Die Zukunft gehört reichen Amerikanern und der jungen indischen Mittelschicht. Und natürlich den Alten. Solche Erkenntnisse – und noch viel mehr – kann man mit den Tools des World Data Labs gewinnen. Das Start-up will den Zugriff auf Daten demokratisieren, die etwas über die Entwicklung der Menschheit verraten. Mitbegründet wurde es vom Weltbank-Ökonom Wolfgang Fengler. Im Gespräch mit 1E9 erklärt er, wie die Corona-Pandemie schon jetzt für mehr Armut sorgt.
Von Wolfgang Kerler
Die World Poverty Clock, also die Weltarmutsuhr, läuft gerade in die falsche Richtung. Eigentlich müssten pro Minute über 60 Menschen den Sprung aus der Armut schaffen, wenn die Welt das wichtigste Nachhaltigkeitsziel der Vereinten Nationen noch erreichen will: das Ende der absoluten Armut bis 2030, in der Menschen per Definition dann leben, wenn ihnen pro Tag weniger als 1,25 Dollar zur Verfügung stehen. Doch wegen der Corona-Krise hat sich der ohnehin schleppende Fortschritt nicht nur verlangsamt, sondern umgekehrt.
Pro Minute steigt die Zahl derer, die von absoluter Armut betroffen sind, aktuell um 102,2 Menschen. Steuert die Weltgemeinschaft nicht um, dürfte die Zahl der Armen bis 2030 daher nicht auf 0 sinken, sondern nur von aktuell 706 Millionen auf 596 Millionen Menschen. Auch das lässt sich von der Armutsuhr ablesen, die das World Data Lab mit Sitz in Wien entwickelt hat.
„Die Pandemie hat schon jetzt extreme Spuren hinterlassen“, sagt Wolfgang Fengler, einer der Mitgründer des Labs, zu 1E9. „Anders als 2009 erleben wir gerade – zum ersten Mal in diesem Jahrhundert – nicht nur regional, sondern weltweit eine starke Rezession. Das ist eine ganz andere Liga als die Finanzkrise.“ Wie die langfristigen Auswirkungen ausfallen, hänge davon ab, wie schnell die Welt die Krise hinter sich lässt. „Aber ein bis zwei Jahre sind wir mindestens zurückgefallen“, sagt Fengler. „Trotzdem wird Corona nichts daran ändern, dass es der Menschheit in Zukunft besser geht, so wie es ihr heute besser geht als in der Vergangenheit.“
Abstrakte, globale Daten werden greifbar
Doch machen wir zuerst einen Schritt zurück, auch weil sich gerade ein einschneidender Tag zum dreißigsten Mal jährt: der 8. Juli 1990. An dem wurde die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zum dritten Mal Weltmeister. Und Wolfgang Fengler landete als frischgebackener Abiturient in Südafrika, um seinen Trip über den Kontinent zu beginnen. Mit dem Rucksack von Kapstadt nach Kairo. Danach stand für ihn fest, dass er sich beruflich nicht mit kleinen Themen, sondern mit der ganzen Welt beschäftigen will.
Folgerichtig arbeitet er heute als Ökonom, genauer gesagt als Chefökonom Südliches Afrika für die Weltbank und ist eben Mitgründer des World Data Labs. Das Start-up hat es sich zum Ziel gesetzt, die verfügbaren Daten über die globale Bevölkerungs- und Einkommensentwicklung zugänglich und verständlich zu machen. Warum? „Weil wir wollen, dass Daten nicht nur rückwärtsgewandt genutzt werden, um die Vergangenheit zu erklären“, sagt Wolfgang Fengler, „sondern auch in Echtzeit und sogar vorausschauend.“
Sie sind die 3.766.231.368 lebende Person auf der Welt.
Zu diesem Zweck hat das World Data Lab bereits drei Tools entwickelt, die auf sinnvoll verknüpften Daten der Weltbank, des Internationalen Währungsfonds, der Vereinten Nationen und der OECD basieren. Neben der World Poverty Clock gehört dazu Population.io, das einen faszinierenden Einblick in die persönliche und globale Lebenserwartung gibt.
Eine Frau, die an besagtem 8. Juli 1990 in Deutschland geboren wurde, bekommt dort beispielsweise folgende Information: „Fühlen Sie sich jung oder alt? Sie sind die 3.766.231.368 lebende Person auf der Welt. Das bedeutet, dass 49% der Bevölkerung der Welt und 28% der Menschen in Deutschland jünger sind als Sie.“ Sie erfährt, dass sie – statistisch betrachtet – noch über 60 Jahre zu leben hat. Wäre sie allerdings in Nigeria geboren, blieben ihr nur 39,6 Jahre. Mit nur einem Klick kann sie das herausfinden. In China sind übrigens am selben Tag 68.603 Menschen geboren.
Über der personalisierten Anzeige läuft auf Population.io die Weltbevölkerungsuhr, die es möglich macht, das globale Bevölkerungswachstum live mitzuerleben. Und das nicht nur in Bezug auf die Zahl, sondern auch auf die Länder, in denen Kinder zur Welt kommen. In der Sekunde, in der dieser Satz getippt wird, liegt die Weltbevölkerung bei 7.759.651.565 Menschen. Und gerade wurde ein Mädchen in Malawi geboren.
