Sehenswürdigkeiten, vor denen sich irgendwie jeder ablichtet oder ablichten lässt. Etwa vor den Leuchtreklamen am Time Square, dem Brandenburger Tor, dem Eiffelturm oder auch dem Kolosseum in Rom. Scrollt man nur lange genug durch Instagram, stößt man zu Hunderten darauf. Der belgische Künstler Dries Depoorter hat genau dieses Klischee zum Gegenstand einer Kunstaktion namens The Follower gemacht. Denn mittels Künstlicher Intelligenz hat er versucht, die Momente zu ermitteln, in denen genau diese Selfies entstanden sind – und auch weiterhin entstehen. Genutzt hat er dafür die öffentlich zugänglichen Streams von Kameras, die viele dieser Touristen-Hot-Spots rund um die Welt zeigen – und deren Videos nicht wenige Menschen ansteuerten, als sie während der Pandemie gezwungen waren, zu Hause zu bleiben.

„Ich habe die Bilder einer dieser public cameras beobachtet und gesehen, wie jemand stundenlang Fotos gemacht hat“, sagt Dries Depoorter im Gespräch mit 1E9. Er habe daraufhin versucht, herauszufinden, wer das war, indem er durch Instagram scrollte. Aber er habe nichts gefunden. Daher habe er kurzerhand eine Software entwickelt, die das für ihn tun kann – und nicht nur für diesen einen Fotografen, den er da sah. Denn Dries Depoorter hat Erfahrung damit. Bereits 2021 sorgte er mit einem KI-Projekt für Aufsehen, das den Livestream aus dem flämischen Parlament überwachte und Politiker und Politikerinnen live im Internet outete, die sich eher mit ihrem Smartphone als mit der Debatte befassten.

Drei Wochen habe es von der Idee bis zum Start seines neuen Projektes gebraucht. „Mehrere Open-Source-Tools und ein eigenes KI-Model“ habe er dafür an den Start gebracht, die er teilweise anpassen musste. Genauer möchte er nicht auf seine Werkzeuge eingehen. Gleichzeitig begann Depoorter, die Streams mehrerer öffentlich zugänglicher Kameras an vielbesuchten Orten mitzuschneiden. „Nah dran [an den Menschen] muss sie sein. Je näher, umso besser“, erklärt er die Auswahlkriterien für die Kameras. „Und Leute müssen vor ihr ihre Instagram-Bilder aufnehmen.“ Der Time Square in New York, die Temple Bar in Dublin und der Eingang des Wrigley Field in Chicago sind unter den gewählten Orten. Einige weitere sollen über die kommenden Wochen öffentlich werden.

Böse Technologie?

Nachdem Dries Depoorter bereits erstes Kameramaterial angesammelt hatte, nutzte er seine Künstliche Intelligenz, um in den Videobildern nach Menschen zu suchen, die Selfies aufnehmen. Die dabei entstehenden Posen sind für eine Künstliche Intelligenz vergleichsweise einfach erkennbar. Die vermerkten Bilder nutzte er anschließend, um sie mit den Bildern von Influencern auf Instagram mit über 100.000 Follower abzugleichen, die er basierend auf dem Geotag des Ortes von Instgram heruntergeladen hatte. Auf unsere Frage danach, wie genau dieser Abgleich erfolgt und wie viele Falsch-Positiv-Identifikationen es gab, mochte Dries Depoorter nicht eingehen.

Jedoch konnte der Künstler bereits so einige Influencer mit ihrem Foto auf Instagram und dem Moment vereinen, in denen das Bild vor einem bekannten Ort entstand. Und beides zusammen wirkt ziemlich entlarvend, wie schon eine kurze Montage der ersten Funde andeutet. Ein so beiläufig wirkendes Foto zweier Instagrammer auf dem Time Square ist, wie es scheint, das Ergebnis einer ganzen Reihe von Aufnahmen durch einen professionellen Fotografen. Ein weiterer Instagrammer ließ über mehrere Minuten offenbar Dutzende von Fotos in verschiedenen Posen – mal mit Jacke, mal ohne, mal mit Kaffeebecher, mal ohne, stehend und lehnend – machen, um letztlich eines davon auf Instagram zu veröffentlichen.

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Wie Dries Depoorter sagt, wolle er mit The Follower aber keinen der Influencer bloßstellen oder entlarven, sondern auf die Gefahren „neuer Technologien“ aufmerksam machen. Technologie wie etwa Künstliche Intelligenz, die immer mehr Menschen zu Verfügung steht und natürlich auch in der Hand von großen Unternehmen und Regierungen liegt. „Ich glaube, ich muss nicht unbedingt auf etwas besonders hinweisen“, sagt der Künstler. „Ich denke, die Botschaft ist da.“ Das Projekt soll daher auch noch auf unbestimmte Zeit weiterlaufen. Er wolle in den kommenden Wochen noch weitere Montagen und Funde auf Twitter und YouTube veröffentlichen.

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