„Die Geschichte des World Data Lab hat mit Population.io angefangen, das ich 2014 bei einem TED-Talk vorgestellt habe“, sagt Wolfgang Fengler. „Die Grundidee war damals, Daten zu demokratisieren und Demografie der Allgemeinheit nahe zu bringen.“ Vom Erfolg des Projekts beflügelt, begann das Lab mit der Arbeit an den anderen Tools – immer mit dem Ziel abstrakte Daten über globale Zusammenhänge – in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft – zu veranschaulichen, schnell verständlich und damit nutzbar zu machen. „Und zwar nicht nur für Wissenschaftler und Aktivisten, die sich darüber auf Konferenzen austauschen, sondern auch für die Allgemeinheit.“
Mit den Daten wollen Wolfgang Fengler und das Team des World Data Labs auch dabei helfen, gesellschaftliche Debatten mit Fakten zu unterfüttern. Denn oft seien weit verbreitete Ansichten gar nicht durch Zahlen belegt – das fange schon beim Bevölkerungswachstum an.
„Bis 2030 wird die Zahl der Menschen um knapp 700 Millionen auf etwa 8,5 Milliarden steigen“, sagt Fengler. „Es wird aber nicht mehr Kinder geben. Denn anders als viele Leute meinen, sind nicht die Kinder für das Bevölkerungswachstum verantwortlich, sondern die Erwachsenen.“ Insbesondere die Zahl der Alten werde steigen, erklärt er. „Die Leuten leben glücklicherweise immer länger und deswegen gibt es mehr. Debatten darüber, wie sich die Geburtenrate senken lässt, bringen also relativ wenig, wenn man das Bevölkerungswachstum verlangsamen will .“
Zoomen bis auf die Ebene der Bezirke
Das dritte Tool des World Data Lab nennt sich Market Pro und richtet sich im Gegensatz zu den anderen beiden an kommerzielle Nutzer. Diese erhalten damit Prognosen über die Entwicklung der Einwohnerzahl und der Kaufkraft der Menschen – und das nicht nur für einzelne Ländern, sondern für immer mehr Staaten sogar bis auf die Ebene einzelner Bezirke. „Du kannst wie bei Google Maps rein- und rauszoomen“, sagt Wolfgang Fengler.
Die Reichen in den USA sind im Jahr 2030 der Markt Nummer eins.
Wieder ein Beispiel, das für viele Unternehmen durchaus relevant sein könnte: Die Zahl der „reichen Alten“ – also von Personen über 65, die täglich eine Kaufkraft von über 100 Dollar zur Verfügung haben – liegt im Regierungsbezirk Oberbayern aktuell bei 266.150. Bis 2030 wird diese Zahl auf 491.357 steigen. Eine lukrative, wachsende Zielgruppe also. Global betrachtet sind dann aber zwei andere Bevölkerungssegmente besonders interessant. „Die Reichen in den USA sind im Jahr 2030 der Markt Nummer eins“, sagt Fengler. „Der Markt Nummer zwei ist die untere Mittelschicht in Indien, also Menschen, die etwa 30 Dollar pro Tag ausgeben können.“
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Jetzt Mitglied werden!Der Fortschritt verlangsamt sich
Um aber noch einmal auf das große Ganze zu kommen: die Menschheit in zehn Jahren. Wird es der wirklich besser gehen? „Garantiert“, sagt Fengler. „Viel besser. Auch wenn das viele Menschen gerade anders wahrnehmen, weil es uns 2020 schlechter geht als 2019. Aber die Lage ist immer noch viel besser als 2010 oder 2000.“ Bis 2030 werde nicht nur die Armut weiter sinken, sondern auch andere Werte – etwa die Kindersterblichkeit oder die Kriminalität.
„Aber die Fortschritte werden leider nicht so deutlich sein, wie sie sein sollten – und wie sie in den vergangenen zwanzig Jahren waren.“ Denn bisher sorgte vor allem der wirtschaftliche Aufschwung in vielen asiatischen Ländern, allen voran in China und in Indien, für eine deutliche Abnahme der Armut. „Doch Asien hat es inzwischen fast schon geschafft“, sagt Fengler. „Die großen Herausforderungen liegen jetzt in Afrika. Doch dort sehen wir eine Stagnation, weil einige Länder vorankommen, andere aber Rückschritte machen.“ Die „ultimative Herausforderung“ für die Welt sei daher die Armutsbekämpfung in Afrika.
Dass Prognosen, die auf historischen Daten beruhen, auch daneben liegen können, weil sie Ereignisse wie eine Pandemie nicht beinhaltet, bestreitet Wolfgang Fengler übrigens nicht. Er vergleicht die Tools, die das World Data Lab entwickelt, mit einem Navigationssystem. „Das kennt einen Stau vorher auch nicht“, sagt er, „passt die Route und die Fahrtdauer aber an, sobald es davon erfährt.“ Was er damit meint, zeigt auch die Weltarmutsuhr. Vor Corona bewegte sie sich noch in die richtige Richtung. Nun dreht sich der Fortschritt auf ihr wieder zurück.
Titelbild: Getty Images